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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

gange gewisser Städte berichten, das Ereignis immer auf die Sündhaftigkeit
der Bewohner oder einen besondern Frevel zurück. Es ist auch hier das
Suchen nach der Ursache, das so vielen Fabeln ihren Ursprung gegeben hat,
nur daß in diesem Falle die Ursache nicht mehr in Äußerlichkeiten, sondern
auf dem sittlichen Gebiete gesucht wird.

Was aber auf griechischem Boden die Umbildung der Fabel zur lehrhaften
Erzählung vor allem begünstigte, war der Umstand, daß sich die Rhetoren
ihrer bemächtigten und sie in jener merkwürdigen Zeit der griechischen Ver¬
fassungskämpfe, die schließlich fast überall mit dem Siege der republikanischen
Staatsform endete, als Beispiel und rednerische Waffe fast im Übermaße ver¬
wendeten. Das Nachdenken über politische Fragen war den Hellenen der
ältern Zeit sicher noch nicht entfernt so geläufig wie etwa dem Athener des
perikleischen Zeitalters. Es mag manchmal schwer gehalten haben, ihnen
abstrakte Berfassungsfragen klar zu machen und sie die Vorteile des einen
oder andern Gesetzes begreifen zu lassen. Da bot sich nun als vortreffliches
Hilfsmittel die Fabel. Eine einzige treffende Anekdote beleuchtete blitzartig
die schwierigsten Probleme, und was endlose Reden nicht vermochten, voll¬
brachte mühelos eil? gelungner Witz. Viele der vorhandnen Tierfabeln ließen
sich gewiß ohne weiteres für rhetorische Zwecke verwenden, und als der Vorrat
zu Ende war, trugen die Redner sicher kein Bedenken, neue zu ersinnen, von
denen dann viele ihr Glück machten und der äsopischeu Sammlung zuflössen.
Am bekanntesten unter den rednerischen frei erfundnen Fabeln ist übrigens
nicht eine griechische geworden, sondern eine römische, die Fabel des Menenius
Agrippa von dem Magen und den Gliedern, mit der er die ausgewanderten
Plebejer nach der Stadt znrücklockte.

So übte sich der jugendliche Geist der Völker des klassischen Altertums
an der Fabel, bis auch sie reifer zu werden und das kindliche Hilfsmittel zu
verschmähen begannen. Was aber die Erwachsenen nicht mehr recht mögen,
das füllt in der Regel, wenn es nicht von allzu bedenklichem Stoffe ist, den
Kindern zu. Die Fabeln, an denen sich der unbeholfene Geist der älteren
Republikaner von Athen oder Korinth ausgeschliffeu hatte, schienen sehr ge¬
eignet, die Kinder in derselben Weise im kleinen zu bilden, wie sie einst das
Volk im großen gefördert und geistig schlagsertiger gemacht hatten. So er¬
oberte sich die Fabel freilich ein neues und letztes Gebiet des Einflusses, aber
leider eins, auf dem sie notwendig vertrocknen und verkommen mußte. Es
entstand das Dogma, daß jede Fabel eine Moral enthalten müsse, und es ge¬
lang denn auch, aus allen Fabeln Äsops einen Sittenspruch herauszuquetschen,
der nun als Kern und Zweck der ganzen Dichtung galt, in Wahrheit aber als
unorganisches Anhängsel sie gänzlich entstellte. So mußte denn die Fabel¬
dichtung, aus ihrem natürlichen Boden herausgerissen, bald genug zu Grunde
gehen. Vergebens versuchte später Babrios, die äsopische Fabel in ein glän¬
zendes dichterisches Gewand zu hüllen, und noch weniger gelang es dem trocknen


Die Tierfabel

gange gewisser Städte berichten, das Ereignis immer auf die Sündhaftigkeit
der Bewohner oder einen besondern Frevel zurück. Es ist auch hier das
Suchen nach der Ursache, das so vielen Fabeln ihren Ursprung gegeben hat,
nur daß in diesem Falle die Ursache nicht mehr in Äußerlichkeiten, sondern
auf dem sittlichen Gebiete gesucht wird.

Was aber auf griechischem Boden die Umbildung der Fabel zur lehrhaften
Erzählung vor allem begünstigte, war der Umstand, daß sich die Rhetoren
ihrer bemächtigten und sie in jener merkwürdigen Zeit der griechischen Ver¬
fassungskämpfe, die schließlich fast überall mit dem Siege der republikanischen
Staatsform endete, als Beispiel und rednerische Waffe fast im Übermaße ver¬
wendeten. Das Nachdenken über politische Fragen war den Hellenen der
ältern Zeit sicher noch nicht entfernt so geläufig wie etwa dem Athener des
perikleischen Zeitalters. Es mag manchmal schwer gehalten haben, ihnen
abstrakte Berfassungsfragen klar zu machen und sie die Vorteile des einen
oder andern Gesetzes begreifen zu lassen. Da bot sich nun als vortreffliches
Hilfsmittel die Fabel. Eine einzige treffende Anekdote beleuchtete blitzartig
die schwierigsten Probleme, und was endlose Reden nicht vermochten, voll¬
brachte mühelos eil? gelungner Witz. Viele der vorhandnen Tierfabeln ließen
sich gewiß ohne weiteres für rhetorische Zwecke verwenden, und als der Vorrat
zu Ende war, trugen die Redner sicher kein Bedenken, neue zu ersinnen, von
denen dann viele ihr Glück machten und der äsopischeu Sammlung zuflössen.
Am bekanntesten unter den rednerischen frei erfundnen Fabeln ist übrigens
nicht eine griechische geworden, sondern eine römische, die Fabel des Menenius
Agrippa von dem Magen und den Gliedern, mit der er die ausgewanderten
Plebejer nach der Stadt znrücklockte.

