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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Damit aber fällt Grimms Hypothese von dem Königtum des Bären.
Nicht der Bär, sondern der Wolf ist ursprünglich die Hauptperson der Fabel,
und wie sich unter den Himmelsgöttern Wodan und Fenriswolf gegenüber
treten, so spaltet sich der Wolf der uralten indogermanischen Tierfabel in den
verhaßten, geprellten Wolf und den richtenden Löwen, dessen Vorbild natürlich
die äsopische Fabel, die früh nach dem Norden drang, gegeben hat. Erkennen
wir aber im Wolfe den Himmelsherrscher Wodan, dann ist mit einem Schlage
auch die Stellung des Fuchses klar: in ihm, dem schlauen, rothaarigen Gesellen,
der als biedrer Gevatter des Wolfes auftritt und ihm doch die bedenklichsten
Streiche spielt, erkennen wir den durchtriebnen Feuergott Loki wieder, dessen
zweifelhafte Stellung zwischen den Göttern und ihren Feinden wir aus der Edda
erfahren. So ist denn auch die Niederlage des Wolff im Zweikampf nur ein
Nachklang der Götterdämmerung, der erst verständlich wird, wenn wir die
Wandlungen des Wolfs in der Fabel erkannt haben.

Es mag übrigens dahingestellt bleiben, welche der beiden Figuren, Loki
oder der Fuchs, der andern zum Vorbild gedient hat. Loki muß freilich, wie
seine Verwandtschaft mit dem indischen Feuergott Agni lehrt, aus einer ältern
mythologischen Schicht stammen, aber er scheint sich erst spät und nur im
Norden zu der wichtigen Gestalt entwickelt zu haben, als die er uns in der
Edda entgegentritt. Der Fuchs der uralten Tierfabel, der auch bei Äsop mit
seinen charakteristischen Eigenschaften erscheint, ist demnach schwerlich Loki nach¬
gebildet, sondern mag eher bei der Umbildung Lokis als Muster gedient haben.
Während im Norden der Lokimythus entstand, entwickelte sich in Deutschland
das Tierepos als Parallele.

Wenn im germanischen Tierepos die hervorragende Stellung des Wolfs
in letzter Linie auf seine Eigenschaft als göttlicher Stammvater des wichtigsten
totemistischen Geschlechtsverbandcs der germanischen Stämme hinausläuft, so
darf man wohl auch die Bevorzugung des Wolfs in der äsopischen Fabel auf
ähnliche Gründe zurückführen; der allgegenwärtige ImpuZ in llidula war auch
den südlichen Ariern das wichtigste und interessanteste Tier. So ergeben sich
denn auch für die äsopische Sammlung die Erklärungsfabeln einerseits, die
totemistischen andrerseits als die ursprünglichsten, als die Grundlage der
Krystallisation. Diese Grundlage aber ist verhältnismäßig klein im Vergleich
zu den alles überwuchernden weitern Entwicklungsformen, die in ihrer Art
vielleicht ebenso anziehend sind wie jene ersten Anfänge. Die Eigentümlichkeit
des menschlichen Geistes, gegebne Formen zu neuen Zwecken zu nützen, tritt
auf dem Gebiete der Fabeldichtung in besonders glänzender Weise hervor, zu¬
nächst in zwei ganz verschiednen Richtungen: erstens nämlich findet der sich
entwickelnde Sinn für Witz und Komik an den Fabeln eine willkommne Aus¬
drucksform, andrerseits werden sie zu unentbehrlichen Hilfsmitteln der Rhetorik,
beides nicht, ohne daß sie in ihrem innersten Wesen vielfach verändert und
an Zahl unendlich vermehrt werden.


Die Tierfabel

Damit aber fällt Grimms Hypothese von dem Königtum des Bären.
Nicht der Bär, sondern der Wolf ist ursprünglich die Hauptperson der Fabel,
und wie sich unter den Himmelsgöttern Wodan und Fenriswolf gegenüber
treten, so spaltet sich der Wolf der uralten indogermanischen Tierfabel in den
verhaßten, geprellten Wolf und den richtenden Löwen, dessen Vorbild natürlich
die äsopische Fabel, die früh nach dem Norden drang, gegeben hat. Erkennen
wir aber im Wolfe den Himmelsherrscher Wodan, dann ist mit einem Schlage
auch die Stellung des Fuchses klar: in ihm, dem schlauen, rothaarigen Gesellen,
der als biedrer Gevatter des Wolfes auftritt und ihm doch die bedenklichsten
Streiche spielt, erkennen wir den durchtriebnen Feuergott Loki wieder, dessen
zweifelhafte Stellung zwischen den Göttern und ihren Feinden wir aus der Edda
erfahren. So ist denn auch die Niederlage des Wolff im Zweikampf nur ein
Nachklang der Götterdämmerung, der erst verständlich wird, wenn wir die
Wandlungen des Wolfs in der Fabel erkannt haben.

Es mag übrigens dahingestellt bleiben, welche der beiden Figuren, Loki
oder der Fuchs, der andern zum Vorbild gedient hat. Loki muß freilich, wie
seine Verwandtschaft mit dem indischen Feuergott Agni lehrt, aus einer ältern
mythologischen Schicht stammen, aber er scheint sich erst spät und nur im
Norden zu der wichtigen Gestalt entwickelt zu haben, als die er uns in der
Edda entgegentritt. Der Fuchs der uralten Tierfabel, der auch bei Äsop mit
seinen charakteristischen Eigenschaften erscheint, ist demnach schwerlich Loki nach¬
gebildet, sondern mag eher bei der Umbildung Lokis als Muster gedient haben.
Während im Norden der Lokimythus entstand, entwickelte sich in Deutschland
das Tierepos als Parallele.

