Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

Aufgaben des Staatsanwalts -- ooinmissiürö ä'etg.t -- und ein General die
des Untersuchungsrichters -- 1-g.pvortov.r -- ausüben dürften.

Am 15. Mai 1872 begab sich der Angeklagte mit seinem Adjutanten
Billette als Untersuchungsgefangner in das dazu gemietete Haus in der Avenue
de Picardie Ur. 35 in Versailles und verblieb dort während der durch den
General Rivivre geführten Voruntersuchung bis kurz vor der Hauptverhandlung,
die unter dem Vorsitz des Divisionsgenerals Herzog von Anmale am 6. Oktober
begann, und zwar in dem Schlosse Trianon. Die Verhandlungen dauerten bis
zum 10. Dezember. Der Marschall wurde einstimmig zum Tode und Degra¬
dation verurteilt, weil er als Oberbefehlshaber sowohl die Festung Metz als
das um die Festung unter seinem Oberbefehl in freiem Felde -- en r^hö
(ZNnxg.AQ"z -- lagernde Heer dem Feinde übergeben und die Niederlegung der
Waffen veranlaßt habe, ohne vorher alles zu thun, was ihm Pflicht und Ehre
geboten hätten.

Wer die große Zeit des Jahres 1870 mit erlebt hat, vielleicht Zeuge
oder gar Mithandelnder in dem großen Drama von Metz gewesen ist, der sieht
beim Durchlesen der stenographischen Berichte der Prozeßverhandluugen wieder
die heißen Tage der Schlachten vor Metz vor seinem geistigen Auge aufsteigen,
er durchlebt im Geiste wieder die anstrengenden Arbeiten der Einschließung
und ihrer Sicherung, die in strömendem Regen zugebrachten entsetzlichen Nächte
in den Biwaks auf felsigem oder in aufgeweichtem Lehmboden, er fühlt wieder
die ungeduldige Erwartung der Übergabe, in der fortwährend tolle Gerüchte
nmherschwirrten, und erinnert sich mit Stolz des Tages, wo die entwaffneten
Kerntruppen des einst so stolzen Feindes an ihm vorbei in die Gefangenschaft
zogen. Dem jüngern Geschlecht aber entrollt gerade die in diesen Proze߬
verhandlungen sich kundgebende französische Auffassung der Kriegsereignisse ein
leuchtendes Bild der umsichtigen und zielbewußter Führung der deutscheu
Heere, der Tapferkeit, Ausdauer und des nie versagenden Gehorsams und
Pflichtgefühls der Offiziere und Mannschaften und -- der überlegnen und er¬
folgreichen Leitung der diplomatischen Verhandlungen durch den Bundeskanzler
Grafen von Bismarck. Es verlohnt sich daher wohl nach fünfundzwanzig
Jahren, ein flüchtiges Bild dieses nach vielen Seiten anziehenden Prozesses
zu geben.

Schon in den Verhandlungen der parlamentarischen Untersuchungskom¬
mission zeigt sich neben dem menschlich erklärlichen Bemühen der einzelnen
Führer, die Schuld an den Niederlagen von sich abzuwälzen, die Neigung des
französischen Volkscharakters, über der schön vorgetragnen, dem nationalen
Selbstgefühl schmeichelnden Darstellung einer an sich nebensächlichen Episode
wesentliche Punkte zu vergessen und sich an der Phrase zu berauschen.

Diese Neigung tritt sehr bezeichnend bei der Vernehmung des Marschalls
Mac Mahon hervor. Der Marschall hat Auskunft gegeben über die Nieder-


Grenzboten 11 1897 V4
Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

Aufgaben des Staatsanwalts — ooinmissiürö ä'etg.t — und ein General die
des Untersuchungsrichters — 1-g.pvortov.r — ausüben dürften.

Am 15. Mai 1872 begab sich der Angeklagte mit seinem Adjutanten
Billette als Untersuchungsgefangner in das dazu gemietete Haus in der Avenue
de Picardie Ur. 35 in Versailles und verblieb dort während der durch den
General Rivivre geführten Voruntersuchung bis kurz vor der Hauptverhandlung,
die unter dem Vorsitz des Divisionsgenerals Herzog von Anmale am 6. Oktober
begann, und zwar in dem Schlosse Trianon. Die Verhandlungen dauerten bis
zum 10. Dezember. Der Marschall wurde einstimmig zum Tode und Degra¬
dation verurteilt, weil er als Oberbefehlshaber sowohl die Festung Metz als
das um die Festung unter seinem Oberbefehl in freiem Felde — en r^hö
(ZNnxg.AQ«z — lagernde Heer dem Feinde übergeben und die Niederlegung der
Waffen veranlaßt habe, ohne vorher alles zu thun, was ihm Pflicht und Ehre
geboten hätten.

