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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

Sprache ergab, aber den Lehrern und Schülern jede Unbefangenheit in dem
sonst doch ganz natürlichen Schreiben und Sprechen des Lateinischen verdarb,
zu dieser Wendung beigetragen hat, bleibe hier unerörtert. Genug, sie ist
eingetreten, und ein Rückwärts giebt es nicht mehr. Für uns sind die
klassischen Sprachen neben der fortdauernden, weil unvergänglichen formalen
Bedeutung im wesentlichen Mittel, das antike Leben aus seinen Quellen
kennen zu lernen, uns historisch zu orientiren. Gerade deshalb müssen
sie recht gründlich gelernt werden, damit die Lektüre nicht zur Qual und
ihr Zweck nicht verfehlt werde. Denn für den heutigen gebildeten Deutschen
ist in der That die Hauptsache die Orientirung in der ihn umgebenden
Menschenwelt und in der Natur; ist doch der Zusammenhang des Einzelnen
mit dem Ganzen stärker als je geworden, und um sich nur überhaupt hier
zurechtzufinden, um sich ein richtiges Urteil als Grundlage eines richtigen
Handelns zu bilden, muß er sich ein Mas; sachlichen Wissens aneignen, das
frühere Jahrhunderte uicht gefordert haben. Daher auch die immer stärker
auftretende Forderung, durch Anschauungsmittel den alten klassischen und
historischen Unterricht zu immer größerer Lebendigkeit zu entwickeln, unsern
Schülern statt bloßer Worte und Begriffe ein Bild des Gegenstandes zu geben.
Die Sachkenntnis also, das Wissen steht für uns im Vordergrunde, die formale
Gewandtheit als Ziel ist für uns ungenügend, obwohl sie nicht fehlen darf,
aber die rhetorischen Krücken früherer Tage haben ihren Wert für uns verloren,
denn wir fordern eine klare Darstellung, die sich aus der Sache natürlich
ergiebt, sür künstliche Rhetorik haben wir den Sinn eingebüßt. Rein wus,
verba 8Lciucmwr, sagte ein praktischer römischer Staatsmann, M. Poreius
Cato, in einer Zeit, da die Künste der griechischen Beredsamkeit auch in Rom
eindrangen, und Goethes Faust entgegnet dem Satze des büchergelehrten
Stubenhockers Wagner:


Allein der Vortrag macht des Redners Glück

ganz modern:


Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor.

Wer also hente von uns fordert, daß wir in erster Linie Philologen bilden
sollen, wer unsre Schüler ausschließlich beurteilt nach lateinischer und griechischer
Grammatik, wer nicht vielmehr in erster Linie fragt: wie hast du deinen
Schriftsteller verstanden? der legt einen falschen, veralteten Maßstab an unsre
Leistungen, der thut uns also Unrecht, denn das können, wollen und sollen
wir gar nicht mehr leisten.

So steht es heute. Es ist der Abschluß einer langen Entwicklungsreihe.
Manchem, auch manchem Lehrer, mag diese Anerkennung schwer werden, doch
sie ist unvermeidlich, wenn nicht das Gymnasium geschädigt werden und in


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

Sprache ergab, aber den Lehrern und Schülern jede Unbefangenheit in dem
sonst doch ganz natürlichen Schreiben und Sprechen des Lateinischen verdarb,
zu dieser Wendung beigetragen hat, bleibe hier unerörtert. Genug, sie ist
eingetreten, und ein Rückwärts giebt es nicht mehr. Für uns sind die
klassischen Sprachen neben der fortdauernden, weil unvergänglichen formalen
Bedeutung im wesentlichen Mittel, das antike Leben aus seinen Quellen
kennen zu lernen, uns historisch zu orientiren. Gerade deshalb müssen
sie recht gründlich gelernt werden, damit die Lektüre nicht zur Qual und
ihr Zweck nicht verfehlt werde. Denn für den heutigen gebildeten Deutschen
ist in der That die Hauptsache die Orientirung in der ihn umgebenden
Menschenwelt und in der Natur; ist doch der Zusammenhang des Einzelnen
mit dem Ganzen stärker als je geworden, und um sich nur überhaupt hier
zurechtzufinden, um sich ein richtiges Urteil als Grundlage eines richtigen
Handelns zu bilden, muß er sich ein Mas; sachlichen Wissens aneignen, das
frühere Jahrhunderte uicht gefordert haben. Daher auch die immer stärker
auftretende Forderung, durch Anschauungsmittel den alten klassischen und
historischen Unterricht zu immer größerer Lebendigkeit zu entwickeln, unsern
Schülern statt bloßer Worte und Begriffe ein Bild des Gegenstandes zu geben.
Die Sachkenntnis also, das Wissen steht für uns im Vordergrunde, die formale
Gewandtheit als Ziel ist für uns ungenügend, obwohl sie nicht fehlen darf,
aber die rhetorischen Krücken früherer Tage haben ihren Wert für uns verloren,
denn wir fordern eine klare Darstellung, die sich aus der Sache natürlich
ergiebt, sür künstliche Rhetorik haben wir den Sinn eingebüßt. Rein wus,
verba 8Lciucmwr, sagte ein praktischer römischer Staatsmann, M. Poreius
Cato, in einer Zeit, da die Künste der griechischen Beredsamkeit auch in Rom
eindrangen, und Goethes Faust entgegnet dem Satze des büchergelehrten
Stubenhockers Wagner:


