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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Stambuls für feinere Witze schärft, desto weniger Frende macht die plumpere
Komik der Ungebildeten. Das gilt von Einzelnen wie von ganzen Geschlechtern.
Späße, bei denen die Trinkstuben des Mittelalters von brüllenden Gelächter
wiederhallten, würden jetzt Mitleid oder Ekel erregen, während die Witze, an
denen wir uns erfreuen, ganz abgesehen von den Besonderheiten unsrer Zeit,
an unsern Vorfahren wahrscheinlich wirkungslos abgeglitten wären. Auch von
Shakespeares Dramen sind ja die Witze das Sterblichste. So hat denn auch
die Fabel des achtzehnten Jahrhunderts das reichlich eingestreute Salz der
Komik nicht vor dem Verderben zu retten vermocht; der Teil unsers Volkes,
der an der geistigen Kultur überhaupt teilnimmt, vermag sich sür die Scherze
Gellerts oder Hagedorns nicht mehr zu begeistern. Wenn freilich Lessing, der
dieses Schicksal der geschwätzig-witzigen Fabeldichtung voraussehen mochte, den
Scherz überhaupt aus der Fabel verbannt und äsopische Kürze und Einfach¬
heit angestrebt wissen wollte, so beschleunigte er nur den unvermeidlichen
Untergang. "Der bedeutendste Versuch, sagt Diestel in diesem Sinne sehr
schön, jene einst um des Lehrhaften und Wunderbaren willen so hochgepriesene
Gattung in vollkommenster Reinheit herzustellen, führte zu einem erschreckenden
Resultate. Die Hand des Würdigsten entzog ihr das letzte epische Gewand,
und sie stand da nicht als antike Schönheit, als dürres Knochengeripp."

Ein andres Los war der deutschen Tierfabel beschieden. Durch ein glückliches
Schicksal war sie vor der Umbildung ins Lehrhafte bewahrt worden, ihre
Naivität und damit auch ihre dichterische Kraft noch unzerstört, als sie zum
erstenmale zusammengefaßt und in eine wirkliche Dichtung verwandelt wurde.
An Stelle aber der aufdringlicher Lehrhaftigkeit oder seichter Witzelei entwickelte
sich in ihr die kostbarste Eigenheit germanischer Stämme, der Humor. Gewiß,
der Reineke Fuchs ist keine Sitteuschule, aber er ist mehr, er ist ein Spiegel
des Lebens, und mit lächelnder Wehmut blicken wir auf das Schauspiel, das
die wohlbekannten Gestalten mit komischem Ernst vor uns aufführen. So zeigt
uns das deutsche Tierepos den sonnigen Weg, der aus den Plagen und klein¬
lichen Sorgen des Lebens hinausführt in das Land freundlicher Phantasie.
Indem aber Goethe dem herrlichen Stoffe die edelste Form gab, verlieh er
ihm Dauer, so lange noch die deutsche Sprache auf der Erde erklingen wird.
Ungleich ist somit das Schicksal der äsopischen Fabel und der germanischen
Dichtung im deutscheu Lande, aber es kann uns von neuem die alte Wahrheit
bestätigen: die besten und edelsten Früchte erwachsen nur auf dem Boden der
Heimat.




Die Tierfabel

Stambuls für feinere Witze schärft, desto weniger Frende macht die plumpere
Komik der Ungebildeten. Das gilt von Einzelnen wie von ganzen Geschlechtern.
Späße, bei denen die Trinkstuben des Mittelalters von brüllenden Gelächter
wiederhallten, würden jetzt Mitleid oder Ekel erregen, während die Witze, an
denen wir uns erfreuen, ganz abgesehen von den Besonderheiten unsrer Zeit,
an unsern Vorfahren wahrscheinlich wirkungslos abgeglitten wären. Auch von
Shakespeares Dramen sind ja die Witze das Sterblichste. So hat denn auch
die Fabel des achtzehnten Jahrhunderts das reichlich eingestreute Salz der
Komik nicht vor dem Verderben zu retten vermocht; der Teil unsers Volkes,
der an der geistigen Kultur überhaupt teilnimmt, vermag sich sür die Scherze
Gellerts oder Hagedorns nicht mehr zu begeistern. Wenn freilich Lessing, der
dieses Schicksal der geschwätzig-witzigen Fabeldichtung voraussehen mochte, den
Scherz überhaupt aus der Fabel verbannt und äsopische Kürze und Einfach¬
heit angestrebt wissen wollte, so beschleunigte er nur den unvermeidlichen
Untergang. „Der bedeutendste Versuch, sagt Diestel in diesem Sinne sehr
schön, jene einst um des Lehrhaften und Wunderbaren willen so hochgepriesene
Gattung in vollkommenster Reinheit herzustellen, führte zu einem erschreckenden
Resultate. Die Hand des Würdigsten entzog ihr das letzte epische Gewand,
und sie stand da nicht als antike Schönheit, als dürres Knochengeripp."

Ein andres Los war der deutschen Tierfabel beschieden. Durch ein glückliches
Schicksal war sie vor der Umbildung ins Lehrhafte bewahrt worden, ihre
Naivität und damit auch ihre dichterische Kraft noch unzerstört, als sie zum
erstenmale zusammengefaßt und in eine wirkliche Dichtung verwandelt wurde.
An Stelle aber der aufdringlicher Lehrhaftigkeit oder seichter Witzelei entwickelte
sich in ihr die kostbarste Eigenheit germanischer Stämme, der Humor. Gewiß,
der Reineke Fuchs ist keine Sitteuschule, aber er ist mehr, er ist ein Spiegel
des Lebens, und mit lächelnder Wehmut blicken wir auf das Schauspiel, das
die wohlbekannten Gestalten mit komischem Ernst vor uns aufführen. So zeigt
uns das deutsche Tierepos den sonnigen Weg, der aus den Plagen und klein¬
lichen Sorgen des Lebens hinausführt in das Land freundlicher Phantasie.
Indem aber Goethe dem herrlichen Stoffe die edelste Form gab, verlieh er
ihm Dauer, so lange noch die deutsche Sprache auf der Erde erklingen wird.
Ungleich ist somit das Schicksal der äsopischen Fabel und der germanischen
Dichtung im deutscheu Lande, aber es kann uns von neuem die alte Wahrheit
bestätigen: die besten und edelsten Früchte erwachsen nur auf dem Boden der
Heimat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/488>, abgerufen am 23.07.2024.