Wer die große Zeit des Jahres 1870 mit erlebt hat, vielleicht Zeuge
oder gar Mithandelnder in dem großen Drama von Metz gewesen ist, der sieht
beim Durchlesen der stenographischen Berichte der Prozeßverhandluugen wieder
die heißen Tage der Schlachten vor Metz vor seinem geistigen Auge aufsteigen,
er durchlebt im Geiste wieder die anstrengenden Arbeiten der Einschließung
und ihrer Sicherung, die in strömendem Regen zugebrachten entsetzlichen Nächte
in den Biwaks auf felsigem oder in aufgeweichtem Lehmboden, er fühlt wieder
die ungeduldige Erwartung der Übergabe, in der fortwährend tolle Gerüchte
nmherschwirrten, und erinnert sich mit Stolz des Tages, wo die entwaffneten
Kerntruppen des einst so stolzen Feindes an ihm vorbei in die Gefangenschaft
zogen. Dem jüngern Geschlecht aber entrollt gerade die in diesen Proze߬
verhandlungen sich kundgebende französische Auffassung der Kriegsereignisse ein
leuchtendes Bild der umsichtigen und zielbewußter Führung der deutscheu
Heere, der Tapferkeit, Ausdauer und des nie versagenden Gehorsams und
Pflichtgefühls der Offiziere und Mannschaften und — der überlegnen und er¬
folgreichen Leitung der diplomatischen Verhandlungen durch den Bundeskanzler
Grafen von Bismarck. Es verlohnt sich daher wohl nach fünfundzwanzig
Jahren, ein flüchtiges Bild dieses nach vielen Seiten anziehenden Prozesses
zu geben.

Schon in den Verhandlungen der parlamentarischen Untersuchungskom¬
mission zeigt sich neben dem menschlich erklärlichen Bemühen der einzelnen
Führer, die Schuld an den Niederlagen von sich abzuwälzen, die Neigung des
französischen Volkscharakters, über der schön vorgetragnen, dem nationalen
Selbstgefühl schmeichelnden Darstellung einer an sich nebensächlichen Episode
wesentliche Punkte zu vergessen und sich an der Phrase zu berauschen.

Diese Neigung tritt sehr bezeichnend bei der Vernehmung des Marschalls
Mac Mahon hervor. Der Marschall hat Auskunft gegeben über die Nieder-


