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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

saubre Kunstform der Fabel bot willkommne Gelegenheit, die Ironie unter
leichter Hülle zu verstecken. Für die äsopische Fabelsammlung ist ein Zufluß
dieser Art geradezu nachgewiesen; es sind die sybaritischen Erzählungen, ent¬
standen in der einst blühenden, durch ihre Üppigkeit berüchtigten süditalischen
Pflanzstadt Sybaris, an sich wahrscheinlich ein Gemisch von Anekdoten, zynischen
Späßen und Fabeln, von denen die geeignetsten in die äsopische Sammlung
aufgenommen worden sind und auch ihrerseits den ursprünglichen Charakter
der Tierfabel entstellt haben. Im allgemeinen mögen die sybaritischen Er¬
zählungen in einem ähnlichen Verhältnis zu den ältern Fabeln gestanden haben,
wie in Deutschland der Till Eulenspiegel zum Reinere Fuchs.

Andre Bereicherungen und Umbildungen erhielt die Tierfabel durch die
despotisch regierten Völker des Orients, die gewiß auch ihren Beitrag zur
äsopischen Sammlung gestellt haben. Bei ihnen war von dem überlegnen
Selbstgefühl hellenischer Bürger nicht die Rede; für den Klugen und Ehr¬
geizigen gab es nur eine Stelle, wo er sich zur Geltung bringen konnte, das
war der Hof des Königs. So wurden denn auch die Tierfabeln zu Parallelen
des Hoflebens, ja zu Lehrbüchern höfischer Nünke. Die Tiere selbst haben
einen König, der einen prunkvollen Hof hält und seine Vasallen um sich ver¬
sammelt; und da sich diese Königsherrschaft aus dem Orient herschreibt, so ist
es kein Wunder, daß überall und selbst in der deutschen Tierfabel der Löwe
als König der Tiere hervortritt.

Die letzte Umbildung der Fabel und damit der Anfang ihres Untergangs
fand statt, als sie zu rein didaktischen Zwecken verwendet wurde, als nicht
mehr die Moral der Fabel wegen, sondern die Fabel der Moral wegen
dawar. Das war der Tod für allen dichterischen Zauber, der allenfalls der
Fabel noch anhaftete. Die Fabeln dagegen, die nicht für die Schule ein¬
gefangen wurden und sich im Volke und mit dem Volke entwickelten, haben
noch heute ihre alte Frische und ihren geheimnisvollen Reiz bewahrt, nur
nennt man sie nicht mehr Fabeln, sondern Märchen. Die rein moralische Fabel
dagegen, an deren Schluß der Schulmeister mit erhobnen Zeigefinger erscheint,
ist trotz aller künstlichen Belebungsversuche elend zu Grunde gegangen, und
mit Recht.

Nun ist freilich die Neigung, am Schluß einer Fabel etwas zu moralisiren,
nicht erst entstanden, als den jungen Athenern die äsopische Sammlung als
Übuugsstoff ihrer ersten Lehrjahre in die Hand gegeben wurde, sie entspringt
von selbst aus dem Wesen der anekdotenhaften Fabel. Auch im Märchen wird
der Vösewicht bestraft und der Gute belohnt, aber freilich mehr, um einen
beruhigenden Schluß zu gewinnen, als um eine Sittenlehre einzuschärfen. Die
Fabeln, in denen irgend eine besondre Eigenheit eines Tieres erklärt werden
soll, zeigen oft schon das Bestreben, ein Gebrechen als Folge einer Schuld
aufzufassen; in ganz ähnlicher Weise führen die Volkssagen, die vom Unter-


Die Tierfabel

saubre Kunstform der Fabel bot willkommne Gelegenheit, die Ironie unter
leichter Hülle zu verstecken. Für die äsopische Fabelsammlung ist ein Zufluß
dieser Art geradezu nachgewiesen; es sind die sybaritischen Erzählungen, ent¬
standen in der einst blühenden, durch ihre Üppigkeit berüchtigten süditalischen
Pflanzstadt Sybaris, an sich wahrscheinlich ein Gemisch von Anekdoten, zynischen
Späßen und Fabeln, von denen die geeignetsten in die äsopische Sammlung
aufgenommen worden sind und auch ihrerseits den ursprünglichen Charakter
der Tierfabel entstellt haben. Im allgemeinen mögen die sybaritischen Er¬
zählungen in einem ähnlichen Verhältnis zu den ältern Fabeln gestanden haben,
wie in Deutschland der Till Eulenspiegel zum Reinere Fuchs.

Andre Bereicherungen und Umbildungen erhielt die Tierfabel durch die
despotisch regierten Völker des Orients, die gewiß auch ihren Beitrag zur
äsopischen Sammlung gestellt haben. Bei ihnen war von dem überlegnen
Selbstgefühl hellenischer Bürger nicht die Rede; für den Klugen und Ehr¬
geizigen gab es nur eine Stelle, wo er sich zur Geltung bringen konnte, das
war der Hof des Königs. So wurden denn auch die Tierfabeln zu Parallelen
des Hoflebens, ja zu Lehrbüchern höfischer Nünke. Die Tiere selbst haben
einen König, der einen prunkvollen Hof hält und seine Vasallen um sich ver¬
sammelt; und da sich diese Königsherrschaft aus dem Orient herschreibt, so ist
es kein Wunder, daß überall und selbst in der deutschen Tierfabel der Löwe
als König der Tiere hervortritt.

