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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

riches festgehalten und sie nur immer nach den wechselnden Bedürfnissen
modifizirt haben? In den beiden ersten Perioden trat das Griechische so
vollständig in den Hintergrund, daß es etwa dieselbe Stellung einnahm wie
heute das Hebräische, als ein Hilfsmittel zum Verständnis des biblischen Ur¬
textes; im Mittelpunkte des gesamten Unterrichtsbetriebes stand das Lateinische.
Denn der alleinige Zweck des altklassischer Unterrichts war die "Imitation,"
die Nachbildung der lateinischen Schriftsteller in Vers und Prosa, sie wurden
also ausgewählt und gelesen schlechthin nur als Stilmuster; der Inhalt war
nur da, um rethorisch und poetisch verwendbare Themen und Beispiele zu
liefern. Erst in der zweiten Periode, in der Zeit des weltmännischen Bildungs¬
ideals, trat, wenigstens an vielen Schulen, neben die lateinische als gleichbe¬
rechtigt die deutsche "Oratorie", der deutsche Aufsatz und die deutsche Versifikation,
als Erfordernisse für den "galanten" Weltmann, und während im sechzehnten
Jahrhundert von einem selbständigen Unterricht in den Realien noch kaum die
Rede gewesen war, drangen diese im siebzehnten aus praktischen Gründen, als
unentbehrliche Nüststücke für den xolitions, in breitem Strome in die Schulen
ein, aber allerdings nur in die wahlfreien "Privatlektionen." Wie genau
entspricht beides den verschiednen Vildungszwecken ihrer Zeit! Wie anders
seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts! Da das Hellenentum
als die Verwirklichung reinen Menschentums galt, so mußte das Griechische
fast ebenbürtig neben das Lateinische treten, und die alten Autoren wurden
nicht mehr wesentlich als stilistische, rhetorische und poetische Vorbilder gelesen,
am wenigsten die griechischen, sondern um durch sie "in den Geist des klassischen
Altertums einzuführen"; sie waren nicht mehr Gegenstände der Nachahmung,
sondern des Studiums. Nur im Lateinischen hielt auch diese Zeit noch an
der Imitation fest, doch nicht mehr aus praktischen Gründen, denn diese waren
verschwunden, seitdem das Lateinische aufgehört hatte, die diplomatische Sprache
und die ausschließliche Sprache der Wissenschaft zu sein, sondern nur noch als
Mittel der geistigen Gymnastik, des logischen Denkens im Reden und Schreiben,
in Vers und Prosa. Zugleich aber wurden die Realien aus wahlfreien Fächern
Pflichtfächer, ihrer wachsenden wissenschaftlichen Durchbildung und praktischen
Wichtigkeit gemäß, und auch die neuern Sprachen verlangten ihre Rechte, je
lebendiger sich der Völkerverkehr gestaltete.

Doch allzuviel hatte diese Zeit vereinigen wollen, und darum wurde die
Ausgabe allmählich unlösbar. Und da jeder praktische Zweck der lateinischen
Imitation, den doch alle frühern Zeiten stets im Auge behalten hatten, ver¬
schwunden war, der andre, die sprachliche und logische Übung, in der Mutter¬
sprache zu erreichen war, so kam in unsern Tagen eine letzte Wendung. In
der Schule siegte endgiltig die "Sachphilologie" über die "Wortphilvlogie."
Inwiefern der Purismus in der praktischen Anwendung des Lateinischen, der
sich aus der immer tiefer eindringenden wissenschaftlichen Erkenntnis der


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

riches festgehalten und sie nur immer nach den wechselnden Bedürfnissen
modifizirt haben? In den beiden ersten Perioden trat das Griechische so
vollständig in den Hintergrund, daß es etwa dieselbe Stellung einnahm wie
heute das Hebräische, als ein Hilfsmittel zum Verständnis des biblischen Ur¬
textes; im Mittelpunkte des gesamten Unterrichtsbetriebes stand das Lateinische.
Denn der alleinige Zweck des altklassischer Unterrichts war die „Imitation,"
die Nachbildung der lateinischen Schriftsteller in Vers und Prosa, sie wurden
also ausgewählt und gelesen schlechthin nur als Stilmuster; der Inhalt war
nur da, um rethorisch und poetisch verwendbare Themen und Beispiele zu
liefern. Erst in der zweiten Periode, in der Zeit des weltmännischen Bildungs¬
ideals, trat, wenigstens an vielen Schulen, neben die lateinische als gleichbe¬
rechtigt die deutsche „Oratorie", der deutsche Aufsatz und die deutsche Versifikation,
als Erfordernisse für den „galanten" Weltmann, und während im sechzehnten
Jahrhundert von einem selbständigen Unterricht in den Realien noch kaum die
Rede gewesen war, drangen diese im siebzehnten aus praktischen Gründen, als
unentbehrliche Nüststücke für den xolitions, in breitem Strome in die Schulen
ein, aber allerdings nur in die wahlfreien „Privatlektionen." Wie genau
entspricht beides den verschiednen Vildungszwecken ihrer Zeit! Wie anders
seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts! Da das Hellenentum
als die Verwirklichung reinen Menschentums galt, so mußte das Griechische
fast ebenbürtig neben das Lateinische treten, und die alten Autoren wurden
nicht mehr wesentlich als stilistische, rhetorische und poetische Vorbilder gelesen,
am wenigsten die griechischen, sondern um durch sie „in den Geist des klassischen
Altertums einzuführen"; sie waren nicht mehr Gegenstände der Nachahmung,
sondern des Studiums. Nur im Lateinischen hielt auch diese Zeit noch an
der Imitation fest, doch nicht mehr aus praktischen Gründen, denn diese waren
verschwunden, seitdem das Lateinische aufgehört hatte, die diplomatische Sprache
und die ausschließliche Sprache der Wissenschaft zu sein, sondern nur noch als
Mittel der geistigen Gymnastik, des logischen Denkens im Reden und Schreiben,
in Vers und Prosa. Zugleich aber wurden die Realien aus wahlfreien Fächern
Pflichtfächer, ihrer wachsenden wissenschaftlichen Durchbildung und praktischen
Wichtigkeit gemäß, und auch die neuern Sprachen verlangten ihre Rechte, je
lebendiger sich der Völkerverkehr gestaltete.