So übte sich der jugendliche Geist der Völker des klassischen Altertums
an der Fabel, bis auch sie reifer zu werden und das kindliche Hilfsmittel zu
verschmähen begannen. Was aber die Erwachsenen nicht mehr recht mögen,
das füllt in der Regel, wenn es nicht von allzu bedenklichem Stoffe ist, den
Kindern zu. Die Fabeln, an denen sich der unbeholfene Geist der älteren
Republikaner von Athen oder Korinth ausgeschliffeu hatte, schienen sehr ge¬
eignet, die Kinder in derselben Weise im kleinen zu bilden, wie sie einst das
Volk im großen gefördert und geistig schlagsertiger gemacht hatten. So er¬
oberte sich die Fabel freilich ein neues und letztes Gebiet des Einflusses, aber
leider eins, auf dem sie notwendig vertrocknen und verkommen mußte. Es
entstand das Dogma, daß jede Fabel eine Moral enthalten müsse, und es ge¬
lang denn auch, aus allen Fabeln Äsops einen Sittenspruch herauszuquetschen,
der nun als Kern und Zweck der ganzen Dichtung galt, in Wahrheit aber als
unorganisches Anhängsel sie gänzlich entstellte. So mußte denn die Fabel¬
dichtung, aus ihrem natürlichen Boden herausgerissen, bald genug zu Grunde
gehen. Vergebens versuchte später Babrios, die äsopische Fabel in ein glän¬
zendes dichterisches Gewand zu hüllen, und noch weniger gelang es dem trocknen


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[0486] Die Tierfabel gange gewisser Städte berichten, das Ereignis immer auf die Sündhaftigkeit der Bewohner oder einen besondern Frevel zurück. Es ist auch hier das Suchen nach der Ursache, das so vielen Fabeln ihren Ursprung gegeben hat, nur daß in diesem Falle die Ursache nicht mehr in Äußerlichkeiten, sondern auf dem sittlichen Gebiete gesucht wird. Was aber auf griechischem Boden die Umbildung der Fabel zur lehrhaften Erzählung vor allem begünstigte, war der Umstand, daß sich die Rhetoren ihrer bemächtigten und sie in jener merkwürdigen Zeit der griechischen Ver¬ fassungskämpfe, die schließlich fast überall mit dem Siege der republikanischen Staatsform endete, als Beispiel und rednerische Waffe fast im Übermaße ver¬ wendeten. Das Nachdenken über politische Fragen war den Hellenen der ältern Zeit sicher noch nicht entfernt so geläufig wie etwa dem Athener des perikleischen Zeitalters. Es mag manchmal schwer gehalten haben, ihnen abstrakte Berfassungsfragen klar zu machen und sie die Vorteile des einen oder andern Gesetzes begreifen zu lassen. Da bot sich nun als vortreffliches Hilfsmittel die Fabel. Eine einzige treffende Anekdote beleuchtete blitzartig die schwierigsten Probleme, und was endlose Reden nicht vermochten, voll¬ brachte mühelos eil? gelungner Witz. Viele der vorhandnen Tierfabeln ließen sich gewiß ohne weiteres für rhetorische Zwecke verwenden, und als der Vorrat zu Ende war, trugen die Redner sicher kein Bedenken, neue zu ersinnen, von denen dann viele ihr Glück machten und der äsopischeu Sammlung zuflössen. Am bekanntesten unter den rednerischen frei erfundnen Fabeln ist übrigens nicht eine griechische geworden, sondern eine römische, die Fabel des Menenius Agrippa von dem Magen und den Gliedern, mit der er die ausgewanderten Plebejer nach der Stadt znrücklockte. So übte sich der jugendliche Geist der Völker des klassischen Altertums an der Fabel, bis auch sie reifer zu werden und das kindliche Hilfsmittel zu verschmähen begannen. Was aber die Erwachsenen nicht mehr recht mögen, das füllt in der Regel, wenn es nicht von allzu bedenklichem Stoffe ist, den Kindern zu. Die Fabeln, an denen sich der unbeholfene Geist der älteren Republikaner von Athen oder Korinth ausgeschliffeu hatte, schienen sehr ge¬ eignet, die Kinder in derselben Weise im kleinen zu bilden, wie sie einst das Volk im großen gefördert und geistig schlagsertiger gemacht hatten. So er¬ oberte sich die Fabel freilich ein neues und letztes Gebiet des Einflusses, aber leider eins, auf dem sie notwendig vertrocknen und verkommen mußte. Es entstand das Dogma, daß jede Fabel eine Moral enthalten müsse, und es ge¬ lang denn auch, aus allen Fabeln Äsops einen Sittenspruch herauszuquetschen, der nun als Kern und Zweck der ganzen Dichtung galt, in Wahrheit aber als unorganisches Anhängsel sie gänzlich entstellte. So mußte denn die Fabel¬ dichtung, aus ihrem natürlichen Boden herausgerissen, bald genug zu Grunde gehen. Vergebens versuchte später Babrios, die äsopische Fabel in ein glän¬ zendes dichterisches Gewand zu hüllen, und noch weniger gelang es dem trocknen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/486>, abgerufen am 23.07.2024.