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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

mistischen Spuren in der deutschen Tierfabel in wenigen Worten darzulegen,
weiß ich wohl, daß dieser erste Versuch keine entscheidenden Ergebnisse bringen
kann, aber ich hoffe doch wenigstens zu zeigen, daß auf diesem Wege noch
manches neue zu finden sein wird. Jakob Grimm hat in seiner bahnbrechenden,
trotz aller Angriffe im einzelnen noch immer musterhaften Einleitung zum
Reinhart Fuchs den Totemismus noch nicht berücksichtigen können und ist
meiner Ansicht nach dadurch zu einer in mancher Hinsicht unrichtigen Auffassung
des deutscheu Tierepos und der darin handelnden Tiere gekommen.

Grimm unterscheidet in der deutschen Tierfabel, die er auf alte indoger¬
manische Überlieferungen zurückführt, drei Hauptpersonen, den Fuchs, den Wolf
und den Löwen, die als Sieger, Besiegter und Richter einander gegenüberstehen.
Dabei ist ihm der Löwe, der nun einmal in den germanischen Wäldern nie
gelebt hat und offenbar von außen her in das Tierepos hineingetragen worden
ist, sehr im Wege. Daß diese verdächtige Figur, wie viele wollen, überhaupt
den fremden Ursprung des deutscheu Tierepos beweise, will Grimm nicht zu¬
geben, und gewiß mit Recht; er hilft sich mit der Erklärung, daß der Löwe
nur an die Stelle eines einheimischen Tieres getreten sei, an die Stelle des
Bären. Aber leider find die Gründe, die er für diese Behauptung anführt,
recht wenig überzeugend, und die Angriffe der Gegner, an denen es nicht ge¬
fehlt hat, waren immer mit Vorliebe auf diesen schwachen Punkt gerichtet.

Grimm würde schwerlich seine Bärenhypothese aufgestellt haben, wenn er
sich über die totemistische Bedeutung des Wolfs hätte klar sein können, die
trotz aller entstellten Überlieferung noch immer wohl kenntlich ist. An und
für sich ist es durchaus wahrscheinlich, daß nicht nur die Germanen, sondern
überhaupt alle Arier in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung totemistisch
gegliedert waren, ja wir sind sogar imstande, die beiden arischen Haupt¬
geschlechter noch mit ziemlicher Sicherheit nachweisen zu können. Stammvater
und Wappentier des einen Geschlechts war der Wolf, an dessen Stelle zuweilen
der Hund zu treten scheint, Symbol des andern war ein Vogel, in den meisten
Fällen wohl der Rabe, für den aber auch Adler, Habicht, Falke eintreten, bei
den Jtalikern sogar der Specht. Die Abstammung der Römer von Wolf und
Specht tritt ja noch deutlich in jener Sage zu Tage, die Romulus und Remus
zunächst von einer Wölfin und dann von hilfsbereiten Spechten ernähren läßt.
In der nordischen Mythologie sind Wölfe und Raben die unzertrennlichen
Begleiter Wodans, also desselben Gottes, auf den die Völker mit Vorliebe
ihre Stammbäume zurückführten. Aber es sind nicht nur seine Begleiter: er
selbst schweift in Wolfsgestalt auf der Erde umher, und als Vogel durchfliegt
er die Luft. Ein Adler und ein Wolf find nach dem Zeugnis der Edda an
seiner Pforte aufgehängt, echt totemistische Sinnbilder, wie sie der Indianer
Nordwestamerikas noch heute an sein Haus malt oder schmilzt; Wolf und Rabe,
die Verkörperungen Wodans, gelten den Kümpfenden als günstige Vorzeichen.


Die Tierfabel

mistischen Spuren in der deutschen Tierfabel in wenigen Worten darzulegen,
weiß ich wohl, daß dieser erste Versuch keine entscheidenden Ergebnisse bringen
kann, aber ich hoffe doch wenigstens zu zeigen, daß auf diesem Wege noch
manches neue zu finden sein wird. Jakob Grimm hat in seiner bahnbrechenden,
trotz aller Angriffe im einzelnen noch immer musterhaften Einleitung zum
Reinhart Fuchs den Totemismus noch nicht berücksichtigen können und ist
meiner Ansicht nach dadurch zu einer in mancher Hinsicht unrichtigen Auffassung
des deutscheu Tierepos und der darin handelnden Tiere gekommen.

Grimm unterscheidet in der deutschen Tierfabel, die er auf alte indoger¬
manische Überlieferungen zurückführt, drei Hauptpersonen, den Fuchs, den Wolf
und den Löwen, die als Sieger, Besiegter und Richter einander gegenüberstehen.
Dabei ist ihm der Löwe, der nun einmal in den germanischen Wäldern nie
gelebt hat und offenbar von außen her in das Tierepos hineingetragen worden
ist, sehr im Wege. Daß diese verdächtige Figur, wie viele wollen, überhaupt
den fremden Ursprung des deutscheu Tierepos beweise, will Grimm nicht zu¬
geben, und gewiß mit Recht; er hilft sich mit der Erklärung, daß der Löwe
nur an die Stelle eines einheimischen Tieres getreten sei, an die Stelle des
Bären. Aber leider find die Gründe, die er für diese Behauptung anführt,
recht wenig überzeugend, und die Angriffe der Gegner, an denen es nicht ge¬
fehlt hat, waren immer mit Vorliebe auf diesen schwachen Punkt gerichtet.