Doch allzuviel hatte diese Zeit vereinigen wollen, und darum wurde die
Ausgabe allmählich unlösbar. Und da jeder praktische Zweck der lateinischen
Imitation, den doch alle frühern Zeiten stets im Auge behalten hatten, ver¬
schwunden war, der andre, die sprachliche und logische Übung, in der Mutter¬
sprache zu erreichen war, so kam in unsern Tagen eine letzte Wendung. In
der Schule siegte endgiltig die „Sachphilologie" über die „Wortphilvlogie."
Inwiefern der Purismus in der praktischen Anwendung des Lateinischen, der
sich aus der immer tiefer eindringenden wissenschaftlichen Erkenntnis der


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[0459] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart riches festgehalten und sie nur immer nach den wechselnden Bedürfnissen modifizirt haben? In den beiden ersten Perioden trat das Griechische so vollständig in den Hintergrund, daß es etwa dieselbe Stellung einnahm wie heute das Hebräische, als ein Hilfsmittel zum Verständnis des biblischen Ur¬ textes; im Mittelpunkte des gesamten Unterrichtsbetriebes stand das Lateinische. Denn der alleinige Zweck des altklassischer Unterrichts war die „Imitation," die Nachbildung der lateinischen Schriftsteller in Vers und Prosa, sie wurden also ausgewählt und gelesen schlechthin nur als Stilmuster; der Inhalt war nur da, um rethorisch und poetisch verwendbare Themen und Beispiele zu liefern. Erst in der zweiten Periode, in der Zeit des weltmännischen Bildungs¬ ideals, trat, wenigstens an vielen Schulen, neben die lateinische als gleichbe¬ rechtigt die deutsche „Oratorie", der deutsche Aufsatz und die deutsche Versifikation, als Erfordernisse für den „galanten" Weltmann, und während im sechzehnten Jahrhundert von einem selbständigen Unterricht in den Realien noch kaum die Rede gewesen war, drangen diese im siebzehnten aus praktischen Gründen, als unentbehrliche Nüststücke für den xolitions, in breitem Strome in die Schulen ein, aber allerdings nur in die wahlfreien „Privatlektionen." Wie genau entspricht beides den verschiednen Vildungszwecken ihrer Zeit! Wie anders seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts! Da das Hellenentum als die Verwirklichung reinen Menschentums galt, so mußte das Griechische fast ebenbürtig neben das Lateinische treten, und die alten Autoren wurden nicht mehr wesentlich als stilistische, rhetorische und poetische Vorbilder gelesen, am wenigsten die griechischen, sondern um durch sie „in den Geist des klassischen Altertums einzuführen"; sie waren nicht mehr Gegenstände der Nachahmung, sondern des Studiums. Nur im Lateinischen hielt auch diese Zeit noch an der Imitation fest, doch nicht mehr aus praktischen Gründen, denn diese waren verschwunden, seitdem das Lateinische aufgehört hatte, die diplomatische Sprache und die ausschließliche Sprache der Wissenschaft zu sein, sondern nur noch als Mittel der geistigen Gymnastik, des logischen Denkens im Reden und Schreiben, in Vers und Prosa. Zugleich aber wurden die Realien aus wahlfreien Fächern Pflichtfächer, ihrer wachsenden wissenschaftlichen Durchbildung und praktischen Wichtigkeit gemäß, und auch die neuern Sprachen verlangten ihre Rechte, je lebendiger sich der Völkerverkehr gestaltete. Doch allzuviel hatte diese Zeit vereinigen wollen, und darum wurde die Ausgabe allmählich unlösbar. Und da jeder praktische Zweck der lateinischen Imitation, den doch alle frühern Zeiten stets im Auge behalten hatten, ver¬ schwunden war, der andre, die sprachliche und logische Übung, in der Mutter¬ sprache zu erreichen war, so kam in unsern Tagen eine letzte Wendung. In der Schule siegte endgiltig die „Sachphilologie" über die „Wortphilvlogie." Inwiefern der Purismus in der praktischen Anwendung des Lateinischen, der sich aus der immer tiefer eindringenden wissenschaftlichen Erkenntnis der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/459>, abgerufen am 23.07.2024.