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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Heimatschutz

jünglings in ländlicher Umgebung -- eine Äußerung verwandter Gesinnungen
auf französischer Seite, die wir uns nicht versagen können, hier einzufügen.
"Wenn das Kostüm der bürgerlichen Gesellschaft unsrer Tage das trübseligste,
unbequemste und mißgestaltetste ist, das die Mode jemals erfunden hat, so
treten seine Nachteile und seine Häßlichkeiten vor allem auf freiem Felde hervor.
Ju der Nähe großer Städte ist man weniger empfindlich dagegen, weil hier
das Land selbst künstlich zurecht gemacht, überall geradlinig abgeteilt, kurz mit¬
samt seinen Pflanzen, Gebäuden und Mauern in einem systematischen Geschmack
behandelt ist, der der Natur alle ihre Freiheit, alle ihre Anmut nimmt. Man
kann zuweilen den Reichtum und die Symmetrie solcher im höchsten Maße
rationell bewirtschafteten Ländereien bewundern; wie man aber eine solche
Gegend lieben kann, ist schwer zu begreifen. Die wirklich ländliche Natur ist
nicht hier, sondern in Landstrichen, die, weniger ausgenutzt, eine gewisse
Wildheit bewahrt haben; sie ist da, wo die Kultur keine kleinlichen Ver¬
schönerungen anzubringen versucht hat, wo es nicht überall ängstlich behütete
Grenzen giebt, wo das Eigentum des Einen höchstens durch einen Stein oder
ein Gebüsch von dem des andern abgesondert, dem Schutz vou Treue und
Glauben anvertraut ist. Die Wege, nur für Fußgänger, Reiter und Land-
fuhrwerk bestimmt, bieten eine Fülle malerischer Zufälligkeiten, die Hecken,
ihrem natürlichen Wachstum überlassen, hängen in Gewinden herab, wölben
sich zu Lauben und sind voll des Schmucks wilder Pflanzen, die man in
Luxusgärten sorgfältig aufreißt. Die Armut verkriecht sich nicht schüchtern
zu Füßen des Reichtums; im Gegenteil: lächelnd und frei breitet sie sich aus
auf einem Boden, der mit Stolz ihre Sinnbilder trägt, die wilden Blumen
und Gräser, das bescheidne Moos, die Walderdbeere, die Kresse am Ufer eines
ungezügelt dahinfließenden Baches, den Epheu auf einem Felsen, der seit Jahr¬
hunderten den Fußweg beengt, ohne daß die Polizei sich grämlich darum
bekümmert. Jeder gemütvolle Mensch liebt diese Zweige, die den Weg kreuzen,
und denen der Vorübergehende ausweicht, diese Sumpflöcher, in denen der
Frosch sich hören läßt, wie um den Wandrer zu warnen, eine wachsamere
Schildwache als die, die vor den Palästen der Könige Posten steht. Diese
alten, einstürzenden Mauern, die die Feldgärten umfriedigen, und an deren
Wegräumung niemand denkt, diese starken Wurzeln, die das Erdreich in die
Höhe heben und Höhlen bilden zu Füßen der alten Bäume: all dieses un¬
gezwungne Leben und Weben macht die echte, naive Natur aus und paßt so
ganz und gar zu den ernsten Zügen, der einfachen und schlichten Tracht des
Bauern. Mitten uun in einer solchen herben und großartigen Umgebung, die
die Seele in die Zeiten ursprünglichster Poesie versetzt, lasse man diese
Schmarotzerfliege, die man "Herr" nennt, auftreten, mit seinen schwarzen
Kleidern, seinem rasirten Kinn, seinen behandschuhten Händen, seinen un¬
geschickten Beinen, und dieser König der Gesellschaft ist nichts mehr als eine


