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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

die Gefahr kommen soll, den lebendigen Zusammenhang mit der Zeit zu
verlieren, eine Gefahr, die vor zweihundert Jahren den Lateinschulen ernst¬
haft drohte.

Aber nun -- und diese Frage wird zagend von manchem gestellt -- wie
wird sich die Zukunft gestalten? Wird sie nicht auch das beseitigen, was wir
heute noch als das dem humanistischen Gymnasium Eigentümliche festhalten:
die philologisch-historische Grundlage unsrer Bildung? Wird sie nicht etwa zur
"Einheitsschnle" mit einheitlichem modernsprachlichem Unterbau übergehen, die
ja auch bei uns hie und da bereits in das Stadium des Versuchs getreten ist?
Nun, bis jetzt haben wir hier in Sachsen weder das Latein nach Untertertia noch
das Griechische nach Untersekunda verlegt, uoch mit dem Französischen, gegen
das wenigstens die sächsische Zunge eine gewisse Abneigung hat. in Sexta
begonnen, noch ein Bedürfnis empfunden, die Weltgeschichte "in aufsteigender
Linie," d. h. rückwärts zu lehren, und uns selbst der Wirtschaftsgeschichte und
Bürgerkunde gegenüber noch etwas kühl verhalten. Und das thun wir wirklich
nicht nur, weil es das Regulativ so vorschreibt, auch nicht etwa, weil wir es
beauem fänden, im alten Schlendrian fortzuwcmdeln, auch nicht aus schulmeister¬
licher Pedanterie, oder wie sonst die Kosenamen wohl zu lauten pflegen, sondern
ganz ernsthaft aus ehrlicher Überzeugung. Ja wir glauben sogar der Jugend,
dem Vaterlande und seiner Zukunft einen großen Dienst zu erweisen, wenn
wir einer starken Zeitströmung nicht folgen, nickt den Sprung ins Dunkle
wagen, nicht aufgeben, was, einmal verloren, ganz gewiß nicht wiederzugewinnen
wäre. Wir meinen sogar, daß gerade die philologisch-historische Grundlage
unsrer Gymnasialbildung ein gewisses Gegengewicht gegen manche gefährlichen
Einseitigkeiten unsrer Zeit bilden könne, die überwunden oder mindestens ge¬
mildert werden müssen, wenn unser Voll nicht schweren Schaden leiden soll.

Dem banausischen amerikanisirenden Nützlichkeitszuge gegenüber ist schon
die eingehende, jahrelange Beschäftigung mit Dingen, die keinen unmittelbaren
Nutzen gewähren, sondern von der Rücksicht auf künftige praktische Verwertung
weit abliegen, wichtig, denn sie fördert den Sinn für das Ideale. Kann sie
doch auch gegenüber der Überschätzung der ungeheuern technischen Fortschritte
in unsrer Zeit lehren, daß die geistige und sittliche Größe eines Volkes von
diesen Dingen durchaus nicht abhängt. Sodann kann für den modernen
Menschen, der beständig in verwickelten und künstlichen Zuständen lebt, der
fortwährend von einem ungeheuern zerstreuenden Vielerlei in Anspruch ge¬
nommen wird und kaum zur Einkehr in sich selbst, zu ruhiger Vertiefung
kommt, nichts wertvoller sein, als sich wenigstens eine Zeit lang in ernster
Arbeit in eine Welt zu versenken, die all dieser unruhigen Vielseitigkeit ganz
sern steht, in eine Welt von verhältnismäßig einfachen, natürlichen, leicht über¬
sehbaren Lebensbedingungen, auf die noch nicht die ungeheure Last einer mehr¬
tausendjährigen Kultur drückte, die noch die Frische und Freude des ersten


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

die Gefahr kommen soll, den lebendigen Zusammenhang mit der Zeit zu
verlieren, eine Gefahr, die vor zweihundert Jahren den Lateinschulen ernst¬
haft drohte.

Aber nun — und diese Frage wird zagend von manchem gestellt — wie
wird sich die Zukunft gestalten? Wird sie nicht auch das beseitigen, was wir
heute noch als das dem humanistischen Gymnasium Eigentümliche festhalten:
die philologisch-historische Grundlage unsrer Bildung? Wird sie nicht etwa zur
„Einheitsschnle" mit einheitlichem modernsprachlichem Unterbau übergehen, die
ja auch bei uns hie und da bereits in das Stadium des Versuchs getreten ist?
Nun, bis jetzt haben wir hier in Sachsen weder das Latein nach Untertertia noch
das Griechische nach Untersekunda verlegt, uoch mit dem Französischen, gegen
das wenigstens die sächsische Zunge eine gewisse Abneigung hat. in Sexta
begonnen, noch ein Bedürfnis empfunden, die Weltgeschichte „in aufsteigender
Linie," d. h. rückwärts zu lehren, und uns selbst der Wirtschaftsgeschichte und
Bürgerkunde gegenüber noch etwas kühl verhalten. Und das thun wir wirklich
nicht nur, weil es das Regulativ so vorschreibt, auch nicht etwa, weil wir es
beauem fänden, im alten Schlendrian fortzuwcmdeln, auch nicht aus schulmeister¬
licher Pedanterie, oder wie sonst die Kosenamen wohl zu lauten pflegen, sondern
ganz ernsthaft aus ehrlicher Überzeugung. Ja wir glauben sogar der Jugend,
dem Vaterlande und seiner Zukunft einen großen Dienst zu erweisen, wenn
wir einer starken Zeitströmung nicht folgen, nickt den Sprung ins Dunkle
wagen, nicht aufgeben, was, einmal verloren, ganz gewiß nicht wiederzugewinnen
wäre. Wir meinen sogar, daß gerade die philologisch-historische Grundlage
unsrer Gymnasialbildung ein gewisses Gegengewicht gegen manche gefährlichen
Einseitigkeiten unsrer Zeit bilden könne, die überwunden oder mindestens ge¬
mildert werden müssen, wenn unser Voll nicht schweren Schaden leiden soll.

