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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

gebracht, in den Dienst dieses Staats trat und damit seine alte Macht in viel
wirksamerer Form zurückgewann, stellte er das ihm in seiner neuen Aufgabe
entsprechende Bildungsideal auf und nötigte es auch den Gelehrtenschulen
auf, wenn sie nicht den Zusammenhang mit dem Leben gänzlich verlieren
und ganz hinter den neuen Ritterakademien zurücktreten wollten. Aber dieser
fürstliche Staat gründete sich so ausschließlich auf Heer und Beamtentum, er
betrachtete das ganze Volk so sehr nur als Regierungsobjekt, er verstattete
ihm so wenig thätigen Anteil am Staate, daß er sich die Gebildeten inner¬
lich völlig entfremdete, und sie allmählich jedes Verständnis und jede Teil¬
nahme für das Leben des sie umschließenden Staats verloren. Da es nun
eine deutsche Nation in unserm Sinne noch gar nicht gab, und da sich um
die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zum erstenmale die antike Hellenen-
welt in Kunst und Dichtung ohne römische Einkleidung vor den entzückten
Augen der Deutschen entfaltete, so stieg ein neues Vildungsidecil empor: der
philosophisch-ästhetisch gebildete Weltbürger, der, hoch erhaben über das klein¬
liche alltägliche Treiben ringsum, in sich die "reine Menschlichkeit" zu ver¬
wirklichen strebte, deren Urbild er im Griechentum sah, und sich als Glied
nicht seines Volks, sondern einer großen, stillen, über die ganze gebildete Welt
sich erstreckenden Gemeinschaft fühlte. Ans dieser Geistesrichtung ergab sich
die wundergleiche Blüte unsrer klassischen Litteratur mitten in dem traurigsten
Niedergange unsers alten Reichs und in einer schweren europäischen Krisis, die
den Weltteil bis in seine Grundfesten erschütterte, aber auch die innere Wehr-
losigkeit unsrer gebildeten Kreise gegenüber der einbrechenden Fremdherrschaft.
Erst als in dem größten deutschen Staate aus den alten stolzen Traditionen
und aus dem menschlichen Zorn über die Unterdrückung die Vaterlandsliebe
kraftvoll aufstieg und auch die Gebildeten mit sich fortriß, gelang die Be¬
freiung; doch die nachfolgende matte Zeit war nicht geeignet, das alte, hohe
Bildungsideal durch ein neues zu verdrängen, es eroberte vielmehr im Zeichen
des "Neuhumanismus" auch unsre höhern Schulen. Aber als sich nun doch
das politische Interesse gerade der Gebildeten kräftiger und kräftiger regte,
als sich mit der Bewunderung des klassischen Altertums das innige Versenken
in die Tiefen des eignen Volkstums verband, als die Gelehrten die Führer
im Kampfe um unsre Einheit wurden, und als endlich nicht sie, aber Staats¬
männer und Helden dies Ideal verwirklichten, das sie aufgestellt hatten, da
mußte sich auch das deutsche Bildungsideal ändern. Heute ist es der wissen¬
schaftlich gebildete wehrhafte Staatsbürger, denn wir haben jetzt den natio¬
nalen, monarchisch-konstitutionellen Staat, der sich auf das lebendige Interesse
und die werkthütige Teilnahme seiner Glieder, vor allem der gebildeten Stände,
gründet.

Ist es da nun nicht merkwürdig, daß die Gymnasien durch alle Wand¬
lungen ihrer Aufgaben hindurch an der antik-klassischen Grundlage ihres Unter-


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart

gebracht, in den Dienst dieses Staats trat und damit seine alte Macht in viel
wirksamerer Form zurückgewann, stellte er das ihm in seiner neuen Aufgabe
entsprechende Bildungsideal auf und nötigte es auch den Gelehrtenschulen
auf, wenn sie nicht den Zusammenhang mit dem Leben gänzlich verlieren
und ganz hinter den neuen Ritterakademien zurücktreten wollten. Aber dieser
fürstliche Staat gründete sich so ausschließlich auf Heer und Beamtentum, er
betrachtete das ganze Volk so sehr nur als Regierungsobjekt, er verstattete
ihm so wenig thätigen Anteil am Staate, daß er sich die Gebildeten inner¬
lich völlig entfremdete, und sie allmählich jedes Verständnis und jede Teil¬
nahme für das Leben des sie umschließenden Staats verloren. Da es nun
eine deutsche Nation in unserm Sinne noch gar nicht gab, und da sich um
die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zum erstenmale die antike Hellenen-
welt in Kunst und Dichtung ohne römische Einkleidung vor den entzückten
Augen der Deutschen entfaltete, so stieg ein neues Vildungsidecil empor: der
philosophisch-ästhetisch gebildete Weltbürger, der, hoch erhaben über das klein¬
liche alltägliche Treiben ringsum, in sich die „reine Menschlichkeit" zu ver¬
wirklichen strebte, deren Urbild er im Griechentum sah, und sich als Glied
nicht seines Volks, sondern einer großen, stillen, über die ganze gebildete Welt
sich erstreckenden Gemeinschaft fühlte. Ans dieser Geistesrichtung ergab sich
die wundergleiche Blüte unsrer klassischen Litteratur mitten in dem traurigsten
Niedergange unsers alten Reichs und in einer schweren europäischen Krisis, die
den Weltteil bis in seine Grundfesten erschütterte, aber auch die innere Wehr-
losigkeit unsrer gebildeten Kreise gegenüber der einbrechenden Fremdherrschaft.
Erst als in dem größten deutschen Staate aus den alten stolzen Traditionen
und aus dem menschlichen Zorn über die Unterdrückung die Vaterlandsliebe
kraftvoll aufstieg und auch die Gebildeten mit sich fortriß, gelang die Be¬
freiung; doch die nachfolgende matte Zeit war nicht geeignet, das alte, hohe
Bildungsideal durch ein neues zu verdrängen, es eroberte vielmehr im Zeichen
des „Neuhumanismus" auch unsre höhern Schulen. Aber als sich nun doch
das politische Interesse gerade der Gebildeten kräftiger und kräftiger regte,
als sich mit der Bewunderung des klassischen Altertums das innige Versenken
in die Tiefen des eignen Volkstums verband, als die Gelehrten die Führer
im Kampfe um unsre Einheit wurden, und als endlich nicht sie, aber Staats¬
männer und Helden dies Ideal verwirklichten, das sie aufgestellt hatten, da
mußte sich auch das deutsche Bildungsideal ändern. Heute ist es der wissen¬
schaftlich gebildete wehrhafte Staatsbürger, denn wir haben jetzt den natio¬
nalen, monarchisch-konstitutionellen Staat, der sich auf das lebendige Interesse
und die werkthütige Teilnahme seiner Glieder, vor allem der gebildeten Stände,
gründet.

