Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Heimatschutz

früherer Zeit. Er ist nichts, so strotzend er sich geberdet, als das Zeichen
beginnenden Absterbens. Unsre sinnlich gerichtete Über- und Afterkultur schlagt
schließlich in Barbarei, in innere Verrohung um.

Das treueste Spiegelbild dieser Zustände finden wir in den hohlen und
verzerrten Zügen unsrer unaufhaltsam sinkenden, zum Geschäft herabgewürdigten
Kunst. Daß Mensch und Künstler eins sein, daß das Schöne auch das Gute
sein soll, wird als ein überwunduer Aberglaube verlacht. Was Gustav Freytag
von der modernsten Litteratur sagt, daß sie nur vom Standpunkt des Bedürf¬
nisses aus, Aussehen zu erregen, zu verstehen sei, gilt gerade so von der
Musik und den bildenden Künsten. Die Requisiten aber dieser Spekulation
auf die Masse sind gemeine Sinnlichkeit, soziale Aufreizung und Wühlen in
der Darstellung häßlicher Wirklichkeiten, seien es nun verkrüppelte Chausseebäume
oder fratzenhafte Seelenzustände. Am Harmlosesteil scheinbar, aber umso sicherer
verderbend tragen die Operettenmelodien samt ihren Versen all das Gift der
Entsittlichung in das Volk. Sie sind durch und durch mit Frivolität getränkt,
und Leierkasten wie Kcirussels, beurlaubte Soldaten aus großstädtischen Gar¬
nisonen wie Sommerfrischler und Hciudluugsreiscnde sorgen dafür, daß bis in
die fernsten Winkel hinein das echte, treuherzige Volkslied durch sie verdrängt
wird. Alle Bemühungen, das Volkslied in der Schule zu pflegen, sind ohn¬
mächtig diesem Gegner gegenüber, der sich wie Ungeziefer in den Seelen fest¬
setzt und einnistet. Ihm müssen die Lebensadern durchschnitten werden, wenn
das Volkslied nicht ganz verstummen und absterben soll.

Unzählbar sind heute die Vereine und Verbände, die um der wichtigsten
wie um der nichtigsten Zwecke willen gegründet werden. Ungeheure Summen
werden in dieser Weise aufgebracht, oft gewiß zum Heil der Menschheit, aber
vielleicht ebenso oft, um in Geringfügigkeiten, in "Vereinsmeierei" verzettelt
zu werden. Keine einzige Vereinigung aber würde in ihrer Bedeutung schwerer
wiegen, ist dringender nötig als eine Zusammenscharung aller Gleichgesinnnten,
denen es darum zu thun ist, deutsches Volkstum ungeschwächt und unverdorben
zu erhalten, und was davon unzertrennlich ist, die deutsche Heimat mit ihren
Denkmälern und der Poesie ihrer Natur vor weiterer Verunglimpfung zu
schützen. Denn hier und nirgends anders liegen die Wurzeln unsrer Kraft.
Fahren wir fort, so zu wirtschaften, wie bisher, so werden wir bald ein aus¬
gelebtes Volk sein, dessen religiöses Empfinden samt allen übrigen Kräften des
Gemüts verdorrt oder verflacht, das keines geistigen Aufschwungs mehr fähig
ist, keinen Dichter, keinen großen Künstler, überhaupt keine wahrhaft schöpfe¬
rische Persönlichkeit mehr hervorzubringen vermag, höchstens in leerer Schein-
größc fortvegetire. Ja noch mehr: wir arbeiten den Ideen der roten Inter¬
nationale mit unsrer Gleichmacherei geradezu in die Hände. Es ist bezeichnend,
daß die Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken großgezogen
wird. Was giebt es auch an vaterländischen Gütern besondres zu schützen,


Heimatschutz

früherer Zeit. Er ist nichts, so strotzend er sich geberdet, als das Zeichen
beginnenden Absterbens. Unsre sinnlich gerichtete Über- und Afterkultur schlagt
schließlich in Barbarei, in innere Verrohung um.

