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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen

habe, der müsse auch das Zutrauen haben, daß die Wahrheit doch wieder
obenaufkommen werde. Das hätten wir erlebt auf dem Gebiete der National¬
ökonomie selbst. Vor dreißig Jahren habe das ödeste Manchestertum geherrscht,
und wie sehe es heute aus! Die erste Korrektur müsse in der Wissenschaft
liegen, und sie liege auch da. Dazu zu helfen und dazu die tüchtigsten Kräfte,
die man bekommen könne, auszusuchen und sie da anzustellen, wohin sie ge¬
hörten, und dadurch die vorhandnen Richtungen zu ergänzen, das sei seine
Aufgabe. Das zu thun werde er bestrebt sein, und er hoffe dabei ein gutes
Gewissen zu behalten.

Wir vermögen diese Zurückhaltung des Ministers wohl zu würdigen,
ja wir können ihm, wie die Verhältnisse bei uus liegen, dafür nur auf¬
richtig dankbar sein. Es ist eben zur Zeit für den preußischen Unterrichts¬
minister eine außerordentlich schwere Aufgabe, zwischen den Ausartungen einer
einseitig sozialistischen Richtung und den gerade durch sie Tag für Tag ge¬
stärkten Bestrebungen der sozialpolitischen Reaktion im übelsten Sinne des
Worts die Pflege der Staatswissenschaft wieder in die Geleise zu leiten, die
dem hohenzollerischen Kaum c-mans und damit zugleich der LÄus pudlieg,
entsprechen. Ziemlich skeptisch stehen wir vorläufig den drei ersten Programm¬
punkten des Ministers gegenüber. Erst die Erfahrung kann lehren, was wir
davon zu halten haben. Die "gediegne praktische Erfahrung" ist für den Lehrer
der Staatswissenschaften ein unschätzbares Gut. Die philosophische und historische
Gelehrsamkeit genügt nicht, den Staatswissenschafter, selbst bei hervorragendem
Fleiß und Reichtum an Geist, vor völlig schiefen, unwahren Vorstellungen von
den das Gesellschaftsleben der Menschen bestimmenden Kräften und den zu ihrer
gedeihlichen Entfaltung notwendigen staatlichen Maßnahmen und Einrichtungen
zu bewahren. Auch die Pscudoerfahrung hilft nichts, sondern schadet nur, die
die modernen Staatswissenschafter mit so großer Genugthuung ihren un¬
reifen Jüngern zu vermitteln suchen, indem sie ihnen das "Studium der
Einzelerscheinungen" des Gesellschaftsleben durch "Aufsuche" der Interessenten"
zumuten, ohne daran zu denken, daß gerade dieses Studium, wenn es
zur Wahrheit führen soll, die reifste Erfahrung im praktischen Leben und
große Menschenkenntnis voraussetzt. Hat doch diese verkehrte Anwendung
einer an sich berechtigen Methode dahin geführt, daß so manche Schüler der
herrschenden Akademiker in dem unkontrollirbaren Klatsch einiger Kellnerinnen
und Näherinnen in der Regel eine wertvollere Wahrheitsquelle sehen als in
dem Gutachten alterfahrner Beamten, die jahrzehntelang die gleichen Einzel¬
erscheinungen mit voller Verantwortlichkeit zu untersuchen hatten, die unsre
staatswissenschnftlichen Lehrlinge in den Freistunden einiger Semester "er¬
forschen," um darüber berühmte "Werke" zu schreiben. Wir wissen noch nicht
genau, was Herr Bosse unter "gediegner praktischer Erfahrung" versteht, aber
das wissen wir, daß es eine Herkulesarbeit sein wird, die heutige Staatswissen-


Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen

habe, der müsse auch das Zutrauen haben, daß die Wahrheit doch wieder
obenaufkommen werde. Das hätten wir erlebt auf dem Gebiete der National¬
ökonomie selbst. Vor dreißig Jahren habe das ödeste Manchestertum geherrscht,
und wie sehe es heute aus! Die erste Korrektur müsse in der Wissenschaft
liegen, und sie liege auch da. Dazu zu helfen und dazu die tüchtigsten Kräfte,
die man bekommen könne, auszusuchen und sie da anzustellen, wohin sie ge¬
hörten, und dadurch die vorhandnen Richtungen zu ergänzen, das sei seine
Aufgabe. Das zu thun werde er bestrebt sein, und er hoffe dabei ein gutes
Gewissen zu behalten.

