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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Heimatschutz

es den Städtern nachzuthun, und hält sich thörichterweise für etwas Geringeres,
wenn man sich ihnen nicht anähneln kann. Das eigenartarme, über einen
Kamm geschorne, blutleere Durchschnittswesen, das jeder tiefer blickende für
einen Schaden des Großstadttums ansteht, wird als Kennzeichen des Fortschritts
und der sogenannten Bildung geachtet und nachgemacht. Wenn doch alle
unsre Landleute erkennen wollten, daß die alten Bräuche und Trachten ein
Stück moralischen Reichtums bergen, und daß die städtische Durchschnitts-
simpelei ein Beweis bedauernswerter innerer Armut ist! Je ärmer das
Seelenleben eines Volks ist, um so einförmiger wird sein Außenleben, und
umgekehrt. Aber noch mehr! Das Schwinden der Besonderheiten in Brauch
und Tracht ist nicht nur ein Zeichen seelischer Verarmung, sondern bekundet
auch Schwinden der Standesehre und Verlassen der Standesfreude. Der
Landmann, der sich seines herrlichen Standes freut, der noch stolz darauf ist,
das zu sein, was er ist, wird auch bemüht sein, das zu wahren, was ihn
äußerlich von den andern unterscheidet. Die Sucht, im Gewand und im Ge-
bahren etwas andres zu scheinen, wird ihm fremd sein und verächtlich erscheinen.
Daher ist die Mahnung, die alten Eigentümlichkeiten des Standes: Sitten und
Gebräuche, Tracht und Schnitt, Hausrat und Hauszier zu wahren, viel
wichtiger und weiter reichend, als man auf den ersten Blick meint. Der Stand,
der seinen Stolz einbüßt, der keine Freude an sich hat, ist im Niedergang
begriffen. Wer also die Kennzeichen des Standesstolzes und so das Standes¬
bewußtsein wahrt, der wehrt damit dem Niedergange des Standes."

Dem wäre nur noch hinzuzufügen, daß selbst die alte treffende Benennung
"Bauer" in Mißkredit geraten will. Man darf nicht mehr auf die Brief-
adresfen setzen "Bauer," sondern muß sich zu den leeren Ausdrücken "Besitzer"
oder "Ökonom" bequemen.

Wenn es so die heutige Gesellschaft mit all ihrem Treiben glücklich zu¬
wege gebracht hat, daß das Naturwüchsige, Gesunde in jeder seiner Äuße¬
rungen als das Überwundne, Geringe, Zurückgebliebne beiseite geschoben und
auf den Aussterbeetat gesetzt wird, so werden doch dieselben Leute der neuesten
Mode, wenn ihnen einmal von einem recht pikanten Stück übrig gebliebner
Volkstümlichkeit zu Ohren kommt, wieder lüstern, diese Naturmerkwürdigkeit
in Augenschein zu nehmen. Das Passionsspiel im Oberammergau, dieser
schöne, rührende Nest einer aus innigster Frömmigkeit gebornen Volkskunst, ist
zum Sammelplatz sür die Neugierigen aus aller Herren Ländern, ja aus allen
Weltteilen geworden. Und jetzt, wo sich die Lockspeise an der einen Stelle
reichlich bewährt hat, fängt man auch im Böhmerwald an, sich zu besinnen,
daß man mit der religiösen Naivität in ähnlicher Weise ein Geschäft machen
könnte. Im Oberammergau aber begeben sich die Darsteller der heiligen Per¬
sonen zu ihrer Vorbereitung zu Münchner Schauspielern in die Lehre, und es
wird alles aufgeboten, die Schaulust und die sonstigen Ansprüche der großen


Heimatschutz

es den Städtern nachzuthun, und hält sich thörichterweise für etwas Geringeres,
wenn man sich ihnen nicht anähneln kann. Das eigenartarme, über einen
Kamm geschorne, blutleere Durchschnittswesen, das jeder tiefer blickende für
einen Schaden des Großstadttums ansteht, wird als Kennzeichen des Fortschritts
und der sogenannten Bildung geachtet und nachgemacht. Wenn doch alle
unsre Landleute erkennen wollten, daß die alten Bräuche und Trachten ein
Stück moralischen Reichtums bergen, und daß die städtische Durchschnitts-
simpelei ein Beweis bedauernswerter innerer Armut ist! Je ärmer das
Seelenleben eines Volks ist, um so einförmiger wird sein Außenleben, und
umgekehrt. Aber noch mehr! Das Schwinden der Besonderheiten in Brauch
und Tracht ist nicht nur ein Zeichen seelischer Verarmung, sondern bekundet
auch Schwinden der Standesehre und Verlassen der Standesfreude. Der
Landmann, der sich seines herrlichen Standes freut, der noch stolz darauf ist,
das zu sein, was er ist, wird auch bemüht sein, das zu wahren, was ihn
äußerlich von den andern unterscheidet. Die Sucht, im Gewand und im Ge-
bahren etwas andres zu scheinen, wird ihm fremd sein und verächtlich erscheinen.
Daher ist die Mahnung, die alten Eigentümlichkeiten des Standes: Sitten und
Gebräuche, Tracht und Schnitt, Hausrat und Hauszier zu wahren, viel
wichtiger und weiter reichend, als man auf den ersten Blick meint. Der Stand,
der seinen Stolz einbüßt, der keine Freude an sich hat, ist im Niedergang
begriffen. Wer also die Kennzeichen des Standesstolzes und so das Standes¬
bewußtsein wahrt, der wehrt damit dem Niedergange des Standes."

