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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen

Staatsbürgern sind heute wieder unsre Großindustriellen unmittelbar daran
interessirt. Sie haben jedenfalls das Recht, energisch Einspruch zu erheben,
wenn die berufnen Lehrer der Staatswissenschaften, wenn auch oxtiina Ms,
ihren großen, zum Teil durch ihr Staatsamt begründeten Einfluß zur Ver¬
breitung und Verschärfung ungesunder sozialpolitischer Auffassungen und Vor¬
stellungen im Volke, namentlich unter den jungen Männern der gebildeten
Stände, gebrauchen, und Herrn von Stumm wird man gerechterweise am
wenigsten den Beruf absprechen können, in solchen Fällen seine Stimme zu
erheben. Der Mann hat das unbestreitbare Verdienst, als erster unter den
deutschen Großindustriellen für die gesetzliche Sicherung der wirtschaftlichen
Existenz der hilfsbedürftig werdenden Industriearbeiter durch die staatliche Ver¬
sicherung eingetreten zu sein, er hat die Ausdehnung dieser Fürsorge auf die
Witwen und Waisen nachdrücklich, wenn auch erfolglos, vertreten, und auch
auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes im engern Sinne, z. B. der Sonntagsruhe
und der Fabrikinspektion, ist er unter den ersten und wirksamsten Vorkämpfern
sozialer Reformen zu nennen. Nicht von der Gnade der Unternehmer wollte
er diese Arbeiterwohlfahrtspflege abhängig gemacht sehen, sondern er hat ein
gesetzlich verbürgtes Recht der Arbeiter darauf erstrebt und mit erkämpft, und
in weiten Kreisen der deutschen Unternehmerschaft ist er dadurch recht unbequem
und unbeliebt geworden. Das sollte man bei der Beurteilung dieses Mannes
nicht vergessen. Aber die Art seines öffentlichen Auftretens hat seit Jahren
fast ausschließlich Grund zu lebhaftem Bedauern, oft zu ehrlicher Entrüstung
gegeben. Sein Ungeschick als Staatsmann macht Herrn von Stumm angesichts
seiner unbestreitbaren Verdienste nachgerade zur tragischen Figur, wie das
ähnlich mit seinem besten Feinde Adolf Wagner der Fall ist, und nichts er¬
scheint uns alberner, als dieser Figur einen eignen, selbständigen, ausschlag¬
gebenden Einfluß auf Kaiser und Reich anzudichten. Dr. Bosse hat jedenfalls
für sein Ressort durch die im Herrenhause abgegebnen Erklärungen diesen
Nimbus hinreichend zerstört, obwohl Herr von Stumm diesmal zur Abwechs¬
ung mit dem Fürsten Vismarck als Eideshelfer Staat machte. Damit sind
wir mit der Person des Herrn von Stumm hier fertig.

Der Minister Dr. Bosse hat sich über die Reformen, die er in der Pflege
der Staatswissenschaften auf den preußischen Universitäten für wünschenswert
und möglich hält, in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 4. Mai etwas
ausführlicher geäußert, ja sogar unter Aufzählung von vier besondern Punkten
eine Art von Programm entwickelt.

Erstens bekannte er sich zu dem freilich nicht gerade neuen Satze: "Es
giebt keinen bessern Schutz gegen doktrinäre Einseitigkeiten als eine gediegne
praktische Erfahrung." Er glaubt deshalb auch, daß es die Aufgabe der
Unterrichtsverwaltung sei, sich nach "wirtschaftlich durchgebildeten Männern
der Praxis" umzusehen und zu versuchen, wieweit man sie für eine "akade-


Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen

Staatsbürgern sind heute wieder unsre Großindustriellen unmittelbar daran
interessirt. Sie haben jedenfalls das Recht, energisch Einspruch zu erheben,
wenn die berufnen Lehrer der Staatswissenschaften, wenn auch oxtiina Ms,
ihren großen, zum Teil durch ihr Staatsamt begründeten Einfluß zur Ver¬
breitung und Verschärfung ungesunder sozialpolitischer Auffassungen und Vor¬
stellungen im Volke, namentlich unter den jungen Männern der gebildeten
Stände, gebrauchen, und Herrn von Stumm wird man gerechterweise am
wenigsten den Beruf absprechen können, in solchen Fällen seine Stimme zu
erheben. Der Mann hat das unbestreitbare Verdienst, als erster unter den
deutschen Großindustriellen für die gesetzliche Sicherung der wirtschaftlichen
Existenz der hilfsbedürftig werdenden Industriearbeiter durch die staatliche Ver¬
sicherung eingetreten zu sein, er hat die Ausdehnung dieser Fürsorge auf die
Witwen und Waisen nachdrücklich, wenn auch erfolglos, vertreten, und auch
auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes im engern Sinne, z. B. der Sonntagsruhe
und der Fabrikinspektion, ist er unter den ersten und wirksamsten Vorkämpfern
sozialer Reformen zu nennen. Nicht von der Gnade der Unternehmer wollte
er diese Arbeiterwohlfahrtspflege abhängig gemacht sehen, sondern er hat ein
gesetzlich verbürgtes Recht der Arbeiter darauf erstrebt und mit erkämpft, und
in weiten Kreisen der deutschen Unternehmerschaft ist er dadurch recht unbequem
und unbeliebt geworden. Das sollte man bei der Beurteilung dieses Mannes
nicht vergessen. Aber die Art seines öffentlichen Auftretens hat seit Jahren
fast ausschließlich Grund zu lebhaftem Bedauern, oft zu ehrlicher Entrüstung
gegeben. Sein Ungeschick als Staatsmann macht Herrn von Stumm angesichts
seiner unbestreitbaren Verdienste nachgerade zur tragischen Figur, wie das
ähnlich mit seinem besten Feinde Adolf Wagner der Fall ist, und nichts er¬
scheint uns alberner, als dieser Figur einen eignen, selbständigen, ausschlag¬
gebenden Einfluß auf Kaiser und Reich anzudichten. Dr. Bosse hat jedenfalls
für sein Ressort durch die im Herrenhause abgegebnen Erklärungen diesen
Nimbus hinreichend zerstört, obwohl Herr von Stumm diesmal zur Abwechs¬
ung mit dem Fürsten Vismarck als Eideshelfer Staat machte. Damit sind
wir mit der Person des Herrn von Stumm hier fertig.

