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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Interesse

in dem, was wir selbst gern wünschen. Unsre Gegner betrachten eben alles
von einem andern Jnteressenstandpunkt als unsre "politischen Freunde," und
deshalb finden sie die wunden Pnnkte unsers eignen Standpunktes so leicht
heraus. Was heißt also politischer Freund oder politischer Gegner! Wir
sind allzumal Interessenten, ganz persönliche Interessenten, die von dem Egois¬
mus als der einzigen Lebensenergie getrieben werden. Und weil wir das
sind, verstehen wir uns auch so oft nicht, können wir uns anch so oft gar
nicht verstehen. Wenn man sich aber nicht versteht, kann man sich auch nicht
belehren oder überzeugen, man wird sich daher streiten, beschuldigen und
chikaniren, und^dann bekommen die Amts-, Land- und Oberverwaltungsgerichte
zu thun. Die sollen dann sagen, wer Recht hat. Ist wohl schon jemals von
einem Menschen, der von diesen Gerichten mit seiner Klage abgewiesen wurde,
die Gerechtigkeit des Spruchs anerkannt worden? Nein, es ist ihnen allen
das schreiendste Unrecht geschehen, und wenn es zwanzig Instanzen gäbe, so
würden sie alle angerufen werden. Um was handelt es sich bei allen parla¬
mentarischen Debatten? Doch nur darum, daß die verschiednen Parteien ihre
verschiednen Interessen ins Feuer führen und sich vergeblich einander zu über¬
reden suchen. Das Ergebnis solcher Debatten ist dann stets, daß man schlie߬
lich "zur Abstimmung schreiten" muß, was doch nur ein ganz roher Gewaltakt
ist: eine Vergewaltigung der Minderheit dnrch die Mehrheit. Für jeden
Menschen ist sein Interesse auch sein Recht, und deshalb hat jeder Interessent
Recht, und zwar so lange, als ihm dieses Recht nicht dnrch Gewalt streitig
gemacht wird. Weil nun die Menschen naturgemäß von ihrem Standpunkt
alle Recht haben, so ist ihnen auch nichts recht zu machen. Mir fällt da ein
hübsches Geschichtchen ein, das diesen so naturgemäßen und echt menschlichen
Nechthaberstandpnnkt, an dem keine Religion und kein soziales Beglückungs¬
system viel ändern wird, erläutert. In einer Ortschaft, wo der Vorsteher ge¬
storben war, hatte der neue Vorsteher den alten Schreiber übernommen. Als
der erste Rechtsstreit vor das neue Forum kam, nahm er folgenden Verlauf.
Nachdem die eine Partei ihre Sache von ihrem Standpunkt aus erzählt und
mit Gründen belegt hat, streicht sich der neue Vorsteher den Bart und sagt
nach einigem Nachdenken mit wichtiger Miene zu dem alten erfahrnen Schreiber:
"Der Maun hat Recht." Hierauf macht auch die Gegenpartei dem Vorsteher
die Sache plausibel und weiß dabei alles in eine für sich so günstige Beleuch¬
tung zu rücken, daß sich der Vorsteher wiederum nachdenklich den Bart streicht
und denn zu seinem Schreiber sagt: "Der Mann hat auch Recht." "Aber.
Herr Vorsteher, nimmt hierauf der alte Schreiber das Wort, es können doch
unmöglich beide Parteien Recht haben, wie sollen wir denn da zu einem Ur¬
teilsspruch kommen?" Da streicht sich der Vorsteher zum drittenmal nach¬
denklich den Bart und spricht: "Das ist wahr. Sie haben anch Recht."

