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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Vor allem tritt der Wolf in der deutschen Überlieferung hervor, sein Geschlecht
scheint bei allen Stämmen das zahlreichste und mächtigste gewesen zu sein, und
als die totemistische Einteilung längst zerfallen war, blieben doch die zahlreichen
mit Wolf gebildeten Namen überall erhalten. Der Wolf der Tierfabel aber,
das ergiebt sich aus seiner ganzen Stellung, ist eine Parallele zu Wodan,
diesem Stammvater des Wolfsgeschlechts, ja er ist ursprünglich eins mit ihm.

Das klingt angesichts der kläglichen Rolle, die der Wolf in der deutschen
Tierfabel spielt, zunächst nicht recht wahrscheinlich. Der bösartige, gefräßige,
bestenfalls dummehrliche, überall geprellte Wolf sieht feinem glänzenden himm¬
lischen Vorbilde, dem mächtigen Sturmgott, der sich im Laufe der Entwicklung
vielfach zum obersten der Lichtgötter umbildete, recht wenig ähnlich, kaum als
klägliche Parodie könnte er gelten. Aber dieses Heruntersinken zum Possen¬
haften steht in der Mythologie nicht vereinzelt da. In der Überlieferung der
Nordwestainerikaner erscheint z. B. der Rabe bei manchen Stämmen als Welt-
schöpfer und Feuerbringer, bei andern nur als listiger Schlaukopf, bei noch
andern gar als geprellter dummer Teufel. Gerade der Ausdruck "dummer
Teufel" oder "armer Teufel" zeigt uns ein ähnliches Herabsinken des Fürsten
der gefallnen Engel, des furchtbaren Höllenherrschers bis zur kläglichsten
Nichtigkeit. Die Ursache aber, die den Wolf von seiner einstigen Höhe herab¬
gleiten ließ, hängt noch besonders eng mit dem Kulturfortschritt zusammen.

Man wird sich die Götter des ältern Germanentums nicht als besonders
iebenswürdige Gestalten vorstellen dürfen, so wenig wie die Germanen der
Urzeit selber. Freude am Krieg und Kampf ist ihnen allen eigen, den einen
Sieg, den andern Tod und Vernichtung zu bringen, ist ihre Lust. Wodan,
der raubend in Wolfsgestalt umherschweift, paßt vortrefflich zum Gotte der
rohen und blutigen Urzeit. Mit der allmählichen Milderung der Sitten schwand
das Gefallen an diesen Vorstellungen, die Götter wurden freundlicher und
menschlicher, ihre tierische Hülle zum Symbol, im Notfalle aber half man sich
mit einer Spaltung des Gottesbegriffs; die üble Seite der Gottheit löst sich
als selbständige Gestalt von ihr ab und tritt nun wohl gar dem guten Prinzip
feindselig entgegen. Das ist denn auch das Schicksal des Wodanswolfs. Der
Gott selbst wirft das Tierkleid völlig ab, nur als Diener bleiben ihm zwei
Wölfe zur Seite, die bald ganz zu symbolischen Schattengestalten verkümmern;
das feindselige, grimmige Wesen des Wolfsgottes aber verkörpert sich in der
Gestalt des Fenriswolfes, des Feindes der Götter und Menschen, der beim
letzten Kampfe Wodan verschlingen und sich so wieder mit seiner Urform ver¬
einigen wird. Der Wolf der Fabel hat nun dieselbe Umbildung durchgemacht,
er ist diesem, der sich in dummehrlicher Weise von den Göttern überlisten und
binden läßt, durchaus parallel, und doch müssen wir ihn auf Wodan, den
Stammvater des totemistischen Wolfsgeschlechts sowohl wie des Fenriswolfs,
zurückführen.


Grenzboten II I8S7 U)
Die Tierfabel

Vor allem tritt der Wolf in der deutschen Überlieferung hervor, sein Geschlecht
scheint bei allen Stämmen das zahlreichste und mächtigste gewesen zu sein, und
als die totemistische Einteilung längst zerfallen war, blieben doch die zahlreichen
mit Wolf gebildeten Namen überall erhalten. Der Wolf der Tierfabel aber,
das ergiebt sich aus seiner ganzen Stellung, ist eine Parallele zu Wodan,
diesem Stammvater des Wolfsgeschlechts, ja er ist ursprünglich eins mit ihm.

Das klingt angesichts der kläglichen Rolle, die der Wolf in der deutschen
Tierfabel spielt, zunächst nicht recht wahrscheinlich. Der bösartige, gefräßige,
bestenfalls dummehrliche, überall geprellte Wolf sieht feinem glänzenden himm¬
lischen Vorbilde, dem mächtigen Sturmgott, der sich im Laufe der Entwicklung
vielfach zum obersten der Lichtgötter umbildete, recht wenig ähnlich, kaum als
klägliche Parodie könnte er gelten. Aber dieses Heruntersinken zum Possen¬
haften steht in der Mythologie nicht vereinzelt da. In der Überlieferung der
Nordwestainerikaner erscheint z. B. der Rabe bei manchen Stämmen als Welt-
schöpfer und Feuerbringer, bei andern nur als listiger Schlaukopf, bei noch
andern gar als geprellter dummer Teufel. Gerade der Ausdruck „dummer
Teufel" oder „armer Teufel" zeigt uns ein ähnliches Herabsinken des Fürsten
der gefallnen Engel, des furchtbaren Höllenherrschers bis zur kläglichsten
Nichtigkeit. Die Ursache aber, die den Wolf von seiner einstigen Höhe herab¬
gleiten ließ, hängt noch besonders eng mit dem Kulturfortschritt zusammen.