Wir vermögen diese Zurückhaltung des Ministers wohl zu würdigen,
ja wir können ihm, wie die Verhältnisse bei uus liegen, dafür nur auf¬
richtig dankbar sein. Es ist eben zur Zeit für den preußischen Unterrichts¬
minister eine außerordentlich schwere Aufgabe, zwischen den Ausartungen einer
einseitig sozialistischen Richtung und den gerade durch sie Tag für Tag ge¬
stärkten Bestrebungen der sozialpolitischen Reaktion im übelsten Sinne des
Worts die Pflege der Staatswissenschaft wieder in die Geleise zu leiten, die
dem hohenzollerischen Kaum c-mans und damit zugleich der LÄus pudlieg,
entsprechen. Ziemlich skeptisch stehen wir vorläufig den drei ersten Programm¬
punkten des Ministers gegenüber. Erst die Erfahrung kann lehren, was wir
davon zu halten haben. Die „gediegne praktische Erfahrung" ist für den Lehrer
der Staatswissenschaften ein unschätzbares Gut. Die philosophische und historische
Gelehrsamkeit genügt nicht, den Staatswissenschafter, selbst bei hervorragendem
Fleiß und Reichtum an Geist, vor völlig schiefen, unwahren Vorstellungen von
den das Gesellschaftsleben der Menschen bestimmenden Kräften und den zu ihrer
gedeihlichen Entfaltung notwendigen staatlichen Maßnahmen und Einrichtungen
zu bewahren. Auch die Pscudoerfahrung hilft nichts, sondern schadet nur, die
die modernen Staatswissenschafter mit so großer Genugthuung ihren un¬
reifen Jüngern zu vermitteln suchen, indem sie ihnen das „Studium der
Einzelerscheinungen" des Gesellschaftsleben durch „Aufsuche» der Interessenten"
zumuten, ohne daran zu denken, daß gerade dieses Studium, wenn es
zur Wahrheit führen soll, die reifste Erfahrung im praktischen Leben und
große Menschenkenntnis voraussetzt. Hat doch diese verkehrte Anwendung
einer an sich berechtigen Methode dahin geführt, daß so manche Schüler der
herrschenden Akademiker in dem unkontrollirbaren Klatsch einiger Kellnerinnen
und Näherinnen in der Regel eine wertvollere Wahrheitsquelle sehen als in
dem Gutachten alterfahrner Beamten, die jahrzehntelang die gleichen Einzel¬
erscheinungen mit voller Verantwortlichkeit zu untersuchen hatten, die unsre
staatswissenschnftlichen Lehrlinge in den Freistunden einiger Semester „er¬
forschen," um darüber berühmte „Werke" zu schreiben. Wir wissen noch nicht
genau, was Herr Bosse unter „gediegner praktischer Erfahrung" versteht, aber
das wissen wir, daß es eine Herkulesarbeit sein wird, die heutige Staatswissen-


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[0508] Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen habe, der müsse auch das Zutrauen haben, daß die Wahrheit doch wieder obenaufkommen werde. Das hätten wir erlebt auf dem Gebiete der National¬ ökonomie selbst. Vor dreißig Jahren habe das ödeste Manchestertum geherrscht, und wie sehe es heute aus! Die erste Korrektur müsse in der Wissenschaft liegen, und sie liege auch da. Dazu zu helfen und dazu die tüchtigsten Kräfte, die man bekommen könne, auszusuchen und sie da anzustellen, wohin sie ge¬ hörten, und dadurch die vorhandnen Richtungen zu ergänzen, das sei seine Aufgabe. Das zu thun werde er bestrebt sein, und er hoffe dabei ein gutes Gewissen zu behalten. Wir vermögen diese Zurückhaltung des Ministers wohl zu würdigen, ja wir können ihm, wie die Verhältnisse bei uus liegen, dafür nur auf¬ richtig dankbar sein. Es ist eben zur Zeit für den preußischen Unterrichts¬ minister eine außerordentlich schwere Aufgabe, zwischen den Ausartungen einer einseitig sozialistischen Richtung und den gerade durch sie Tag für Tag ge¬ stärkten Bestrebungen der sozialpolitischen Reaktion im übelsten Sinne des Worts die Pflege der Staatswissenschaft wieder in die Geleise zu leiten, die dem hohenzollerischen Kaum c-mans und damit zugleich der LÄus pudlieg, entsprechen. Ziemlich skeptisch stehen wir vorläufig den drei ersten Programm¬ punkten des Ministers gegenüber. Erst die Erfahrung kann lehren, was wir davon zu halten haben. Die „gediegne praktische Erfahrung" ist für den Lehrer der Staatswissenschaften ein unschätzbares Gut. Die philosophische und historische Gelehrsamkeit genügt nicht, den Staatswissenschafter, selbst bei hervorragendem Fleiß und Reichtum an Geist, vor völlig schiefen, unwahren Vorstellungen von den das Gesellschaftsleben der Menschen bestimmenden Kräften und den zu ihrer gedeihlichen Entfaltung notwendigen staatlichen Maßnahmen und Einrichtungen zu bewahren. Auch die Pscudoerfahrung hilft nichts, sondern schadet nur, die die modernen Staatswissenschafter mit so großer Genugthuung ihren un¬ reifen Jüngern zu vermitteln suchen, indem sie ihnen das „Studium der Einzelerscheinungen" des Gesellschaftsleben durch „Aufsuche» der Interessenten" zumuten, ohne daran zu denken, daß gerade dieses Studium, wenn es zur Wahrheit führen soll, die reifste Erfahrung im praktischen Leben und große Menschenkenntnis voraussetzt. Hat doch diese verkehrte Anwendung einer an sich berechtigen Methode dahin geführt, daß so manche Schüler der herrschenden Akademiker in dem unkontrollirbaren Klatsch einiger Kellnerinnen und Näherinnen in der Regel eine wertvollere Wahrheitsquelle sehen als in dem Gutachten alterfahrner Beamten, die jahrzehntelang die gleichen Einzel¬ erscheinungen mit voller Verantwortlichkeit zu untersuchen hatten, die unsre staatswissenschnftlichen Lehrlinge in den Freistunden einiger Semester „er¬ forschen," um darüber berühmte „Werke" zu schreiben. Wir wissen noch nicht genau, was Herr Bosse unter „gediegner praktischer Erfahrung" versteht, aber das wissen wir, daß es eine Herkulesarbeit sein wird, die heutige Staatswissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/508>, abgerufen am 23.07.2024.