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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Interesse

bleibt, daß nämlich bei Lichte betrachtet jeder Recht hat. Und so geht es
denn anch im Reichstage, wo die Intelligenz des Volkes versammelt ist, nicht
viel gescheiter zu als in jener Dorfschreibstube: jeder Abgeordnete, jede Partei,
jeder Minister, jede Regierung, auch die allerreaktivnärste, hat Recht -- von
ihrem Standpunkt aus. Und wenn sie niedergestimmt werden mit erdrückender
Mehrheit, sie geben alle niemals zu, daß sie Unrecht gehabt haben, sie weichen
alle nur der Gewalt, die bekanntlich vor Recht geht, weil die Gewalt das
allerpersönlichste Interesse vertritt.

Jede volkswirtschaftliche Frage bildet so gut wie jede subjektive Meinung
eine weiche Masse, die von den verschiednen Parteien in verschiedne Formen
geknetet wird, ohne daß sich diese Masse selbst irgendwie ändert. Dem Gesetz
von der Erhaltung der Kraft konnte mau das Gesetz von der Erhaltung der
Materie gegenüberstellen, die nur andre Formen annimmt im Laufe der Zeiten,
und zwar durch Menschen, die immer dieselben Egoisten bleiben im Laufe der
Zeiten, trotz Gymnasien, Universitäten und sonstiger Vildungsaktiengcsellschaften
mit "beschränkter Haftpflicht." Die Parteiinteressen treten übrigens gerade in
unsrer Zeit der allgemeinen Gährung so unverhüllt auf, daß sie in nicht all-
zuferner Zeit auch von ausgesprochnen Jnteresfenparteien vertreten sein werden,
die das ganz nebensächliche politische Mäntelchen dann völlig abwerfen werden,
das sie jetzt noch tragen. Denn was will schon heutzutage der politische
Standpunkt einer Partei gegen ihre wirtschaftliche Richtung besagen? Ob ein
Parteimann etwas mehr oder weniger demokratisch angehaucht ist und z. B.
das Gottesgnadentum der Könige anzweifelt, oder ob er für den reinen Par¬
lamentarismus schwärmt, der die Minister knickt, wenn sie keine Mehrheit mehr
hinter sich haben, das ist doch schon heutzutage von nebensächlicher Bedeutung.
Es wird auch nicht lange mehr dauern, dann können auch religiöse Fragen
keine Partei mehr zusammenhalten, dann wird auch der ultramontane Turm
in wirtschaftliche Fraktionen zerbröckeln. Dann werden wir thatsächlich, wie
das auch ganz naturgemäß und folgerichtig ist, nur zwei Parteien haben,
überall in Stadt und Staat. Man hat sich an der Wahlurne einfach die
Frage vorzulegen: Gehörst du zu den Leuten, die Geld haben, oder gehörst
du zu den Leuten, die kein Geld haben? Wenn alle die verwickelten, spitz¬
findigen, politischen Fragen allmählich zu einer ganz einfachen, gemeinverständ¬
lichen Magenfrage zusammenschrumpfen, über die jeder einzelne ein verblüffend
fachmännisches Urteil hat, dann werdeu unsre WalMmpfe und unsre parla¬
mentarische" Kämpfe ebenfalls eine ganz simple Gestalt annehmen. Auch hier
hat wieder, wie zu allen Zeiten, die Mehrheit, das heißt die Gewalt. Recht.
Es kommt lediglich darauf an, ob diese Mehrheit auf Seiten der Satter oder
der Hungrigen ist. Und wenn sie erst einmal alle satt find, wenn also das
Ideal auf dieser Welt erreicht ist, dann giebt es auch keine Mehrheit, keine
Gewalt und kein Recht mehr, es giebt dann auch keine Interessen mehr, weder


Interesse

bleibt, daß nämlich bei Lichte betrachtet jeder Recht hat. Und so geht es
denn anch im Reichstage, wo die Intelligenz des Volkes versammelt ist, nicht
viel gescheiter zu als in jener Dorfschreibstube: jeder Abgeordnete, jede Partei,
jeder Minister, jede Regierung, auch die allerreaktivnärste, hat Recht — von
ihrem Standpunkt aus. Und wenn sie niedergestimmt werden mit erdrückender
Mehrheit, sie geben alle niemals zu, daß sie Unrecht gehabt haben, sie weichen
alle nur der Gewalt, die bekanntlich vor Recht geht, weil die Gewalt das
allerpersönlichste Interesse vertritt.

