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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

dem Marschall abgeneigt war, ihm doch vom Kaiser als Chef seines General¬
stabs zugeordnet gewesen war, vermeidet jedes bittere, kränkende Wort. Nur
junge, während des Krieges rasch, zum Teil von dem Angeklagten selbst, be¬
förderte Offiziere urteilen absprechend und können es nicht unterlassen, dem
toten Löwen einen Fußtritt zu versetzen. Nebenbei gesagt, wiederholt sich diese
Wahrnehmung auch bezüglich der Wertschätzung des Feindes: bei den alten
Generalen Anerkennung und selbst widerwillige Bewunderung, bei den jungen
Herren Geringschätzung und Achselzucken. Allen diesen Aussagen aber ist ge¬
mein ein ängstliches Unterdrücken jeder ungünstigen Kritik der eignen Truppen.
Wenn festgestellt wird, daß bei dem am 26. August befohluen Ausfall die
Divisionen statt um 10 Uhr vormittags, wie befohlen war, auf dem rechten
Moselufer versammelt zu sein, zum Teil nachmittags um 4 Uhr noch auf
dem Anmarsch sind, heißt es: die Truppen hatten einige Verspätung; wenn
volle Auflösung und Zuchtlosigkeit auf dem Marsch oder im Gefecht eintritt,
sagen die Zeugen: es trat einige Unordnung ein. Man wird freilich annehmen
können, daß die Richter wohl gewußt haben werden, was solche schonende
Ausdrücke bedeuteten.

Das Ergebnis der Beweisaufnahme läßt sich kurz dcchiu zusammenfassen:
Zunächst ergab sich als überraschende Thatsache, daß die Ernennung Bazaines
zum Oberbefehlshaber an Stelle des Kaisers von der Opposition der
Deputirtenkammer förmlich erzwungen worden war. Durch eine Absendung,
an deren Spitze Jules Favre und Ksratry standen, wurde der Kriegsminister
Palikao bestürmt, Bazaine die Rettung Frankreichs zu übertragen. Der Sohn
des Volks, nicht der "Aristo" Mac Mensor sollte der Retter sein! Es wurde,
wenigstens nach unsrer Auffassung, klar dargethan, daß Bazaine an der Nieder¬
lage bei Spicheren keine Schuld trifft; er hat rechtzeitig genug den Abmarsch
von drei Divisionen befohlen, seine Befehle sind aber zum Teil nicht überbracht,
zum Teil überhaupt uicht oder ganz unrichtig befolgt worden, Schon hier
tritt ein dem Deutschen unfaßbarer Mangel an militärischem Gehorsam auf.
Daß Bazaine unmöglich am 17. August den Rückzug über Verdun fortsetzen
konnte, weil die blutige Schlacht vom 16. August seine Verbände gelöst und
durch einander gewirrt hatte, daß er ferner nach den ihm erstatteten Meldungen
annehmen mußte, daß es an Munition und Lebensmitteln mangele, und daß
deshalb mindestens ein Tag zur Ordnung der Regimenter und Ergänzung der
Munition erforderlich war, wird vou allen seinen kriegscrfahrneu Generalen
bestätigt. Daß der nach Ansicht der Franzosen am 16. besiegte Feind am 18.
wieder mit voller Wucht angreifen würde, war nach französischer Auffassung
uicht anzunehmen. In ritterlich kameradschaftlicher Weise widerlegt Canrobcrt
die Behauptung, Bazaine habe ihn am 18. bei Se. Privat im Stich gelassen.
Daß der Ausfall am 26. wegen der schon berührten "Verspätung" der Ver¬
sammlung der Truppen, ebenso aber auch wegen des an diesem Tage


Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

dem Marschall abgeneigt war, ihm doch vom Kaiser als Chef seines General¬
stabs zugeordnet gewesen war, vermeidet jedes bittere, kränkende Wort. Nur
junge, während des Krieges rasch, zum Teil von dem Angeklagten selbst, be¬
förderte Offiziere urteilen absprechend und können es nicht unterlassen, dem
toten Löwen einen Fußtritt zu versetzen. Nebenbei gesagt, wiederholt sich diese
Wahrnehmung auch bezüglich der Wertschätzung des Feindes: bei den alten
Generalen Anerkennung und selbst widerwillige Bewunderung, bei den jungen
Herren Geringschätzung und Achselzucken. Allen diesen Aussagen aber ist ge¬
mein ein ängstliches Unterdrücken jeder ungünstigen Kritik der eignen Truppen.
Wenn festgestellt wird, daß bei dem am 26. August befohluen Ausfall die
Divisionen statt um 10 Uhr vormittags, wie befohlen war, auf dem rechten
Moselufer versammelt zu sein, zum Teil nachmittags um 4 Uhr noch auf
dem Anmarsch sind, heißt es: die Truppen hatten einige Verspätung; wenn
volle Auflösung und Zuchtlosigkeit auf dem Marsch oder im Gefecht eintritt,
sagen die Zeugen: es trat einige Unordnung ein. Man wird freilich annehmen
können, daß die Richter wohl gewußt haben werden, was solche schonende
Ausdrücke bedeuteten.