Das treueste Spiegelbild dieser Zustände finden wir in den hohlen und
verzerrten Zügen unsrer unaufhaltsam sinkenden, zum Geschäft herabgewürdigten
Kunst. Daß Mensch und Künstler eins sein, daß das Schöne auch das Gute
sein soll, wird als ein überwunduer Aberglaube verlacht. Was Gustav Freytag
von der modernsten Litteratur sagt, daß sie nur vom Standpunkt des Bedürf¬
nisses aus, Aussehen zu erregen, zu verstehen sei, gilt gerade so von der
Musik und den bildenden Künsten. Die Requisiten aber dieser Spekulation
auf die Masse sind gemeine Sinnlichkeit, soziale Aufreizung und Wühlen in
der Darstellung häßlicher Wirklichkeiten, seien es nun verkrüppelte Chausseebäume
oder fratzenhafte Seelenzustände. Am Harmlosesteil scheinbar, aber umso sicherer
verderbend tragen die Operettenmelodien samt ihren Versen all das Gift der
Entsittlichung in das Volk. Sie sind durch und durch mit Frivolität getränkt,
und Leierkasten wie Kcirussels, beurlaubte Soldaten aus großstädtischen Gar¬
nisonen wie Sommerfrischler und Hciudluugsreiscnde sorgen dafür, daß bis in
die fernsten Winkel hinein das echte, treuherzige Volkslied durch sie verdrängt
wird. Alle Bemühungen, das Volkslied in der Schule zu pflegen, sind ohn¬
mächtig diesem Gegner gegenüber, der sich wie Ungeziefer in den Seelen fest¬
setzt und einnistet. Ihm müssen die Lebensadern durchschnitten werden, wenn
das Volkslied nicht ganz verstummen und absterben soll.