Der Minister Dr. Bosse hat sich über die Reformen, die er in der Pflege
der Staatswissenschaften auf den preußischen Universitäten für wünschenswert
und möglich hält, in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 4. Mai etwas
ausführlicher geäußert, ja sogar unter Aufzählung von vier besondern Punkten
eine Art von Programm entwickelt.

Erstens bekannte er sich zu dem freilich nicht gerade neuen Satze: „Es
giebt keinen bessern Schutz gegen doktrinäre Einseitigkeiten als eine gediegne
praktische Erfahrung." Er glaubt deshalb auch, daß es die Aufgabe der
Unterrichtsverwaltung sei, sich nach „wirtschaftlich durchgebildeten Männern
der Praxis" umzusehen und zu versuchen, wieweit man sie für eine „akade-


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[0506] Die Reform des staatswissenschaftlicher Unterrichts in Preußen Staatsbürgern sind heute wieder unsre Großindustriellen unmittelbar daran interessirt. Sie haben jedenfalls das Recht, energisch Einspruch zu erheben, wenn die berufnen Lehrer der Staatswissenschaften, wenn auch oxtiina Ms, ihren großen, zum Teil durch ihr Staatsamt begründeten Einfluß zur Ver¬ breitung und Verschärfung ungesunder sozialpolitischer Auffassungen und Vor¬ stellungen im Volke, namentlich unter den jungen Männern der gebildeten Stände, gebrauchen, und Herrn von Stumm wird man gerechterweise am wenigsten den Beruf absprechen können, in solchen Fällen seine Stimme zu erheben. Der Mann hat das unbestreitbare Verdienst, als erster unter den deutschen Großindustriellen für die gesetzliche Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der hilfsbedürftig werdenden Industriearbeiter durch die staatliche Ver¬ sicherung eingetreten zu sein, er hat die Ausdehnung dieser Fürsorge auf die Witwen und Waisen nachdrücklich, wenn auch erfolglos, vertreten, und auch auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes im engern Sinne, z. B. der Sonntagsruhe und der Fabrikinspektion, ist er unter den ersten und wirksamsten Vorkämpfern sozialer Reformen zu nennen. Nicht von der Gnade der Unternehmer wollte er diese Arbeiterwohlfahrtspflege abhängig gemacht sehen, sondern er hat ein gesetzlich verbürgtes Recht der Arbeiter darauf erstrebt und mit erkämpft, und in weiten Kreisen der deutschen Unternehmerschaft ist er dadurch recht unbequem und unbeliebt geworden. Das sollte man bei der Beurteilung dieses Mannes nicht vergessen. Aber die Art seines öffentlichen Auftretens hat seit Jahren fast ausschließlich Grund zu lebhaftem Bedauern, oft zu ehrlicher Entrüstung gegeben. Sein Ungeschick als Staatsmann macht Herrn von Stumm angesichts seiner unbestreitbaren Verdienste nachgerade zur tragischen Figur, wie das ähnlich mit seinem besten Feinde Adolf Wagner der Fall ist, und nichts er¬ scheint uns alberner, als dieser Figur einen eignen, selbständigen, ausschlag¬ gebenden Einfluß auf Kaiser und Reich anzudichten. Dr. Bosse hat jedenfalls für sein Ressort durch die im Herrenhause abgegebnen Erklärungen diesen Nimbus hinreichend zerstört, obwohl Herr von Stumm diesmal zur Abwechs¬ ung mit dem Fürsten Vismarck als Eideshelfer Staat machte. Damit sind wir mit der Person des Herrn von Stumm hier fertig. Der Minister Dr. Bosse hat sich über die Reformen, die er in der Pflege der Staatswissenschaften auf den preußischen Universitäten für wünschenswert und möglich hält, in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 4. Mai etwas ausführlicher geäußert, ja sogar unter Aufzählung von vier besondern Punkten eine Art von Programm entwickelt. Erstens bekannte er sich zu dem freilich nicht gerade neuen Satze: „Es giebt keinen bessern Schutz gegen doktrinäre Einseitigkeiten als eine gediegne praktische Erfahrung." Er glaubt deshalb auch, daß es die Aufgabe der Unterrichtsverwaltung sei, sich nach „wirtschaftlich durchgebildeten Männern der Praxis" umzusehen und zu versuchen, wieweit man sie für eine „akade-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/506>, abgerufen am 23.07.2024.