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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

weit in ein festes System bringt, die Entstehung der Tierfabeln begünstigen
mußte, ist leicht zu verstehen. Zum Teil erklärt sich hieraus die Neigung,
ganze Tierklassen zu einer typischen Gestalt zu verschmelzen; in den Fabeln
tritt ja nicht ein Fuchs, ein Wolf auf, sondern der Fuchs, der Wolf. Das
hat seinen Vorteil für die dichterische Darstellung und ist deshalb von der
Fabeldichtung auch in späterer Zeit mit Entschiedenheit festgehalten worden,
aber den ersten Anstoß dazu gab doch der Totemismus in Verbindung mit
jener Absicht, die Eigenheiten der Tiere zu erklären. Der Wolf, der in der
primitiven Fabel auftritt, ist eben kein gewöhnlicher Wolf, wie sie zu Hunderten
in den Wäldern herumlaufen, sondern der Wolf, der Ahnherr der Wölfe, der
Ersterschaffne dieser Tiere und zugleich der Stammvater des Wolfsgeschlechts
unter den Menschen.

Die nach Tieren benannten Geschlechter standen natürlich in engen Be¬
ziehungen zu ihrem Wappentiere. Gejägt oder gar gegessen wurde es in der
Regel nicht, denn wie das Geschlecht von dem betreffenden Tiere stammte, so
verwandelten sich anch seine Angehörigen nach dem Tode wieder in diese Tier¬
gestalt, und die Scheu vor den Verstorbnen, die allen Naturvölkern eigen ist,
kam ihnen zu gute. Aber auch Lebende konnten sich vorübergehend in Tiere
verwandeln. Die deutsche Werwolfsage, die auf der ganzen Erde ihre Pa¬
rallelen hat, hängt ursprünglich eng mit dem Totemismus zusammen. Sie
war noch im Mittelalter so verbreitet, daß sie Anlaß zu einer damals sehr
häufigen Wahnvorstellung Geisteskranker gab. die sich in Wölfe verwandelt
glaubten und unter wildem Geheul in den Wäldern umherschweiften. Gegen¬
wärtig ist diese Lykcmthropie kaum mehr zu beobachten, weil die ganze Vor¬
stellungsschicht, aus der sie stammt, gewissermaßen unter den Horizont unsrer
Bildung hinabgesunken ist. Wenn sich der Mensch in ein Tier verwandeln
kann, so wird aber auch umgekehrt einmal das Tier zum Menschen, wie der
Wolf in der japanischen Sage, der als schönes Mädchen am Wege sitzt, die
Vorübergehenden anlockt und dann verzehrt.

Während nun bei den äsopischen Fabeln die totemistischen Grundideen
bereits allzusehr entstellt sind, als daß sie sich noch leicht nachweisen ließen,
gewinnt das deutsche Tierepos außerordentlich an Verständlichkeit, sobald wir
die Spuren des Totemismus in ihm verfolgen. Das ist bisher nicht geschehen,
aus dem natürlichen Grunde, weil diese Spuren nicht ohne weiteres kenntlich
sind und erst dann in die Augen fallen, wenn man durch das Studium andrer
Völker mit den Erscheinungs- und namentlich den Zersetzungsformen des Tote¬
mismus vertraut ist. Bei den Germanen muß die alte Geschlechtsvrganisation
ziemlich früh zerfallen sein, denn schon von den Verfassern der Edda sind ihre
Reste nicht mehr verstanden und falsch gedeutet worden, und gar zu der Zeit,
wo der Reinhart Fuchs und der Isengrimus entstanden, war die Erinnerung
an diese alten Zustände wohl ganz verschwunden. Wenn ich versuche, die tote-


Die Tierfabel

weit in ein festes System bringt, die Entstehung der Tierfabeln begünstigen
mußte, ist leicht zu verstehen. Zum Teil erklärt sich hieraus die Neigung,
ganze Tierklassen zu einer typischen Gestalt zu verschmelzen; in den Fabeln
tritt ja nicht ein Fuchs, ein Wolf auf, sondern der Fuchs, der Wolf. Das
hat seinen Vorteil für die dichterische Darstellung und ist deshalb von der
Fabeldichtung auch in späterer Zeit mit Entschiedenheit festgehalten worden,
aber den ersten Anstoß dazu gab doch der Totemismus in Verbindung mit
jener Absicht, die Eigenheiten der Tiere zu erklären. Der Wolf, der in der
primitiven Fabel auftritt, ist eben kein gewöhnlicher Wolf, wie sie zu Hunderten
in den Wäldern herumlaufen, sondern der Wolf, der Ahnherr der Wölfe, der
Ersterschaffne dieser Tiere und zugleich der Stammvater des Wolfsgeschlechts
unter den Menschen.