Unzählbar sind heute die Vereine und Verbände, die um der wichtigsten
wie um der nichtigsten Zwecke willen gegründet werden. Ungeheure Summen
werden in dieser Weise aufgebracht, oft gewiß zum Heil der Menschheit, aber
vielleicht ebenso oft, um in Geringfügigkeiten, in „Vereinsmeierei" verzettelt
zu werden. Keine einzige Vereinigung aber würde in ihrer Bedeutung schwerer
wiegen, ist dringender nötig als eine Zusammenscharung aller Gleichgesinnnten,
denen es darum zu thun ist, deutsches Volkstum ungeschwächt und unverdorben
zu erhalten, und was davon unzertrennlich ist, die deutsche Heimat mit ihren
Denkmälern und der Poesie ihrer Natur vor weiterer Verunglimpfung zu
schützen. Denn hier und nirgends anders liegen die Wurzeln unsrer Kraft.
Fahren wir fort, so zu wirtschaften, wie bisher, so werden wir bald ein aus¬
gelebtes Volk sein, dessen religiöses Empfinden samt allen übrigen Kräften des
Gemüts verdorrt oder verflacht, das keines geistigen Aufschwungs mehr fähig
ist, keinen Dichter, keinen großen Künstler, überhaupt keine wahrhaft schöpfe¬
rische Persönlichkeit mehr hervorzubringen vermag, höchstens in leerer Schein-
größc fortvegetire. Ja noch mehr: wir arbeiten den Ideen der roten Inter¬
nationale mit unsrer Gleichmacherei geradezu in die Hände. Es ist bezeichnend,
daß die Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken großgezogen
wird. Was giebt es auch an vaterländischen Gütern besondres zu schützen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225402"/>
          <fw type="header" place="top"> Heimatschutz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1541" prev="#ID_1540"> früherer Zeit. Er ist nichts, so strotzend er sich geberdet, als das Zeichen<lb/>
beginnenden Absterbens. Unsre sinnlich gerichtete Über- und Afterkultur schlagt<lb/>
schließlich in Barbarei, in innere Verrohung um.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1542"> Das treueste Spiegelbild dieser Zustände finden wir in den hohlen und<lb/>
verzerrten Zügen unsrer unaufhaltsam sinkenden, zum Geschäft herabgewürdigten<lb/>
Kunst. Daß Mensch und Künstler eins sein, daß das Schöne auch das Gute<lb/>
sein soll, wird als ein überwunduer Aberglaube verlacht. Was Gustav Freytag<lb/>
von der modernsten Litteratur sagt, daß sie nur vom Standpunkt des Bedürf¬<lb/>
nisses aus, Aussehen zu erregen, zu verstehen sei, gilt gerade so von der<lb/>
Musik und den bildenden Künsten. Die Requisiten aber dieser Spekulation<lb/>
auf die Masse sind gemeine Sinnlichkeit, soziale Aufreizung und Wühlen in<lb/>
der Darstellung häßlicher Wirklichkeiten, seien es nun verkrüppelte Chausseebäume<lb/>
oder fratzenhafte Seelenzustände. Am Harmlosesteil scheinbar, aber umso sicherer<lb/>
verderbend tragen die Operettenmelodien samt ihren Versen all das Gift der<lb/>
Entsittlichung in das Volk. Sie sind durch und durch mit Frivolität getränkt,<lb/>
und Leierkasten wie Kcirussels, beurlaubte Soldaten aus großstädtischen Gar¬<lb/>
nisonen wie Sommerfrischler und Hciudluugsreiscnde sorgen dafür, daß bis in<lb/>
die fernsten Winkel hinein das echte, treuherzige Volkslied durch sie verdrängt<lb/>
wird. Alle Bemühungen, das Volkslied in der Schule zu pflegen, sind ohn¬<lb/>
mächtig diesem Gegner gegenüber, der sich wie Ungeziefer in den Seelen fest¬<lb/>
setzt und einnistet. Ihm müssen die Lebensadern durchschnitten werden, wenn<lb/>
das Volkslied nicht ganz verstummen und absterben soll.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1543" next="#ID_1544"> Unzählbar sind heute die Vereine und Verbände, die um der wichtigsten<lb/>
wie um der nichtigsten Zwecke willen gegründet werden. Ungeheure Summen<lb/>
werden in dieser Weise aufgebracht, oft gewiß zum Heil der Menschheit, aber<lb/>
vielleicht ebenso oft, um in Geringfügigkeiten, in &#x201E;Vereinsmeierei" verzettelt<lb/>
zu werden. Keine einzige Vereinigung aber würde in ihrer Bedeutung schwerer<lb/>
wiegen, ist dringender nötig als eine Zusammenscharung aller Gleichgesinnnten,<lb/>
denen es darum zu thun ist, deutsches Volkstum ungeschwächt und unverdorben<lb/>
zu erhalten, und was davon unzertrennlich ist, die deutsche Heimat mit ihren<lb/>