Grenzboten 11 1897 V4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0513" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225441"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1649" prev="#ID_1648"> Aufgaben des Staatsanwalts &#x2014; ooinmissiürö ä'etg.t &#x2014; und ein General die<lb/>
des Untersuchungsrichters &#x2014; 1-g.pvortov.r &#x2014; ausüben dürften.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1650"> Am 15. Mai 1872 begab sich der Angeklagte mit seinem Adjutanten<lb/>
Billette als Untersuchungsgefangner in das dazu gemietete Haus in der Avenue<lb/>
de Picardie Ur. 35 in Versailles und verblieb dort während der durch den<lb/>
General Rivivre geführten Voruntersuchung bis kurz vor der Hauptverhandlung,<lb/>
die unter dem Vorsitz des Divisionsgenerals Herzog von Anmale am 6. Oktober<lb/>
begann, und zwar in dem Schlosse Trianon. Die Verhandlungen dauerten bis<lb/>
zum 10. Dezember. Der Marschall wurde einstimmig zum Tode und Degra¬<lb/>
dation verurteilt, weil er als Oberbefehlshaber sowohl die Festung Metz als<lb/>
das um die Festung unter seinem Oberbefehl in freiem Felde &#x2014; en r^hö<lb/>
(ZNnxg.AQ«z &#x2014; lagernde Heer dem Feinde übergeben und die Niederlegung der<lb/>
Waffen veranlaßt habe, ohne vorher alles zu thun, was ihm Pflicht und Ehre<lb/>
geboten hätten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1651"> Wer die große Zeit des Jahres 1870 mit erlebt hat, vielleicht Zeuge<lb/>
oder gar Mithandelnder in dem großen Drama von Metz gewesen ist, der sieht<lb/>
beim Durchlesen der stenographischen Berichte der Prozeßverhandluugen wieder<lb/>
die heißen Tage der Schlachten vor Metz vor seinem geistigen Auge aufsteigen,<lb/>
er durchlebt im Geiste wieder die anstrengenden Arbeiten der Einschließung<lb/>
und ihrer Sicherung, die in strömendem Regen zugebrachten entsetzlichen Nächte<lb/>
in den Biwaks auf felsigem oder in aufgeweichtem Lehmboden, er fühlt wieder<lb/>
die ungeduldige Erwartung der Übergabe, in der fortwährend tolle Gerüchte<lb/>
nmherschwirrten, und erinnert sich mit Stolz des Tages, wo die entwaffneten<lb/>
Kerntruppen des einst so stolzen Feindes an ihm vorbei in die Gefangenschaft<lb/>
zogen. Dem jüngern Geschlecht aber entrollt gerade die in diesen Proze߬<lb/>
verhandlungen sich kundgebende französische Auffassung der Kriegsereignisse ein<lb/>
leuchtendes Bild der umsichtigen und zielbewußter Führung der deutscheu<lb/>
Heere, der Tapferkeit, Ausdauer und des nie versagenden Gehorsams und<lb/>
Pflichtgefühls der Offiziere und Mannschaften und &#x2014; der überlegnen und er¬<lb/>
folgreichen Leitung der diplomatischen Verhandlungen durch den Bundeskanzler<lb/>
Grafen von Bismarck. Es verlohnt sich daher wohl nach fünfundzwanzig<lb/>
Jahren, ein flüchtiges Bild dieses nach vielen Seiten anziehenden Prozesses<lb/>
zu geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1652"> Schon in den Verhandlungen der parlamentarischen Untersuchungskom¬<lb/>
mission zeigt sich neben dem menschlich erklärlichen Bemühen der einzelnen<lb/>
Führer, die Schuld an den Niederlagen von sich abzuwälzen, die Neigung des<lb/>
französischen Volkscharakters, über der schön vorgetragnen, dem nationalen<lb/>
Selbstgefühl schmeichelnden Darstellung einer an sich nebensächlichen Episode<lb/>
wesentliche Punkte zu vergessen und sich an der Phrase zu berauschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1653" next="#ID_1654"> Diese Neigung tritt sehr bezeichnend bei der Vernehmung des Marschalls<lb/>
Mac Mahon hervor.  Der Marschall hat Auskunft gegeben über die Nieder-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 11 1897 V4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0513] Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren Aufgaben des Staatsanwalts — ooinmissiürö ä'etg.t — und ein General die des Untersuchungsrichters — 1-g.pvortov.r — ausüben dürften. Am 15. Mai 1872 begab sich der Angeklagte mit seinem Adjutanten Billette als Untersuchungsgefangner in das dazu gemietete Haus in der Avenue de Picardie Ur. 35 in Versailles und verblieb dort während der durch den General Rivivre geführten Voruntersuchung bis kurz vor der Hauptverhandlung, die unter dem Vorsitz des Divisionsgenerals Herzog von Anmale am 6. Oktober begann, und zwar in dem Schlosse Trianon. Die Verhandlungen dauerten bis zum 10. Dezember. Der Marschall wurde einstimmig zum Tode und Degra¬ dation verurteilt, weil er als Oberbefehlshaber sowohl die Festung Metz als das um die Festung unter seinem Oberbefehl in freiem Felde — en r^hö (ZNnxg.AQ«z — lagernde Heer dem Feinde übergeben und die Niederlegung der Waffen veranlaßt habe, ohne vorher alles zu thun, was ihm Pflicht und Ehre geboten hätten. Wer die große Zeit des Jahres 1870 mit erlebt hat, vielleicht Zeuge oder gar Mithandelnder in dem großen Drama von Metz gewesen ist, der sieht beim Durchlesen der stenographischen Berichte der Prozeßverhandluugen wieder die heißen Tage der Schlachten vor Metz vor seinem geistigen Auge aufsteigen, er durchlebt im Geiste wieder die anstrengenden Arbeiten der Einschließung und ihrer Sicherung, die in strömendem Regen zugebrachten entsetzlichen Nächte in den Biwaks auf felsigem oder in aufgeweichtem Lehmboden, er fühlt wieder die ungeduldige Erwartung der Übergabe, in der fortwährend tolle Gerüchte nmherschwirrten, und erinnert sich mit Stolz des Tages, wo die entwaffneten Kerntruppen des einst so stolzen Feindes an ihm vorbei in die Gefangenschaft zogen. Dem jüngern Geschlecht aber entrollt gerade die in diesen Proze߬ verhandlungen sich kundgebende französische Auffassung der Kriegsereignisse ein leuchtendes Bild der umsichtigen und zielbewußter Führung der deutscheu Heere, der Tapferkeit, Ausdauer und des nie versagenden Gehorsams und Pflichtgefühls der Offiziere und Mannschaften und — der überlegnen und er¬ folgreichen Leitung der diplomatischen Verhandlungen durch den Bundeskanzler Grafen von Bismarck. Es verlohnt sich daher wohl nach fünfundzwanzig Jahren, ein flüchtiges Bild dieses nach vielen Seiten anziehenden Prozesses zu geben. Schon in den Verhandlungen der parlamentarischen Untersuchungskom¬ mission zeigt sich neben dem menschlich erklärlichen Bemühen der einzelnen Führer, die Schuld an den Niederlagen von sich abzuwälzen, die Neigung des französischen Volkscharakters, über der schön vorgetragnen, dem nationalen Selbstgefühl schmeichelnden Darstellung einer an sich nebensächlichen Episode wesentliche Punkte zu vergessen und sich an der Phrase zu berauschen. Diese Neigung tritt sehr bezeichnend bei der Vernehmung des Marschalls Mac Mahon hervor. Der Marschall hat Auskunft gegeben über die Nieder- Grenzboten 11 1897 V4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/513
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/513>, abgerufen am 23.07.2024.