Grimm würde schwerlich seine Bärenhypothese aufgestellt haben, wenn er
sich über die totemistische Bedeutung des Wolfs hätte klar sein können, die
trotz aller entstellten Überlieferung noch immer wohl kenntlich ist. An und
für sich ist es durchaus wahrscheinlich, daß nicht nur die Germanen, sondern
überhaupt alle Arier in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung totemistisch
gegliedert waren, ja wir sind sogar imstande, die beiden arischen Haupt¬
geschlechter noch mit ziemlicher Sicherheit nachweisen zu können. Stammvater
und Wappentier des einen Geschlechts war der Wolf, an dessen Stelle zuweilen
der Hund zu treten scheint, Symbol des andern war ein Vogel, in den meisten
Fällen wohl der Rabe, für den aber auch Adler, Habicht, Falke eintreten, bei
den Jtalikern sogar der Specht. Die Abstammung der Römer von Wolf und
Specht tritt ja noch deutlich in jener Sage zu Tage, die Romulus und Remus
zunächst von einer Wölfin und dann von hilfsbereiten Spechten ernähren läßt.
In der nordischen Mythologie sind Wölfe und Raben die unzertrennlichen
Begleiter Wodans, also desselben Gottes, auf den die Völker mit Vorliebe
ihre Stammbäume zurückführten. Aber es sind nicht nur seine Begleiter: er
selbst schweift in Wolfsgestalt auf der Erde umher, und als Vogel durchfliegt
er die Luft. Ein Adler und ein Wolf find nach dem Zeugnis der Edda an
seiner Pforte aufgehängt, echt totemistische Sinnbilder, wie sie der Indianer
Nordwestamerikas noch heute an sein Haus malt oder schmilzt; Wolf und Rabe,
die Verkörperungen Wodans, gelten den Kümpfenden als günstige Vorzeichen.


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[0480] Die Tierfabel mistischen Spuren in der deutschen Tierfabel in wenigen Worten darzulegen, weiß ich wohl, daß dieser erste Versuch keine entscheidenden Ergebnisse bringen kann, aber ich hoffe doch wenigstens zu zeigen, daß auf diesem Wege noch manches neue zu finden sein wird. Jakob Grimm hat in seiner bahnbrechenden, trotz aller Angriffe im einzelnen noch immer musterhaften Einleitung zum Reinhart Fuchs den Totemismus noch nicht berücksichtigen können und ist meiner Ansicht nach dadurch zu einer in mancher Hinsicht unrichtigen Auffassung des deutscheu Tierepos und der darin handelnden Tiere gekommen. Grimm unterscheidet in der deutschen Tierfabel, die er auf alte indoger¬ manische Überlieferungen zurückführt, drei Hauptpersonen, den Fuchs, den Wolf und den Löwen, die als Sieger, Besiegter und Richter einander gegenüberstehen. Dabei ist ihm der Löwe, der nun einmal in den germanischen Wäldern nie gelebt hat und offenbar von außen her in das Tierepos hineingetragen worden ist, sehr im Wege. Daß diese verdächtige Figur, wie viele wollen, überhaupt den fremden Ursprung des deutscheu Tierepos beweise, will Grimm nicht zu¬ geben, und gewiß mit Recht; er hilft sich mit der Erklärung, daß der Löwe nur an die Stelle eines einheimischen Tieres getreten sei, an die Stelle des Bären. Aber leider find die Gründe, die er für diese Behauptung anführt, recht wenig überzeugend, und die Angriffe der Gegner, an denen es nicht ge¬ fehlt hat, waren immer mit Vorliebe auf diesen schwachen Punkt gerichtet. Grimm würde schwerlich seine Bärenhypothese aufgestellt haben, wenn er sich über die totemistische Bedeutung des Wolfs hätte klar sein können, die trotz aller entstellten Überlieferung noch immer wohl kenntlich ist. An und für sich ist es durchaus wahrscheinlich, daß nicht nur die Germanen, sondern überhaupt alle Arier in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung totemistisch gegliedert waren, ja wir sind sogar imstande, die beiden arischen Haupt¬ geschlechter noch mit ziemlicher Sicherheit nachweisen zu können. Stammvater und Wappentier des einen Geschlechts war der Wolf, an dessen Stelle zuweilen der Hund zu treten scheint, Symbol des andern war ein Vogel, in den meisten Fällen wohl der Rabe, für den aber auch Adler, Habicht, Falke eintreten, bei den Jtalikern sogar der Specht. Die Abstammung der Römer von Wolf und Specht tritt ja noch deutlich in jener Sage zu Tage, die Romulus und Remus zunächst von einer Wölfin und dann von hilfsbereiten Spechten ernähren läßt. In der nordischen Mythologie sind Wölfe und Raben die unzertrennlichen Begleiter Wodans, also desselben Gottes, auf den die Völker mit Vorliebe ihre Stammbäume zurückführten. Aber es sind nicht nur seine Begleiter: er selbst schweift in Wolfsgestalt auf der Erde umher, und als Vogel durchfliegt er die Luft. Ein Adler und ein Wolf find nach dem Zeugnis der Edda an seiner Pforte aufgehängt, echt totemistische Sinnbilder, wie sie der Indianer Nordwestamerikas noch heute an sein Haus malt oder schmilzt; Wolf und Rabe, die Verkörperungen Wodans, gelten den Kümpfenden als günstige Vorzeichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/480>, abgerufen am 23.07.2024.