Man wird sich die Götter des ältern Germanentums nicht als besonders
iebenswürdige Gestalten vorstellen dürfen, so wenig wie die Germanen der
Urzeit selber. Freude am Krieg und Kampf ist ihnen allen eigen, den einen
Sieg, den andern Tod und Vernichtung zu bringen, ist ihre Lust. Wodan,
der raubend in Wolfsgestalt umherschweift, paßt vortrefflich zum Gotte der
rohen und blutigen Urzeit. Mit der allmählichen Milderung der Sitten schwand
das Gefallen an diesen Vorstellungen, die Götter wurden freundlicher und
menschlicher, ihre tierische Hülle zum Symbol, im Notfalle aber half man sich
mit einer Spaltung des Gottesbegriffs; die üble Seite der Gottheit löst sich
als selbständige Gestalt von ihr ab und tritt nun wohl gar dem guten Prinzip
feindselig entgegen. Das ist denn auch das Schicksal des Wodanswolfs. Der
Gott selbst wirft das Tierkleid völlig ab, nur als Diener bleiben ihm zwei
Wölfe zur Seite, die bald ganz zu symbolischen Schattengestalten verkümmern;
das feindselige, grimmige Wesen des Wolfsgottes aber verkörpert sich in der
Gestalt des Fenriswolfes, des Feindes der Götter und Menschen, der beim
letzten Kampfe Wodan verschlingen und sich so wieder mit seiner Urform ver¬
einigen wird. Der Wolf der Fabel hat nun dieselbe Umbildung durchgemacht,
er ist diesem, der sich in dummehrlicher Weise von den Göttern überlisten und
binden läßt, durchaus parallel, und doch müssen wir ihn auf Wodan, den
Stammvater des totemistischen Wolfsgeschlechts sowohl wie des Fenriswolfs,
zurückführen.


Grenzboten II I8S7 U)
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[0481] Die Tierfabel Vor allem tritt der Wolf in der deutschen Überlieferung hervor, sein Geschlecht scheint bei allen Stämmen das zahlreichste und mächtigste gewesen zu sein, und als die totemistische Einteilung längst zerfallen war, blieben doch die zahlreichen mit Wolf gebildeten Namen überall erhalten. Der Wolf der Tierfabel aber, das ergiebt sich aus seiner ganzen Stellung, ist eine Parallele zu Wodan, diesem Stammvater des Wolfsgeschlechts, ja er ist ursprünglich eins mit ihm. Das klingt angesichts der kläglichen Rolle, die der Wolf in der deutschen Tierfabel spielt, zunächst nicht recht wahrscheinlich. Der bösartige, gefräßige, bestenfalls dummehrliche, überall geprellte Wolf sieht feinem glänzenden himm¬ lischen Vorbilde, dem mächtigen Sturmgott, der sich im Laufe der Entwicklung vielfach zum obersten der Lichtgötter umbildete, recht wenig ähnlich, kaum als klägliche Parodie könnte er gelten. Aber dieses Heruntersinken zum Possen¬ haften steht in der Mythologie nicht vereinzelt da. In der Überlieferung der Nordwestainerikaner erscheint z. B. der Rabe bei manchen Stämmen als Welt- schöpfer und Feuerbringer, bei andern nur als listiger Schlaukopf, bei noch andern gar als geprellter dummer Teufel. Gerade der Ausdruck „dummer Teufel" oder „armer Teufel" zeigt uns ein ähnliches Herabsinken des Fürsten der gefallnen Engel, des furchtbaren Höllenherrschers bis zur kläglichsten Nichtigkeit. Die Ursache aber, die den Wolf von seiner einstigen Höhe herab¬ gleiten ließ, hängt noch besonders eng mit dem Kulturfortschritt zusammen. Man wird sich die Götter des ältern Germanentums nicht als besonders iebenswürdige Gestalten vorstellen dürfen, so wenig wie die Germanen der Urzeit selber. Freude am Krieg und Kampf ist ihnen allen eigen, den einen Sieg, den andern Tod und Vernichtung zu bringen, ist ihre Lust. Wodan, der raubend in Wolfsgestalt umherschweift, paßt vortrefflich zum Gotte der rohen und blutigen Urzeit. Mit der allmählichen Milderung der Sitten schwand das Gefallen an diesen Vorstellungen, die Götter wurden freundlicher und menschlicher, ihre tierische Hülle zum Symbol, im Notfalle aber half man sich mit einer Spaltung des Gottesbegriffs; die üble Seite der Gottheit löst sich als selbständige Gestalt von ihr ab und tritt nun wohl gar dem guten Prinzip feindselig entgegen. Das ist denn auch das Schicksal des Wodanswolfs. Der Gott selbst wirft das Tierkleid völlig ab, nur als Diener bleiben ihm zwei Wölfe zur Seite, die bald ganz zu symbolischen Schattengestalten verkümmern; das feindselige, grimmige Wesen des Wolfsgottes aber verkörpert sich in der Gestalt des Fenriswolfes, des Feindes der Götter und Menschen, der beim letzten Kampfe Wodan verschlingen und sich so wieder mit seiner Urform ver¬ einigen wird. Der Wolf der Fabel hat nun dieselbe Umbildung durchgemacht, er ist diesem, der sich in dummehrlicher Weise von den Göttern überlisten und binden läßt, durchaus parallel, und doch müssen wir ihn auf Wodan, den Stammvater des totemistischen Wolfsgeschlechts sowohl wie des Fenriswolfs, zurückführen. Grenzboten II I8S7 U)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/481>, abgerufen am 23.07.2024.