Heimatschutz

jünglings in ländlicher Umgebung — eine Äußerung verwandter Gesinnungen
auf französischer Seite, die wir uns nicht versagen können, hier einzufügen.
„Wenn das Kostüm der bürgerlichen Gesellschaft unsrer Tage das trübseligste,
unbequemste und mißgestaltetste ist, das die Mode jemals erfunden hat, so
treten seine Nachteile und seine Häßlichkeiten vor allem auf freiem Felde hervor.
Ju der Nähe großer Städte ist man weniger empfindlich dagegen, weil hier
das Land selbst künstlich zurecht gemacht, überall geradlinig abgeteilt, kurz mit¬
samt seinen Pflanzen, Gebäuden und Mauern in einem systematischen Geschmack
behandelt ist, der der Natur alle ihre Freiheit, alle ihre Anmut nimmt. Man
kann zuweilen den Reichtum und die Symmetrie solcher im höchsten Maße
rationell bewirtschafteten Ländereien bewundern; wie man aber eine solche
Gegend lieben kann, ist schwer zu begreifen. Die wirklich ländliche Natur ist
nicht hier, sondern in Landstrichen, die, weniger ausgenutzt, eine gewisse
Wildheit bewahrt haben; sie ist da, wo die Kultur keine kleinlichen Ver¬
schönerungen anzubringen versucht hat, wo es nicht überall ängstlich behütete
Grenzen giebt, wo das Eigentum des Einen höchstens durch einen Stein oder
ein Gebüsch von dem des andern abgesondert, dem Schutz vou Treue und
Glauben anvertraut ist. Die Wege, nur für Fußgänger, Reiter und Land-
fuhrwerk bestimmt, bieten eine Fülle malerischer Zufälligkeiten, die Hecken,
ihrem natürlichen Wachstum überlassen, hängen in Gewinden herab, wölben
sich zu Lauben und sind voll des Schmucks wilder Pflanzen, die man in
Luxusgärten sorgfältig aufreißt. Die Armut verkriecht sich nicht schüchtern
zu Füßen des Reichtums; im Gegenteil: lächelnd und frei breitet sie sich aus
auf einem Boden, der mit Stolz ihre Sinnbilder trägt, die wilden Blumen
und Gräser, das bescheidne Moos, die Walderdbeere, die Kresse am Ufer eines
ungezügelt dahinfließenden Baches, den Epheu auf einem Felsen, der seit Jahr¬
hunderten den Fußweg beengt, ohne daß die Polizei sich grämlich darum
bekümmert. Jeder gemütvolle Mensch liebt diese Zweige, die den Weg kreuzen,
und denen der Vorübergehende ausweicht, diese Sumpflöcher, in denen der
Frosch sich hören läßt, wie um den Wandrer zu warnen, eine wachsamere
Schildwache als die, die vor den Palästen der Könige Posten steht. Diese
alten, einstürzenden Mauern, die die Feldgärten umfriedigen, und an deren
Wegräumung niemand denkt, diese starken Wurzeln, die das Erdreich in die
Höhe heben und Höhlen bilden zu Füßen der alten Bäume: all dieses un¬
gezwungne Leben und Weben macht die echte, naive Natur aus und paßt so
ganz und gar zu den ernsten Zügen, der einfachen und schlichten Tracht des
Bauern. Mitten uun in einer solchen herben und großartigen Umgebung, die
die Seele in die Zeiten ursprünglichster Poesie versetzt, lasse man diese
Schmarotzerfliege, die man »Herr« nennt, auftreten, mit seinen schwarzen
Kleidern, seinem rasirten Kinn, seinen behandschuhten Händen, seinen un¬
geschickten Beinen, und dieser König der Gesellschaft ist nichts mehr als eine


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[0468] Heimatschutz jünglings in ländlicher Umgebung — eine Äußerung verwandter Gesinnungen auf französischer Seite, die wir uns nicht versagen können, hier einzufügen. „Wenn das Kostüm der bürgerlichen Gesellschaft unsrer Tage das trübseligste, unbequemste und mißgestaltetste ist, das die Mode jemals erfunden hat, so treten seine Nachteile und seine Häßlichkeiten vor allem auf freiem Felde hervor. Ju der Nähe großer Städte ist man weniger empfindlich dagegen, weil hier das Land selbst künstlich zurecht gemacht, überall geradlinig abgeteilt, kurz mit¬ samt seinen Pflanzen, Gebäuden und Mauern in einem systematischen Geschmack behandelt ist, der der Natur alle ihre Freiheit, alle ihre Anmut nimmt. Man kann zuweilen den Reichtum und die Symmetrie solcher im höchsten Maße rationell bewirtschafteten Ländereien bewundern; wie man aber eine solche Gegend lieben kann, ist schwer zu begreifen. Die wirklich ländliche Natur ist nicht hier, sondern in Landstrichen, die, weniger ausgenutzt, eine gewisse Wildheit bewahrt haben; sie ist da, wo die Kultur keine kleinlichen Ver¬ schönerungen anzubringen versucht hat, wo es nicht überall ängstlich behütete Grenzen giebt, wo das Eigentum des Einen höchstens durch einen Stein oder ein Gebüsch von dem des andern abgesondert, dem Schutz vou Treue und Glauben anvertraut ist. Die Wege, nur für Fußgänger, Reiter und Land- fuhrwerk bestimmt, bieten eine Fülle malerischer Zufälligkeiten, die Hecken, ihrem natürlichen Wachstum überlassen, hängen in Gewinden herab, wölben sich zu Lauben und sind voll des Schmucks wilder Pflanzen, die man in Luxusgärten sorgfältig aufreißt. Die Armut verkriecht sich nicht schüchtern zu Füßen des Reichtums; im Gegenteil: lächelnd und frei breitet sie sich aus auf einem Boden, der mit Stolz ihre Sinnbilder trägt, die wilden Blumen und Gräser, das bescheidne Moos, die Walderdbeere, die Kresse am Ufer eines ungezügelt dahinfließenden Baches, den Epheu auf einem Felsen, der seit Jahr¬ hunderten den Fußweg beengt, ohne daß die Polizei sich grämlich darum bekümmert. Jeder gemütvolle Mensch liebt diese Zweige, die den Weg kreuzen, und denen der Vorübergehende ausweicht, diese Sumpflöcher, in denen der Frosch sich hören läßt, wie um den Wandrer zu warnen, eine wachsamere Schildwache als die, die vor den Palästen der Könige Posten steht. Diese alten, einstürzenden Mauern, die die Feldgärten umfriedigen, und an deren Wegräumung niemand denkt, diese starken Wurzeln, die das Erdreich in die Höhe heben und Höhlen bilden zu Füßen der alten Bäume: all dieses un¬ gezwungne Leben und Weben macht die echte, naive Natur aus und paßt so ganz und gar zu den ernsten Zügen, der einfachen und schlichten Tracht des Bauern. Mitten uun in einer solchen herben und großartigen Umgebung, die die Seele in die Zeiten ursprünglichster Poesie versetzt, lasse man diese Schmarotzerfliege, die man »Herr« nennt, auftreten, mit seinen schwarzen Kleidern, seinem rasirten Kinn, seinen behandschuhten Händen, seinen un¬ geschickten Beinen, und dieser König der Gesellschaft ist nichts mehr als eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/468>, abgerufen am 23.07.2024.