Jede volkswirtschaftliche Frage bildet so gut wie jede subjektive Meinung
eine weiche Masse, die von den verschiednen Parteien in verschiedne Formen
geknetet wird, ohne daß sich diese Masse selbst irgendwie ändert. Dem Gesetz
von der Erhaltung der Kraft konnte mau das Gesetz von der Erhaltung der
Materie gegenüberstellen, die nur andre Formen annimmt im Laufe der Zeiten,
und zwar durch Menschen, die immer dieselben Egoisten bleiben im Laufe der
Zeiten, trotz Gymnasien, Universitäten und sonstiger Vildungsaktiengcsellschaften
mit „beschränkter Haftpflicht." Die Parteiinteressen treten übrigens gerade in
unsrer Zeit der allgemeinen Gährung so unverhüllt auf, daß sie in nicht all-
zuferner Zeit auch von ausgesprochnen Jnteresfenparteien vertreten sein werden,
die das ganz nebensächliche politische Mäntelchen dann völlig abwerfen werden,
das sie jetzt noch tragen. Denn was will schon heutzutage der politische
Standpunkt einer Partei gegen ihre wirtschaftliche Richtung besagen? Ob ein
Parteimann etwas mehr oder weniger demokratisch angehaucht ist und z. B.
das Gottesgnadentum der Könige anzweifelt, oder ob er für den reinen Par¬
lamentarismus schwärmt, der die Minister knickt, wenn sie keine Mehrheit mehr
hinter sich haben, das ist doch schon heutzutage von nebensächlicher Bedeutung.
Es wird auch nicht lange mehr dauern, dann können auch religiöse Fragen
keine Partei mehr zusammenhalten, dann wird auch der ultramontane Turm
in wirtschaftliche Fraktionen zerbröckeln. Dann werden wir thatsächlich, wie
das auch ganz naturgemäß und folgerichtig ist, nur zwei Parteien haben,
überall in Stadt und Staat. Man hat sich an der Wahlurne einfach die
Frage vorzulegen: Gehörst du zu den Leuten, die Geld haben, oder gehörst
du zu den Leuten, die kein Geld haben? Wenn alle die verwickelten, spitz¬
findigen, politischen Fragen allmählich zu einer ganz einfachen, gemeinverständ¬
lichen Magenfrage zusammenschrumpfen, über die jeder einzelne ein verblüffend
fachmännisches Urteil hat, dann werdeu unsre WalMmpfe und unsre parla¬
mentarische» Kämpfe ebenfalls eine ganz simple Gestalt annehmen. Auch hier
hat wieder, wie zu allen Zeiten, die Mehrheit, das heißt die Gewalt. Recht.
Es kommt lediglich darauf an, ob diese Mehrheit auf Seiten der Satter oder
der Hungrigen ist. Und wenn sie erst einmal alle satt find, wenn also das
Ideal auf dieser Welt erreicht ist, dann giebt es auch keine Mehrheit, keine
Gewalt und kein Recht mehr, es giebt dann auch keine Interessen mehr, weder


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[0447] Interesse bleibt, daß nämlich bei Lichte betrachtet jeder Recht hat. Und so geht es denn anch im Reichstage, wo die Intelligenz des Volkes versammelt ist, nicht viel gescheiter zu als in jener Dorfschreibstube: jeder Abgeordnete, jede Partei, jeder Minister, jede Regierung, auch die allerreaktivnärste, hat Recht — von ihrem Standpunkt aus. Und wenn sie niedergestimmt werden mit erdrückender Mehrheit, sie geben alle niemals zu, daß sie Unrecht gehabt haben, sie weichen alle nur der Gewalt, die bekanntlich vor Recht geht, weil die Gewalt das allerpersönlichste Interesse vertritt. Jede volkswirtschaftliche Frage bildet so gut wie jede subjektive Meinung eine weiche Masse, die von den verschiednen Parteien in verschiedne Formen geknetet wird, ohne daß sich diese Masse selbst irgendwie ändert. Dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft konnte mau das Gesetz von der Erhaltung der Materie gegenüberstellen, die nur andre Formen annimmt im Laufe der Zeiten, und zwar durch Menschen, die immer dieselben Egoisten bleiben im Laufe der Zeiten, trotz Gymnasien, Universitäten und sonstiger Vildungsaktiengcsellschaften mit „beschränkter Haftpflicht." Die Parteiinteressen treten übrigens gerade in unsrer Zeit der allgemeinen Gährung so unverhüllt auf, daß sie in nicht all- zuferner Zeit auch von ausgesprochnen Jnteresfenparteien vertreten sein werden, die das ganz nebensächliche politische Mäntelchen dann völlig abwerfen werden, das sie jetzt noch tragen. Denn was will schon heutzutage der politische Standpunkt einer Partei gegen ihre wirtschaftliche Richtung besagen? Ob ein Parteimann etwas mehr oder weniger demokratisch angehaucht ist und z. B. das Gottesgnadentum der Könige anzweifelt, oder ob er für den reinen Par¬ lamentarismus schwärmt, der die Minister knickt, wenn sie keine Mehrheit mehr hinter sich haben, das ist doch schon heutzutage von nebensächlicher Bedeutung. Es wird auch nicht lange mehr dauern, dann können auch religiöse Fragen keine Partei mehr zusammenhalten, dann wird auch der ultramontane Turm in wirtschaftliche Fraktionen zerbröckeln. Dann werden wir thatsächlich, wie das auch ganz naturgemäß und folgerichtig ist, nur zwei Parteien haben, überall in Stadt und Staat. Man hat sich an der Wahlurne einfach die Frage vorzulegen: Gehörst du zu den Leuten, die Geld haben, oder gehörst du zu den Leuten, die kein Geld haben? Wenn alle die verwickelten, spitz¬ findigen, politischen Fragen allmählich zu einer ganz einfachen, gemeinverständ¬ lichen Magenfrage zusammenschrumpfen, über die jeder einzelne ein verblüffend fachmännisches Urteil hat, dann werdeu unsre WalMmpfe und unsre parla¬ mentarische» Kämpfe ebenfalls eine ganz simple Gestalt annehmen. Auch hier hat wieder, wie zu allen Zeiten, die Mehrheit, das heißt die Gewalt. Recht. Es kommt lediglich darauf an, ob diese Mehrheit auf Seiten der Satter oder der Hungrigen ist. Und wenn sie erst einmal alle satt find, wenn also das Ideal auf dieser Welt erreicht ist, dann giebt es auch keine Mehrheit, keine Gewalt und kein Recht mehr, es giebt dann auch keine Interessen mehr, weder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/447>, abgerufen am 23.07.2024.