Die letzte Umbildung der Fabel und damit der Anfang ihres Untergangs
fand statt, als sie zu rein didaktischen Zwecken verwendet wurde, als nicht
mehr die Moral der Fabel wegen, sondern die Fabel der Moral wegen
dawar. Das war der Tod für allen dichterischen Zauber, der allenfalls der
Fabel noch anhaftete. Die Fabeln dagegen, die nicht für die Schule ein¬
gefangen wurden und sich im Volke und mit dem Volke entwickelten, haben
noch heute ihre alte Frische und ihren geheimnisvollen Reiz bewahrt, nur
nennt man sie nicht mehr Fabeln, sondern Märchen. Die rein moralische Fabel
dagegen, an deren Schluß der Schulmeister mit erhobnen Zeigefinger erscheint,
ist trotz aller künstlichen Belebungsversuche elend zu Grunde gegangen, und
mit Recht.

Nun ist freilich die Neigung, am Schluß einer Fabel etwas zu moralisiren,
nicht erst entstanden, als den jungen Athenern die äsopische Sammlung als
Übuugsstoff ihrer ersten Lehrjahre in die Hand gegeben wurde, sie entspringt
von selbst aus dem Wesen der anekdotenhaften Fabel. Auch im Märchen wird
der Vösewicht bestraft und der Gute belohnt, aber freilich mehr, um einen
beruhigenden Schluß zu gewinnen, als um eine Sittenlehre einzuschärfen. Die
Fabeln, in denen irgend eine besondre Eigenheit eines Tieres erklärt werden
soll, zeigen oft schon das Bestreben, ein Gebrechen als Folge einer Schuld
aufzufassen; in ganz ähnlicher Weise führen die Volkssagen, die vom Unter-


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[0485] Die Tierfabel saubre Kunstform der Fabel bot willkommne Gelegenheit, die Ironie unter leichter Hülle zu verstecken. Für die äsopische Fabelsammlung ist ein Zufluß dieser Art geradezu nachgewiesen; es sind die sybaritischen Erzählungen, ent¬ standen in der einst blühenden, durch ihre Üppigkeit berüchtigten süditalischen Pflanzstadt Sybaris, an sich wahrscheinlich ein Gemisch von Anekdoten, zynischen Späßen und Fabeln, von denen die geeignetsten in die äsopische Sammlung aufgenommen worden sind und auch ihrerseits den ursprünglichen Charakter der Tierfabel entstellt haben. Im allgemeinen mögen die sybaritischen Er¬ zählungen in einem ähnlichen Verhältnis zu den ältern Fabeln gestanden haben, wie in Deutschland der Till Eulenspiegel zum Reinere Fuchs. Andre Bereicherungen und Umbildungen erhielt die Tierfabel durch die despotisch regierten Völker des Orients, die gewiß auch ihren Beitrag zur äsopischen Sammlung gestellt haben. Bei ihnen war von dem überlegnen Selbstgefühl hellenischer Bürger nicht die Rede; für den Klugen und Ehr¬ geizigen gab es nur eine Stelle, wo er sich zur Geltung bringen konnte, das war der Hof des Königs. So wurden denn auch die Tierfabeln zu Parallelen des Hoflebens, ja zu Lehrbüchern höfischer Nünke. Die Tiere selbst haben einen König, der einen prunkvollen Hof hält und seine Vasallen um sich ver¬ sammelt; und da sich diese Königsherrschaft aus dem Orient herschreibt, so ist es kein Wunder, daß überall und selbst in der deutschen Tierfabel der Löwe als König der Tiere hervortritt. Die letzte Umbildung der Fabel und damit der Anfang ihres Untergangs fand statt, als sie zu rein didaktischen Zwecken verwendet wurde, als nicht mehr die Moral der Fabel wegen, sondern die Fabel der Moral wegen dawar. Das war der Tod für allen dichterischen Zauber, der allenfalls der Fabel noch anhaftete. Die Fabeln dagegen, die nicht für die Schule ein¬ gefangen wurden und sich im Volke und mit dem Volke entwickelten, haben noch heute ihre alte Frische und ihren geheimnisvollen Reiz bewahrt, nur nennt man sie nicht mehr Fabeln, sondern Märchen. Die rein moralische Fabel dagegen, an deren Schluß der Schulmeister mit erhobnen Zeigefinger erscheint, ist trotz aller künstlichen Belebungsversuche elend zu Grunde gegangen, und mit Recht. Nun ist freilich die Neigung, am Schluß einer Fabel etwas zu moralisiren, nicht erst entstanden, als den jungen Athenern die äsopische Sammlung als Übuugsstoff ihrer ersten Lehrjahre in die Hand gegeben wurde, sie entspringt von selbst aus dem Wesen der anekdotenhaften Fabel. Auch im Märchen wird der Vösewicht bestraft und der Gute belohnt, aber freilich mehr, um einen beruhigenden Schluß zu gewinnen, als um eine Sittenlehre einzuschärfen. Die Fabeln, in denen irgend eine besondre Eigenheit eines Tieres erklärt werden soll, zeigen oft schon das Bestreben, ein Gebrechen als Folge einer Schuld aufzufassen; in ganz ähnlicher Weise führen die Volkssagen, die vom Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/485>, abgerufen am 23.07.2024.