Dem banausischen amerikanisirenden Nützlichkeitszuge gegenüber ist schon
die eingehende, jahrelange Beschäftigung mit Dingen, die keinen unmittelbaren
Nutzen gewähren, sondern von der Rücksicht auf künftige praktische Verwertung
weit abliegen, wichtig, denn sie fördert den Sinn für das Ideale. Kann sie
doch auch gegenüber der Überschätzung der ungeheuern technischen Fortschritte
in unsrer Zeit lehren, daß die geistige und sittliche Größe eines Volkes von
diesen Dingen durchaus nicht abhängt. Sodann kann für den modernen
Menschen, der beständig in verwickelten und künstlichen Zuständen lebt, der
fortwährend von einem ungeheuern zerstreuenden Vielerlei in Anspruch ge¬
nommen wird und kaum zur Einkehr in sich selbst, zu ruhiger Vertiefung
kommt, nichts wertvoller sein, als sich wenigstens eine Zeit lang in ernster
Arbeit in eine Welt zu versenken, die all dieser unruhigen Vielseitigkeit ganz
sern steht, in eine Welt von verhältnismäßig einfachen, natürlichen, leicht über¬
sehbaren Lebensbedingungen, auf die noch nicht die ungeheure Last einer mehr¬
tausendjährigen Kultur drückte, die noch die Frische und Freude des ersten


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[0461] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart die Gefahr kommen soll, den lebendigen Zusammenhang mit der Zeit zu verlieren, eine Gefahr, die vor zweihundert Jahren den Lateinschulen ernst¬ haft drohte. Aber nun — und diese Frage wird zagend von manchem gestellt — wie wird sich die Zukunft gestalten? Wird sie nicht auch das beseitigen, was wir heute noch als das dem humanistischen Gymnasium Eigentümliche festhalten: die philologisch-historische Grundlage unsrer Bildung? Wird sie nicht etwa zur „Einheitsschnle" mit einheitlichem modernsprachlichem Unterbau übergehen, die ja auch bei uns hie und da bereits in das Stadium des Versuchs getreten ist? Nun, bis jetzt haben wir hier in Sachsen weder das Latein nach Untertertia noch das Griechische nach Untersekunda verlegt, uoch mit dem Französischen, gegen das wenigstens die sächsische Zunge eine gewisse Abneigung hat. in Sexta begonnen, noch ein Bedürfnis empfunden, die Weltgeschichte „in aufsteigender Linie," d. h. rückwärts zu lehren, und uns selbst der Wirtschaftsgeschichte und Bürgerkunde gegenüber noch etwas kühl verhalten. Und das thun wir wirklich nicht nur, weil es das Regulativ so vorschreibt, auch nicht etwa, weil wir es beauem fänden, im alten Schlendrian fortzuwcmdeln, auch nicht aus schulmeister¬ licher Pedanterie, oder wie sonst die Kosenamen wohl zu lauten pflegen, sondern ganz ernsthaft aus ehrlicher Überzeugung. Ja wir glauben sogar der Jugend, dem Vaterlande und seiner Zukunft einen großen Dienst zu erweisen, wenn wir einer starken Zeitströmung nicht folgen, nickt den Sprung ins Dunkle wagen, nicht aufgeben, was, einmal verloren, ganz gewiß nicht wiederzugewinnen wäre. Wir meinen sogar, daß gerade die philologisch-historische Grundlage unsrer Gymnasialbildung ein gewisses Gegengewicht gegen manche gefährlichen Einseitigkeiten unsrer Zeit bilden könne, die überwunden oder mindestens ge¬ mildert werden müssen, wenn unser Voll nicht schweren Schaden leiden soll. Dem banausischen amerikanisirenden Nützlichkeitszuge gegenüber ist schon die eingehende, jahrelange Beschäftigung mit Dingen, die keinen unmittelbaren Nutzen gewähren, sondern von der Rücksicht auf künftige praktische Verwertung weit abliegen, wichtig, denn sie fördert den Sinn für das Ideale. Kann sie doch auch gegenüber der Überschätzung der ungeheuern technischen Fortschritte in unsrer Zeit lehren, daß die geistige und sittliche Größe eines Volkes von diesen Dingen durchaus nicht abhängt. Sodann kann für den modernen Menschen, der beständig in verwickelten und künstlichen Zuständen lebt, der fortwährend von einem ungeheuern zerstreuenden Vielerlei in Anspruch ge¬ nommen wird und kaum zur Einkehr in sich selbst, zu ruhiger Vertiefung kommt, nichts wertvoller sein, als sich wenigstens eine Zeit lang in ernster Arbeit in eine Welt zu versenken, die all dieser unruhigen Vielseitigkeit ganz sern steht, in eine Welt von verhältnismäßig einfachen, natürlichen, leicht über¬ sehbaren Lebensbedingungen, auf die noch nicht die ungeheure Last einer mehr¬ tausendjährigen Kultur drückte, die noch die Frische und Freude des ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/461>, abgerufen am 23.07.2024.