Denkmälern und der Poesie ihrer Natur vor weiterer Verunglimpfung zu<lb/>
schützen. Denn hier und nirgends anders liegen die Wurzeln unsrer Kraft.<lb/>
Fahren wir fort, so zu wirtschaften, wie bisher, so werden wir bald ein aus¬<lb/>
gelebtes Volk sein, dessen religiöses Empfinden samt allen übrigen Kräften des<lb/>
Gemüts verdorrt oder verflacht, das keines geistigen Aufschwungs mehr fähig<lb/>
ist, keinen Dichter, keinen großen Künstler, überhaupt keine wahrhaft schöpfe¬<lb/>
rische Persönlichkeit mehr hervorzubringen vermag, höchstens in leerer Schein-<lb/>
größc fortvegetire. Ja noch mehr: wir arbeiten den Ideen der roten Inter¬<lb/>
nationale mit unsrer Gleichmacherei geradezu in die Hände. Es ist bezeichnend,<lb/>
daß die Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken großgezogen<lb/>
wird.  Was giebt es auch an vaterländischen Gütern besondres zu schützen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Heimatschutz früherer Zeit. Er ist nichts, so strotzend er sich geberdet, als das Zeichen beginnenden Absterbens. Unsre sinnlich gerichtete Über- und Afterkultur schlagt schließlich in Barbarei, in innere Verrohung um. Das treueste Spiegelbild dieser Zustände finden wir in den hohlen und verzerrten Zügen unsrer unaufhaltsam sinkenden, zum Geschäft herabgewürdigten Kunst. Daß Mensch und Künstler eins sein, daß das Schöne auch das Gute sein soll, wird als ein überwunduer Aberglaube verlacht. Was Gustav Freytag von der modernsten Litteratur sagt, daß sie nur vom Standpunkt des Bedürf¬ nisses aus, Aussehen zu erregen, zu verstehen sei, gilt gerade so von der Musik und den bildenden Künsten. Die Requisiten aber dieser Spekulation auf die Masse sind gemeine Sinnlichkeit, soziale Aufreizung und Wühlen in der Darstellung häßlicher Wirklichkeiten, seien es nun verkrüppelte Chausseebäume oder fratzenhafte Seelenzustände. Am Harmlosesteil scheinbar, aber umso sicherer verderbend tragen die Operettenmelodien samt ihren Versen all das Gift der Entsittlichung in das Volk. Sie sind durch und durch mit Frivolität getränkt, und Leierkasten wie Kcirussels, beurlaubte Soldaten aus großstädtischen Gar¬ nisonen wie Sommerfrischler und Hciudluugsreiscnde sorgen dafür, daß bis in die fernsten Winkel hinein das echte, treuherzige Volkslied durch sie verdrängt wird. Alle Bemühungen, das Volkslied in der Schule zu pflegen, sind ohn¬ mächtig diesem Gegner gegenüber, der sich wie Ungeziefer in den Seelen fest¬ setzt und einnistet. Ihm müssen die Lebensadern durchschnitten werden, wenn das Volkslied nicht ganz verstummen und absterben soll. Unzählbar sind heute die Vereine und Verbände, die um der wichtigsten wie um der nichtigsten Zwecke willen gegründet werden. Ungeheure Summen werden in dieser Weise aufgebracht, oft gewiß zum Heil der Menschheit, aber vielleicht ebenso oft, um in Geringfügigkeiten, in „Vereinsmeierei" verzettelt zu werden. Keine einzige Vereinigung aber würde in ihrer Bedeutung schwerer wiegen, ist dringender nötig als eine Zusammenscharung aller Gleichgesinnnten, denen es darum zu thun ist, deutsches Volkstum ungeschwächt und unverdorben zu erhalten, und was davon unzertrennlich ist, die deutsche Heimat mit ihren Denkmälern und der Poesie ihrer Natur vor weiterer Verunglimpfung zu schützen. Denn hier und nirgends anders liegen die Wurzeln unsrer Kraft. Fahren wir fort, so zu wirtschaften, wie bisher, so werden wir bald ein aus¬ gelebtes Volk sein, dessen religiöses Empfinden samt allen übrigen Kräften des Gemüts verdorrt oder verflacht, das keines geistigen Aufschwungs mehr fähig ist, keinen Dichter, keinen großen Künstler, überhaupt keine wahrhaft schöpfe¬ rische Persönlichkeit mehr hervorzubringen vermag, höchstens in leerer Schein- größc fortvegetire. Ja noch mehr: wir arbeiten den Ideen der roten Inter¬ nationale mit unsrer Gleichmacherei geradezu in die Hände. Es ist bezeichnend, daß die Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken großgezogen wird. Was giebt es auch an vaterländischen Gütern besondres zu schützen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/474>, abgerufen am 23.07.2024.