Der neue Vorsteher hatte eine alte Entdeckung gemacht, die ewig neu


Interesse

in dem, was wir selbst gern wünschen. Unsre Gegner betrachten eben alles
von einem andern Jnteressenstandpunkt als unsre „politischen Freunde," und
deshalb finden sie die wunden Pnnkte unsers eignen Standpunktes so leicht
heraus. Was heißt also politischer Freund oder politischer Gegner! Wir
sind allzumal Interessenten, ganz persönliche Interessenten, die von dem Egois¬
mus als der einzigen Lebensenergie getrieben werden. Und weil wir das
sind, verstehen wir uns auch so oft nicht, können wir uns anch so oft gar
nicht verstehen. Wenn man sich aber nicht versteht, kann man sich auch nicht
belehren oder überzeugen, man wird sich daher streiten, beschuldigen und
chikaniren, und^dann bekommen die Amts-, Land- und Oberverwaltungsgerichte
zu thun. Die sollen dann sagen, wer Recht hat. Ist wohl schon jemals von
einem Menschen, der von diesen Gerichten mit seiner Klage abgewiesen wurde,
die Gerechtigkeit des Spruchs anerkannt worden? Nein, es ist ihnen allen
das schreiendste Unrecht geschehen, und wenn es zwanzig Instanzen gäbe, so
würden sie alle angerufen werden. Um was handelt es sich bei allen parla¬
mentarischen Debatten? Doch nur darum, daß die verschiednen Parteien ihre
verschiednen Interessen ins Feuer führen und sich vergeblich einander zu über¬
reden suchen. Das Ergebnis solcher Debatten ist dann stets, daß man schlie߬
lich „zur Abstimmung schreiten" muß, was doch nur ein ganz roher Gewaltakt
ist: eine Vergewaltigung der Minderheit dnrch die Mehrheit. Für jeden
Menschen ist sein Interesse auch sein Recht, und deshalb hat jeder Interessent
Recht, und zwar so lange, als ihm dieses Recht nicht dnrch Gewalt streitig
gemacht wird. Weil nun die Menschen naturgemäß von ihrem Standpunkt
alle Recht haben, so ist ihnen auch nichts recht zu machen. Mir fällt da ein
hübsches Geschichtchen ein, das diesen so naturgemäßen und echt menschlichen
Nechthaberstandpnnkt, an dem keine Religion und kein soziales Beglückungs¬
system viel ändern wird, erläutert. In einer Ortschaft, wo der Vorsteher ge¬
storben war, hatte der neue Vorsteher den alten Schreiber übernommen. Als
der erste Rechtsstreit vor das neue Forum kam, nahm er folgenden Verlauf.
Nachdem die eine Partei ihre Sache von ihrem Standpunkt aus erzählt und
mit Gründen belegt hat, streicht sich der neue Vorsteher den Bart und sagt
nach einigem Nachdenken mit wichtiger Miene zu dem alten erfahrnen Schreiber:
„Der Maun hat Recht." Hierauf macht auch die Gegenpartei dem Vorsteher
die Sache plausibel und weiß dabei alles in eine für sich so günstige Beleuch¬
tung zu rücken, daß sich der Vorsteher wiederum nachdenklich den Bart streicht
und denn zu seinem Schreiber sagt: „Der Mann hat auch Recht." „Aber.
Herr Vorsteher, nimmt hierauf der alte Schreiber das Wort, es können doch
unmöglich beide Parteien Recht haben, wie sollen wir denn da zu einem Ur¬
teilsspruch kommen?" Da streicht sich der Vorsteher zum drittenmal nach¬
denklich den Bart und spricht: „Das ist wahr. Sie haben anch Recht."

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[0446] Interesse in dem, was wir selbst gern wünschen. Unsre Gegner betrachten eben alles von einem andern Jnteressenstandpunkt als unsre „politischen Freunde," und deshalb finden sie die wunden Pnnkte unsers eignen Standpunktes so leicht heraus. Was heißt also politischer Freund oder politischer Gegner! Wir sind allzumal Interessenten, ganz persönliche Interessenten, die von dem Egois¬ mus als der einzigen Lebensenergie getrieben werden. Und weil wir das sind, verstehen wir uns auch so oft nicht, können wir uns anch so oft gar nicht verstehen. Wenn man sich aber nicht versteht, kann man sich auch nicht belehren oder überzeugen, man wird sich daher streiten, beschuldigen und chikaniren, und^dann bekommen die Amts-, Land- und Oberverwaltungsgerichte zu thun. Die sollen dann sagen, wer Recht hat. Ist wohl schon jemals von einem Menschen, der von diesen Gerichten mit seiner Klage abgewiesen wurde, die Gerechtigkeit des Spruchs anerkannt worden? Nein, es ist ihnen allen das schreiendste Unrecht geschehen, und wenn es zwanzig Instanzen gäbe, so würden sie alle angerufen werden. Um was handelt es sich bei allen parla¬ mentarischen Debatten? Doch nur darum, daß die verschiednen Parteien ihre verschiednen Interessen ins Feuer führen und sich vergeblich einander zu über¬ reden suchen. Das Ergebnis solcher Debatten ist dann stets, daß man schlie߬ lich „zur Abstimmung schreiten" muß, was doch nur ein ganz roher Gewaltakt ist: eine Vergewaltigung der Minderheit dnrch die Mehrheit. Für jeden Menschen ist sein Interesse auch sein Recht, und deshalb hat jeder Interessent Recht, und zwar so lange, als ihm dieses Recht nicht dnrch Gewalt streitig gemacht wird. Weil nun die Menschen naturgemäß von ihrem Standpunkt alle Recht haben, so ist ihnen auch nichts recht zu machen. Mir fällt da ein hübsches Geschichtchen ein, das diesen so naturgemäßen und echt menschlichen Nechthaberstandpnnkt, an dem keine Religion und kein soziales Beglückungs¬ system viel ändern wird, erläutert. In einer Ortschaft, wo der Vorsteher ge¬ storben war, hatte der neue Vorsteher den alten Schreiber übernommen. Als der erste Rechtsstreit vor das neue Forum kam, nahm er folgenden Verlauf. Nachdem die eine Partei ihre Sache von ihrem Standpunkt aus erzählt und mit Gründen belegt hat, streicht sich der neue Vorsteher den Bart und sagt nach einigem Nachdenken mit wichtiger Miene zu dem alten erfahrnen Schreiber: „Der Maun hat Recht." Hierauf macht auch die Gegenpartei dem Vorsteher die Sache plausibel und weiß dabei alles in eine für sich so günstige Beleuch¬ tung zu rücken, daß sich der Vorsteher wiederum nachdenklich den Bart streicht und denn zu seinem Schreiber sagt: „Der Mann hat auch Recht." „Aber. Herr Vorsteher, nimmt hierauf der alte Schreiber das Wort, es können doch unmöglich beide Parteien Recht haben, wie sollen wir denn da zu einem Ur¬ teilsspruch kommen?" Da streicht sich der Vorsteher zum drittenmal nach¬ denklich den Bart und spricht: „Das ist wahr. Sie haben anch Recht." Der neue Vorsteher hatte eine alte Entdeckung gemacht, die ewig neu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/446>, abgerufen am 23.07.2024.