Dem wäre nur noch hinzuzufügen, daß selbst die alte treffende Benennung
„Bauer" in Mißkredit geraten will. Man darf nicht mehr auf die Brief-
adresfen setzen „Bauer," sondern muß sich zu den leeren Ausdrücken „Besitzer"
oder „Ökonom" bequemen.

Wenn es so die heutige Gesellschaft mit all ihrem Treiben glücklich zu¬
wege gebracht hat, daß das Naturwüchsige, Gesunde in jeder seiner Äuße¬
rungen als das Überwundne, Geringe, Zurückgebliebne beiseite geschoben und
auf den Aussterbeetat gesetzt wird, so werden doch dieselben Leute der neuesten
Mode, wenn ihnen einmal von einem recht pikanten Stück übrig gebliebner
Volkstümlichkeit zu Ohren kommt, wieder lüstern, diese Naturmerkwürdigkeit
in Augenschein zu nehmen. Das Passionsspiel im Oberammergau, dieser
schöne, rührende Nest einer aus innigster Frömmigkeit gebornen Volkskunst, ist
zum Sammelplatz sür die Neugierigen aus aller Herren Ländern, ja aus allen
Weltteilen geworden. Und jetzt, wo sich die Lockspeise an der einen Stelle
reichlich bewährt hat, fängt man auch im Böhmerwald an, sich zu besinnen,
daß man mit der religiösen Naivität in ähnlicher Weise ein Geschäft machen
könnte. Im Oberammergau aber begeben sich die Darsteller der heiligen Per¬
sonen zu ihrer Vorbereitung zu Münchner Schauspielern in die Lehre, und es
wird alles aufgeboten, die Schaulust und die sonstigen Ansprüche der großen


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[0470] Heimatschutz es den Städtern nachzuthun, und hält sich thörichterweise für etwas Geringeres, wenn man sich ihnen nicht anähneln kann. Das eigenartarme, über einen Kamm geschorne, blutleere Durchschnittswesen, das jeder tiefer blickende für einen Schaden des Großstadttums ansteht, wird als Kennzeichen des Fortschritts und der sogenannten Bildung geachtet und nachgemacht. Wenn doch alle unsre Landleute erkennen wollten, daß die alten Bräuche und Trachten ein Stück moralischen Reichtums bergen, und daß die städtische Durchschnitts- simpelei ein Beweis bedauernswerter innerer Armut ist! Je ärmer das Seelenleben eines Volks ist, um so einförmiger wird sein Außenleben, und umgekehrt. Aber noch mehr! Das Schwinden der Besonderheiten in Brauch und Tracht ist nicht nur ein Zeichen seelischer Verarmung, sondern bekundet auch Schwinden der Standesehre und Verlassen der Standesfreude. Der Landmann, der sich seines herrlichen Standes freut, der noch stolz darauf ist, das zu sein, was er ist, wird auch bemüht sein, das zu wahren, was ihn äußerlich von den andern unterscheidet. Die Sucht, im Gewand und im Ge- bahren etwas andres zu scheinen, wird ihm fremd sein und verächtlich erscheinen. Daher ist die Mahnung, die alten Eigentümlichkeiten des Standes: Sitten und Gebräuche, Tracht und Schnitt, Hausrat und Hauszier zu wahren, viel wichtiger und weiter reichend, als man auf den ersten Blick meint. Der Stand, der seinen Stolz einbüßt, der keine Freude an sich hat, ist im Niedergang begriffen. Wer also die Kennzeichen des Standesstolzes und so das Standes¬ bewußtsein wahrt, der wehrt damit dem Niedergange des Standes." Dem wäre nur noch hinzuzufügen, daß selbst die alte treffende Benennung „Bauer" in Mißkredit geraten will. Man darf nicht mehr auf die Brief- adresfen setzen „Bauer," sondern muß sich zu den leeren Ausdrücken „Besitzer" oder „Ökonom" bequemen. Wenn es so die heutige Gesellschaft mit all ihrem Treiben glücklich zu¬ wege gebracht hat, daß das Naturwüchsige, Gesunde in jeder seiner Äuße¬ rungen als das Überwundne, Geringe, Zurückgebliebne beiseite geschoben und auf den Aussterbeetat gesetzt wird, so werden doch dieselben Leute der neuesten Mode, wenn ihnen einmal von einem recht pikanten Stück übrig gebliebner Volkstümlichkeit zu Ohren kommt, wieder lüstern, diese Naturmerkwürdigkeit in Augenschein zu nehmen. Das Passionsspiel im Oberammergau, dieser schöne, rührende Nest einer aus innigster Frömmigkeit gebornen Volkskunst, ist zum Sammelplatz sür die Neugierigen aus aller Herren Ländern, ja aus allen Weltteilen geworden. Und jetzt, wo sich die Lockspeise an der einen Stelle reichlich bewährt hat, fängt man auch im Böhmerwald an, sich zu besinnen, daß man mit der religiösen Naivität in ähnlicher Weise ein Geschäft machen könnte. Im Oberammergau aber begeben sich die Darsteller der heiligen Per¬ sonen zu ihrer Vorbereitung zu Münchner Schauspielern in die Lehre, und es wird alles aufgeboten, die Schaulust und die sonstigen Ansprüche der großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/470>, abgerufen am 23.07.2024.