Die nach Tieren benannten Geschlechter standen natürlich in engen Be¬
ziehungen zu ihrem Wappentiere. Gejägt oder gar gegessen wurde es in der
Regel nicht, denn wie das Geschlecht von dem betreffenden Tiere stammte, so
verwandelten sich anch seine Angehörigen nach dem Tode wieder in diese Tier¬
gestalt, und die Scheu vor den Verstorbnen, die allen Naturvölkern eigen ist,
kam ihnen zu gute. Aber auch Lebende konnten sich vorübergehend in Tiere
verwandeln. Die deutsche Werwolfsage, die auf der ganzen Erde ihre Pa¬
rallelen hat, hängt ursprünglich eng mit dem Totemismus zusammen. Sie
war noch im Mittelalter so verbreitet, daß sie Anlaß zu einer damals sehr
häufigen Wahnvorstellung Geisteskranker gab. die sich in Wölfe verwandelt
glaubten und unter wildem Geheul in den Wäldern umherschweiften. Gegen¬
wärtig ist diese Lykcmthropie kaum mehr zu beobachten, weil die ganze Vor¬
stellungsschicht, aus der sie stammt, gewissermaßen unter den Horizont unsrer
Bildung hinabgesunken ist. Wenn sich der Mensch in ein Tier verwandeln
kann, so wird aber auch umgekehrt einmal das Tier zum Menschen, wie der
Wolf in der japanischen Sage, der als schönes Mädchen am Wege sitzt, die
Vorübergehenden anlockt und dann verzehrt.

Während nun bei den äsopischen Fabeln die totemistischen Grundideen
bereits allzusehr entstellt sind, als daß sie sich noch leicht nachweisen ließen,
gewinnt das deutsche Tierepos außerordentlich an Verständlichkeit, sobald wir
die Spuren des Totemismus in ihm verfolgen. Das ist bisher nicht geschehen,
aus dem natürlichen Grunde, weil diese Spuren nicht ohne weiteres kenntlich
sind und erst dann in die Augen fallen, wenn man durch das Studium andrer
Völker mit den Erscheinungs- und namentlich den Zersetzungsformen des Tote¬
mismus vertraut ist. Bei den Germanen muß die alte Geschlechtsvrganisation
ziemlich früh zerfallen sein, denn schon von den Verfassern der Edda sind ihre
Reste nicht mehr verstanden und falsch gedeutet worden, und gar zu der Zeit,
wo der Reinhart Fuchs und der Isengrimus entstanden, war die Erinnerung
an diese alten Zustände wohl ganz verschwunden. Wenn ich versuche, die tote-


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[0479] Die Tierfabel weit in ein festes System bringt, die Entstehung der Tierfabeln begünstigen mußte, ist leicht zu verstehen. Zum Teil erklärt sich hieraus die Neigung, ganze Tierklassen zu einer typischen Gestalt zu verschmelzen; in den Fabeln tritt ja nicht ein Fuchs, ein Wolf auf, sondern der Fuchs, der Wolf. Das hat seinen Vorteil für die dichterische Darstellung und ist deshalb von der Fabeldichtung auch in späterer Zeit mit Entschiedenheit festgehalten worden, aber den ersten Anstoß dazu gab doch der Totemismus in Verbindung mit jener Absicht, die Eigenheiten der Tiere zu erklären. Der Wolf, der in der primitiven Fabel auftritt, ist eben kein gewöhnlicher Wolf, wie sie zu Hunderten in den Wäldern herumlaufen, sondern der Wolf, der Ahnherr der Wölfe, der Ersterschaffne dieser Tiere und zugleich der Stammvater des Wolfsgeschlechts unter den Menschen. Die nach Tieren benannten Geschlechter standen natürlich in engen Be¬ ziehungen zu ihrem Wappentiere. Gejägt oder gar gegessen wurde es in der Regel nicht, denn wie das Geschlecht von dem betreffenden Tiere stammte, so verwandelten sich anch seine Angehörigen nach dem Tode wieder in diese Tier¬ gestalt, und die Scheu vor den Verstorbnen, die allen Naturvölkern eigen ist, kam ihnen zu gute. Aber auch Lebende konnten sich vorübergehend in Tiere verwandeln. Die deutsche Werwolfsage, die auf der ganzen Erde ihre Pa¬ rallelen hat, hängt ursprünglich eng mit dem Totemismus zusammen. Sie war noch im Mittelalter so verbreitet, daß sie Anlaß zu einer damals sehr häufigen Wahnvorstellung Geisteskranker gab. die sich in Wölfe verwandelt glaubten und unter wildem Geheul in den Wäldern umherschweiften. Gegen¬ wärtig ist diese Lykcmthropie kaum mehr zu beobachten, weil die ganze Vor¬ stellungsschicht, aus der sie stammt, gewissermaßen unter den Horizont unsrer Bildung hinabgesunken ist. Wenn sich der Mensch in ein Tier verwandeln kann, so wird aber auch umgekehrt einmal das Tier zum Menschen, wie der Wolf in der japanischen Sage, der als schönes Mädchen am Wege sitzt, die Vorübergehenden anlockt und dann verzehrt. Während nun bei den äsopischen Fabeln die totemistischen Grundideen bereits allzusehr entstellt sind, als daß sie sich noch leicht nachweisen ließen, gewinnt das deutsche Tierepos außerordentlich an Verständlichkeit, sobald wir die Spuren des Totemismus in ihm verfolgen. Das ist bisher nicht geschehen, aus dem natürlichen Grunde, weil diese Spuren nicht ohne weiteres kenntlich sind und erst dann in die Augen fallen, wenn man durch das Studium andrer Völker mit den Erscheinungs- und namentlich den Zersetzungsformen des Tote¬ mismus vertraut ist. Bei den Germanen muß die alte Geschlechtsvrganisation ziemlich früh zerfallen sein, denn schon von den Verfassern der Edda sind ihre Reste nicht mehr verstanden und falsch gedeutet worden, und gar zu der Zeit, wo der Reinhart Fuchs und der Isengrimus entstanden, war die Erinnerung an diese alten Zustände wohl ganz verschwunden. Wenn ich versuche, die tote-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/479>, abgerufen am 23.07.2024.