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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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notwendig die Außenwelt beurteilen. Fromme werden sich wahrscheinlich über
diese Ansicht entsetzen. Aber wenn wir die Triebfedern des menschlichen Han¬
delns zergliedern, so werden wir überall auf persönliche Interessen stoßen, die
für allgemeine Interessen ausgegeben werden. Dieses echt menschliche persön¬
liche Interesse ist ein Ausfluß des Egoismus, der jedem Menschen angeboren
ist. Man könnte diesen Egoismus vielleicht die Erbsünde nennen, einen
Sauerteich, der die Menschheit erhält, denn ohne diesen Egoismus, ohne dieses
Ausgehen in persönlichste Interessen, wäre die Menschheit längst zu Grunde
gegangen.

Haben denn aber vielleicht die christlichen Märtyrer auch aus Interesse
gehandelt, als sie sich für ihren Glauben verbrennen ließen? ruft mir da
jemand zu, um mich gründlich in die Enge zu treiben. Ich könnte darauf
erwidern, daß diese paar Märtyrer für die große Menschheit und ihre Jnter-
essenkämpfe wenig beweisen; aber ich will mich mit diesem billigen Abfertigungs¬
grunde nicht begnügen, sondern behaupten, daß auch die Märtyrer zu den
Interessenten, und zwar zu den persönlichen, gerechnet werden müssen. Denn
was heißt das: für seinen Glauben sterben? Doch wohl nichts andres, als
in dem Glauben sterben, daß Gott ein besondres Wohlgefallen an solchem
Thun finde. Die Märtyrer gingen deshalb freudig in den Tod, weil sie in
jenem Leben dafür ihre Belohnung hofften. Wenn mir ein numerirter Sperr-
fitzplatz im Himmel lieber ist als der gewöhnliche Platz, den ich auf Erden
inne habe, und ich jenen vornehmen Platz im Himmel so bald wie möglich
einnehmen mochte, so bin ich von meinem Mürtyrerstandpunkt aus auch ein
Interessent, mögen die andern, die nur die augenblickliche That sehen, noch so
sehr meine uninteressirte Handlungsweise preisen. Auf die physiologische Seite
des Martyriums will ich dabei noch gar nicht einmal eingehen, weil das ein
etwas dunkler Punkt ist.

Wenn also wahrscheinlich selbst die Märtyrer, die ihrer Entsagung, also
ihrer anscheinenden Interesselosigkeit wegen zu Heiligen ernannt werden, im
letzten Grunde zu den persönlichen Interessenten gerechnet werden müssen, wie
brauchen wir uns da zu wundern, daß alle übrigen Menschen samt und sonders,
offen und versteckt in ihren Interessen aufgehen und sich dabei trotzdem gegen¬
seitig diese persönlichen Interessen vorwerfen? Zu diesem Zwecke geben sie
sich oft die lächerlichste Mühe, besser zu erscheinen, als sie sind, und schwören
bei allem, was ihnen heilig ist, daß sie nicht aus persönlichem Interesse ge¬
handelt hätten, sondern das Gemeinwohl im Auge Hütten. Wie viel krassester
Eigennutz versteckt sich hinter diesem "Aufgehen in dem Gemeinwohl"! Wenn
wir ruhig zugäben, daß wir alle nicht viel taugen oder alle gleich gut sind,
was auf dasselbe hinausläuft, dann könnten wir uns viele unnütze mündliche
und gedruckte Auseinandersetzungen sparen. Es ist die alte Geschichte von der
satten Tugend: wenn ich genug habe, brauche ich uicht zu stehlen. Die Ent-


Interesse

notwendig die Außenwelt beurteilen. Fromme werden sich wahrscheinlich über
diese Ansicht entsetzen. Aber wenn wir die Triebfedern des menschlichen Han¬
delns zergliedern, so werden wir überall auf persönliche Interessen stoßen, die
für allgemeine Interessen ausgegeben werden. Dieses echt menschliche persön¬
liche Interesse ist ein Ausfluß des Egoismus, der jedem Menschen angeboren
ist. Man könnte diesen Egoismus vielleicht die Erbsünde nennen, einen
Sauerteich, der die Menschheit erhält, denn ohne diesen Egoismus, ohne dieses
Ausgehen in persönlichste Interessen, wäre die Menschheit längst zu Grunde
gegangen.

Haben denn aber vielleicht die christlichen Märtyrer auch aus Interesse
gehandelt, als sie sich für ihren Glauben verbrennen ließen? ruft mir da
jemand zu, um mich gründlich in die Enge zu treiben. Ich könnte darauf
erwidern, daß diese paar Märtyrer für die große Menschheit und ihre Jnter-
essenkämpfe wenig beweisen; aber ich will mich mit diesem billigen Abfertigungs¬
grunde nicht begnügen, sondern behaupten, daß auch die Märtyrer zu den
Interessenten, und zwar zu den persönlichen, gerechnet werden müssen. Denn
was heißt das: für seinen Glauben sterben? Doch wohl nichts andres, als
in dem Glauben sterben, daß Gott ein besondres Wohlgefallen an solchem
Thun finde. Die Märtyrer gingen deshalb freudig in den Tod, weil sie in
jenem Leben dafür ihre Belohnung hofften. Wenn mir ein numerirter Sperr-
fitzplatz im Himmel lieber ist als der gewöhnliche Platz, den ich auf Erden
inne habe, und ich jenen vornehmen Platz im Himmel so bald wie möglich
einnehmen mochte, so bin ich von meinem Mürtyrerstandpunkt aus auch ein
Interessent, mögen die andern, die nur die augenblickliche That sehen, noch so
sehr meine uninteressirte Handlungsweise preisen. Auf die physiologische Seite
des Martyriums will ich dabei noch gar nicht einmal eingehen, weil das ein
etwas dunkler Punkt ist.