Das Ergebnis der Beweisaufnahme läßt sich kurz dcchiu zusammenfassen:
Zunächst ergab sich als überraschende Thatsache, daß die Ernennung Bazaines
zum Oberbefehlshaber an Stelle des Kaisers von der Opposition der
Deputirtenkammer förmlich erzwungen worden war. Durch eine Absendung,
an deren Spitze Jules Favre und Ksratry standen, wurde der Kriegsminister
Palikao bestürmt, Bazaine die Rettung Frankreichs zu übertragen. Der Sohn
des Volks, nicht der „Aristo" Mac Mensor sollte der Retter sein! Es wurde,
wenigstens nach unsrer Auffassung, klar dargethan, daß Bazaine an der Nieder¬
lage bei Spicheren keine Schuld trifft; er hat rechtzeitig genug den Abmarsch
von drei Divisionen befohlen, seine Befehle sind aber zum Teil nicht überbracht,
zum Teil überhaupt uicht oder ganz unrichtig befolgt worden, Schon hier
tritt ein dem Deutschen unfaßbarer Mangel an militärischem Gehorsam auf.
Daß Bazaine unmöglich am 17. August den Rückzug über Verdun fortsetzen
konnte, weil die blutige Schlacht vom 16. August seine Verbände gelöst und
durch einander gewirrt hatte, daß er ferner nach den ihm erstatteten Meldungen
annehmen mußte, daß es an Munition und Lebensmitteln mangele, und daß
deshalb mindestens ein Tag zur Ordnung der Regimenter und Ergänzung der
Munition erforderlich war, wird vou allen seinen kriegscrfahrneu Generalen
bestätigt. Daß der nach Ansicht der Franzosen am 16. besiegte Feind am 18.
wieder mit voller Wucht angreifen würde, war nach französischer Auffassung
uicht anzunehmen. In ritterlich kameradschaftlicher Weise widerlegt Canrobcrt
die Behauptung, Bazaine habe ihn am 18. bei Se. Privat im Stich gelassen.
Daß der Ausfall am 26. wegen der schon berührten „Verspätung" der Ver¬
sammlung der Truppen, ebenso aber auch wegen des an diesem Tage


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[0520] Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren dem Marschall abgeneigt war, ihm doch vom Kaiser als Chef seines General¬ stabs zugeordnet gewesen war, vermeidet jedes bittere, kränkende Wort. Nur junge, während des Krieges rasch, zum Teil von dem Angeklagten selbst, be¬ förderte Offiziere urteilen absprechend und können es nicht unterlassen, dem toten Löwen einen Fußtritt zu versetzen. Nebenbei gesagt, wiederholt sich diese Wahrnehmung auch bezüglich der Wertschätzung des Feindes: bei den alten Generalen Anerkennung und selbst widerwillige Bewunderung, bei den jungen Herren Geringschätzung und Achselzucken. Allen diesen Aussagen aber ist ge¬ mein ein ängstliches Unterdrücken jeder ungünstigen Kritik der eignen Truppen. Wenn festgestellt wird, daß bei dem am 26. August befohluen Ausfall die Divisionen statt um 10 Uhr vormittags, wie befohlen war, auf dem rechten Moselufer versammelt zu sein, zum Teil nachmittags um 4 Uhr noch auf dem Anmarsch sind, heißt es: die Truppen hatten einige Verspätung; wenn volle Auflösung und Zuchtlosigkeit auf dem Marsch oder im Gefecht eintritt, sagen die Zeugen: es trat einige Unordnung ein. Man wird freilich annehmen können, daß die Richter wohl gewußt haben werden, was solche schonende Ausdrücke bedeuteten. Das Ergebnis der Beweisaufnahme läßt sich kurz dcchiu zusammenfassen: Zunächst ergab sich als überraschende Thatsache, daß die Ernennung Bazaines zum Oberbefehlshaber an Stelle des Kaisers von der Opposition der Deputirtenkammer förmlich erzwungen worden war. Durch eine Absendung, an deren Spitze Jules Favre und Ksratry standen, wurde der Kriegsminister Palikao bestürmt, Bazaine die Rettung Frankreichs zu übertragen. Der Sohn des Volks, nicht der „Aristo" Mac Mensor sollte der Retter sein! Es wurde, wenigstens nach unsrer Auffassung, klar dargethan, daß Bazaine an der Nieder¬ lage bei Spicheren keine Schuld trifft; er hat rechtzeitig genug den Abmarsch von drei Divisionen befohlen, seine Befehle sind aber zum Teil nicht überbracht, zum Teil überhaupt uicht oder ganz unrichtig befolgt worden, Schon hier tritt ein dem Deutschen unfaßbarer Mangel an militärischem Gehorsam auf. Daß Bazaine unmöglich am 17. August den Rückzug über Verdun fortsetzen konnte, weil die blutige Schlacht vom 16. August seine Verbände gelöst und durch einander gewirrt hatte, daß er ferner nach den ihm erstatteten Meldungen annehmen mußte, daß es an Munition und Lebensmitteln mangele, und daß deshalb mindestens ein Tag zur Ordnung der Regimenter und Ergänzung der Munition erforderlich war, wird vou allen seinen kriegscrfahrneu Generalen bestätigt. Daß der nach Ansicht der Franzosen am 16. besiegte Feind am 18. wieder mit voller Wucht angreifen würde, war nach französischer Auffassung uicht anzunehmen. In ritterlich kameradschaftlicher Weise widerlegt Canrobcrt die Behauptung, Bazaine habe ihn am 18. bei Se. Privat im Stich gelassen. Daß der Ausfall am 26. wegen der schon berührten „Verspätung" der Ver¬ sammlung der Truppen, ebenso aber auch wegen des an diesem Tage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/520>, abgerufen am 23.07.2024.