Ist es da nun nicht merkwürdig, daß die Gymnasien durch alle Wand¬
lungen ihrer Aufgaben hindurch an der antik-klassischen Grundlage ihres Unter-


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[0458] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart gebracht, in den Dienst dieses Staats trat und damit seine alte Macht in viel wirksamerer Form zurückgewann, stellte er das ihm in seiner neuen Aufgabe entsprechende Bildungsideal auf und nötigte es auch den Gelehrtenschulen auf, wenn sie nicht den Zusammenhang mit dem Leben gänzlich verlieren und ganz hinter den neuen Ritterakademien zurücktreten wollten. Aber dieser fürstliche Staat gründete sich so ausschließlich auf Heer und Beamtentum, er betrachtete das ganze Volk so sehr nur als Regierungsobjekt, er verstattete ihm so wenig thätigen Anteil am Staate, daß er sich die Gebildeten inner¬ lich völlig entfremdete, und sie allmählich jedes Verständnis und jede Teil¬ nahme für das Leben des sie umschließenden Staats verloren. Da es nun eine deutsche Nation in unserm Sinne noch gar nicht gab, und da sich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zum erstenmale die antike Hellenen- welt in Kunst und Dichtung ohne römische Einkleidung vor den entzückten Augen der Deutschen entfaltete, so stieg ein neues Vildungsidecil empor: der philosophisch-ästhetisch gebildete Weltbürger, der, hoch erhaben über das klein¬ liche alltägliche Treiben ringsum, in sich die „reine Menschlichkeit" zu ver¬ wirklichen strebte, deren Urbild er im Griechentum sah, und sich als Glied nicht seines Volks, sondern einer großen, stillen, über die ganze gebildete Welt sich erstreckenden Gemeinschaft fühlte. Ans dieser Geistesrichtung ergab sich die wundergleiche Blüte unsrer klassischen Litteratur mitten in dem traurigsten Niedergange unsers alten Reichs und in einer schweren europäischen Krisis, die den Weltteil bis in seine Grundfesten erschütterte, aber auch die innere Wehr- losigkeit unsrer gebildeten Kreise gegenüber der einbrechenden Fremdherrschaft. Erst als in dem größten deutschen Staate aus den alten stolzen Traditionen und aus dem menschlichen Zorn über die Unterdrückung die Vaterlandsliebe kraftvoll aufstieg und auch die Gebildeten mit sich fortriß, gelang die Be¬ freiung; doch die nachfolgende matte Zeit war nicht geeignet, das alte, hohe Bildungsideal durch ein neues zu verdrängen, es eroberte vielmehr im Zeichen des „Neuhumanismus" auch unsre höhern Schulen. Aber als sich nun doch das politische Interesse gerade der Gebildeten kräftiger und kräftiger regte, als sich mit der Bewunderung des klassischen Altertums das innige Versenken in die Tiefen des eignen Volkstums verband, als die Gelehrten die Führer im Kampfe um unsre Einheit wurden, und als endlich nicht sie, aber Staats¬ männer und Helden dies Ideal verwirklichten, das sie aufgestellt hatten, da mußte sich auch das deutsche Bildungsideal ändern. Heute ist es der wissen¬ schaftlich gebildete wehrhafte Staatsbürger, denn wir haben jetzt den natio¬ nalen, monarchisch-konstitutionellen Staat, der sich auf das lebendige Interesse und die werkthütige Teilnahme seiner Glieder, vor allem der gebildeten Stände, gründet. Ist es da nun nicht merkwürdig, daß die Gymnasien durch alle Wand¬ lungen ihrer Aufgaben hindurch an der antik-klassischen Grundlage ihres Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/458>, abgerufen am 23.07.2024.