Allein der Vortrag macht des Redners Glück

ganz modern:


Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor.

Wer also hente von uns fordert, daß wir in erster Linie Philologen bilden
sollen, wer unsre Schüler ausschließlich beurteilt nach lateinischer und griechischer
Grammatik, wer nicht vielmehr in erster Linie fragt: wie hast du deinen
Schriftsteller verstanden? der legt einen falschen, veralteten Maßstab an unsre
Leistungen, der thut uns also Unrecht, denn das können, wollen und sollen
wir gar nicht mehr leisten.

So steht es heute. Es ist der Abschluß einer langen Entwicklungsreihe.
Manchem, auch manchem Lehrer, mag diese Anerkennung schwer werden, doch
sie ist unvermeidlich, wenn nicht das Gymnasium geschädigt werden und in


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[0460] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart Sprache ergab, aber den Lehrern und Schülern jede Unbefangenheit in dem sonst doch ganz natürlichen Schreiben und Sprechen des Lateinischen verdarb, zu dieser Wendung beigetragen hat, bleibe hier unerörtert. Genug, sie ist eingetreten, und ein Rückwärts giebt es nicht mehr. Für uns sind die klassischen Sprachen neben der fortdauernden, weil unvergänglichen formalen Bedeutung im wesentlichen Mittel, das antike Leben aus seinen Quellen kennen zu lernen, uns historisch zu orientiren. Gerade deshalb müssen sie recht gründlich gelernt werden, damit die Lektüre nicht zur Qual und ihr Zweck nicht verfehlt werde. Denn für den heutigen gebildeten Deutschen ist in der That die Hauptsache die Orientirung in der ihn umgebenden Menschenwelt und in der Natur; ist doch der Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen stärker als je geworden, und um sich nur überhaupt hier zurechtzufinden, um sich ein richtiges Urteil als Grundlage eines richtigen Handelns zu bilden, muß er sich ein Mas; sachlichen Wissens aneignen, das frühere Jahrhunderte uicht gefordert haben. Daher auch die immer stärker auftretende Forderung, durch Anschauungsmittel den alten klassischen und historischen Unterricht zu immer größerer Lebendigkeit zu entwickeln, unsern Schülern statt bloßer Worte und Begriffe ein Bild des Gegenstandes zu geben. Die Sachkenntnis also, das Wissen steht für uns im Vordergrunde, die formale Gewandtheit als Ziel ist für uns ungenügend, obwohl sie nicht fehlen darf, aber die rhetorischen Krücken früherer Tage haben ihren Wert für uns verloren, denn wir fordern eine klare Darstellung, die sich aus der Sache natürlich ergiebt, sür künstliche Rhetorik haben wir den Sinn eingebüßt. Rein wus, verba 8Lciucmwr, sagte ein praktischer römischer Staatsmann, M. Poreius Cato, in einer Zeit, da die Künste der griechischen Beredsamkeit auch in Rom eindrangen, und Goethes Faust entgegnet dem Satze des büchergelehrten Stubenhockers Wagner: Allein der Vortrag macht des Redners Glück ganz modern: Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor. Wer also hente von uns fordert, daß wir in erster Linie Philologen bilden sollen, wer unsre Schüler ausschließlich beurteilt nach lateinischer und griechischer Grammatik, wer nicht vielmehr in erster Linie fragt: wie hast du deinen Schriftsteller verstanden? der legt einen falschen, veralteten Maßstab an unsre Leistungen, der thut uns also Unrecht, denn das können, wollen und sollen wir gar nicht mehr leisten. So steht es heute. Es ist der Abschluß einer langen Entwicklungsreihe. Manchem, auch manchem Lehrer, mag diese Anerkennung schwer werden, doch sie ist unvermeidlich, wenn nicht das Gymnasium geschädigt werden und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/460>, abgerufen am 23.07.2024.