Wenn im germanischen Tierepos die hervorragende Stellung des Wolfs
in letzter Linie auf seine Eigenschaft als göttlicher Stammvater des wichtigsten
totemistischen Geschlechtsverbandcs der germanischen Stämme hinausläuft, so
darf man wohl auch die Bevorzugung des Wolfs in der äsopischen Fabel auf
ähnliche Gründe zurückführen; der allgegenwärtige ImpuZ in llidula war auch
den südlichen Ariern das wichtigste und interessanteste Tier. So ergeben sich
denn auch für die äsopische Sammlung die Erklärungsfabeln einerseits, die
totemistischen andrerseits als die ursprünglichsten, als die Grundlage der
Krystallisation. Diese Grundlage aber ist verhältnismäßig klein im Vergleich
zu den alles überwuchernden weitern Entwicklungsformen, die in ihrer Art
vielleicht ebenso anziehend sind wie jene ersten Anfänge. Die Eigentümlichkeit
des menschlichen Geistes, gegebne Formen zu neuen Zwecken zu nützen, tritt
auf dem Gebiete der Fabeldichtung in besonders glänzender Weise hervor, zu¬
nächst in zwei ganz verschiednen Richtungen: erstens nämlich findet der sich
entwickelnde Sinn für Witz und Komik an den Fabeln eine willkommne Aus¬
drucksform, andrerseits werden sie zu unentbehrlichen Hilfsmitteln der Rhetorik,
beides nicht, ohne daß sie in ihrem innersten Wesen vielfach verändert und
an Zahl unendlich vermehrt werden.


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[0482] Die Tierfabel Damit aber fällt Grimms Hypothese von dem Königtum des Bären. Nicht der Bär, sondern der Wolf ist ursprünglich die Hauptperson der Fabel, und wie sich unter den Himmelsgöttern Wodan und Fenriswolf gegenüber treten, so spaltet sich der Wolf der uralten indogermanischen Tierfabel in den verhaßten, geprellten Wolf und den richtenden Löwen, dessen Vorbild natürlich die äsopische Fabel, die früh nach dem Norden drang, gegeben hat. Erkennen wir aber im Wolfe den Himmelsherrscher Wodan, dann ist mit einem Schlage auch die Stellung des Fuchses klar: in ihm, dem schlauen, rothaarigen Gesellen, der als biedrer Gevatter des Wolfes auftritt und ihm doch die bedenklichsten Streiche spielt, erkennen wir den durchtriebnen Feuergott Loki wieder, dessen zweifelhafte Stellung zwischen den Göttern und ihren Feinden wir aus der Edda erfahren. So ist denn auch die Niederlage des Wolff im Zweikampf nur ein Nachklang der Götterdämmerung, der erst verständlich wird, wenn wir die Wandlungen des Wolfs in der Fabel erkannt haben. Es mag übrigens dahingestellt bleiben, welche der beiden Figuren, Loki oder der Fuchs, der andern zum Vorbild gedient hat. Loki muß freilich, wie seine Verwandtschaft mit dem indischen Feuergott Agni lehrt, aus einer ältern mythologischen Schicht stammen, aber er scheint sich erst spät und nur im Norden zu der wichtigen Gestalt entwickelt zu haben, als die er uns in der Edda entgegentritt. Der Fuchs der uralten Tierfabel, der auch bei Äsop mit seinen charakteristischen Eigenschaften erscheint, ist demnach schwerlich Loki nach¬ gebildet, sondern mag eher bei der Umbildung Lokis als Muster gedient haben. Während im Norden der Lokimythus entstand, entwickelte sich in Deutschland das Tierepos als Parallele. Wenn im germanischen Tierepos die hervorragende Stellung des Wolfs in letzter Linie auf seine Eigenschaft als göttlicher Stammvater des wichtigsten totemistischen Geschlechtsverbandcs der germanischen Stämme hinausläuft, so darf man wohl auch die Bevorzugung des Wolfs in der äsopischen Fabel auf ähnliche Gründe zurückführen; der allgegenwärtige ImpuZ in llidula war auch den südlichen Ariern das wichtigste und interessanteste Tier. So ergeben sich denn auch für die äsopische Sammlung die Erklärungsfabeln einerseits, die totemistischen andrerseits als die ursprünglichsten, als die Grundlage der Krystallisation. Diese Grundlage aber ist verhältnismäßig klein im Vergleich zu den alles überwuchernden weitern Entwicklungsformen, die in ihrer Art vielleicht ebenso anziehend sind wie jene ersten Anfänge. Die Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, gegebne Formen zu neuen Zwecken zu nützen, tritt auf dem Gebiete der Fabeldichtung in besonders glänzender Weise hervor, zu¬ nächst in zwei ganz verschiednen Richtungen: erstens nämlich findet der sich entwickelnde Sinn für Witz und Komik an den Fabeln eine willkommne Aus¬ drucksform, andrerseits werden sie zu unentbehrlichen Hilfsmitteln der Rhetorik, beides nicht, ohne daß sie in ihrem innersten Wesen vielfach verändert und an Zahl unendlich vermehrt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/482>, abgerufen am 23.07.2024.