Wenn also wahrscheinlich selbst die Märtyrer, die ihrer Entsagung, also
ihrer anscheinenden Interesselosigkeit wegen zu Heiligen ernannt werden, im
letzten Grunde zu den persönlichen Interessenten gerechnet werden müssen, wie
brauchen wir uns da zu wundern, daß alle übrigen Menschen samt und sonders,
offen und versteckt in ihren Interessen aufgehen und sich dabei trotzdem gegen¬
seitig diese persönlichen Interessen vorwerfen? Zu diesem Zwecke geben sie
sich oft die lächerlichste Mühe, besser zu erscheinen, als sie sind, und schwören
bei allem, was ihnen heilig ist, daß sie nicht aus persönlichem Interesse ge¬
handelt hätten, sondern das Gemeinwohl im Auge Hütten. Wie viel krassester
Eigennutz versteckt sich hinter diesem „Aufgehen in dem Gemeinwohl"! Wenn
wir ruhig zugäben, daß wir alle nicht viel taugen oder alle gleich gut sind,
was auf dasselbe hinausläuft, dann könnten wir uns viele unnütze mündliche
und gedruckte Auseinandersetzungen sparen. Es ist die alte Geschichte von der
satten Tugend: wenn ich genug habe, brauche ich uicht zu stehlen. Die Ent-


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[0444] Interesse notwendig die Außenwelt beurteilen. Fromme werden sich wahrscheinlich über diese Ansicht entsetzen. Aber wenn wir die Triebfedern des menschlichen Han¬ delns zergliedern, so werden wir überall auf persönliche Interessen stoßen, die für allgemeine Interessen ausgegeben werden. Dieses echt menschliche persön¬ liche Interesse ist ein Ausfluß des Egoismus, der jedem Menschen angeboren ist. Man könnte diesen Egoismus vielleicht die Erbsünde nennen, einen Sauerteich, der die Menschheit erhält, denn ohne diesen Egoismus, ohne dieses Ausgehen in persönlichste Interessen, wäre die Menschheit längst zu Grunde gegangen. Haben denn aber vielleicht die christlichen Märtyrer auch aus Interesse gehandelt, als sie sich für ihren Glauben verbrennen ließen? ruft mir da jemand zu, um mich gründlich in die Enge zu treiben. Ich könnte darauf erwidern, daß diese paar Märtyrer für die große Menschheit und ihre Jnter- essenkämpfe wenig beweisen; aber ich will mich mit diesem billigen Abfertigungs¬ grunde nicht begnügen, sondern behaupten, daß auch die Märtyrer zu den Interessenten, und zwar zu den persönlichen, gerechnet werden müssen. Denn was heißt das: für seinen Glauben sterben? Doch wohl nichts andres, als in dem Glauben sterben, daß Gott ein besondres Wohlgefallen an solchem Thun finde. Die Märtyrer gingen deshalb freudig in den Tod, weil sie in jenem Leben dafür ihre Belohnung hofften. Wenn mir ein numerirter Sperr- fitzplatz im Himmel lieber ist als der gewöhnliche Platz, den ich auf Erden inne habe, und ich jenen vornehmen Platz im Himmel so bald wie möglich einnehmen mochte, so bin ich von meinem Mürtyrerstandpunkt aus auch ein Interessent, mögen die andern, die nur die augenblickliche That sehen, noch so sehr meine uninteressirte Handlungsweise preisen. Auf die physiologische Seite des Martyriums will ich dabei noch gar nicht einmal eingehen, weil das ein etwas dunkler Punkt ist. Wenn also wahrscheinlich selbst die Märtyrer, die ihrer Entsagung, also ihrer anscheinenden Interesselosigkeit wegen zu Heiligen ernannt werden, im letzten Grunde zu den persönlichen Interessenten gerechnet werden müssen, wie brauchen wir uns da zu wundern, daß alle übrigen Menschen samt und sonders, offen und versteckt in ihren Interessen aufgehen und sich dabei trotzdem gegen¬ seitig diese persönlichen Interessen vorwerfen? Zu diesem Zwecke geben sie sich oft die lächerlichste Mühe, besser zu erscheinen, als sie sind, und schwören bei allem, was ihnen heilig ist, daß sie nicht aus persönlichem Interesse ge¬ handelt hätten, sondern das Gemeinwohl im Auge Hütten. Wie viel krassester Eigennutz versteckt sich hinter diesem „Aufgehen in dem Gemeinwohl"! Wenn wir ruhig zugäben, daß wir alle nicht viel taugen oder alle gleich gut sind, was auf dasselbe hinausläuft, dann könnten wir uns viele unnütze mündliche und gedruckte Auseinandersetzungen sparen. Es ist die alte Geschichte von der satten Tugend: wenn ich genug habe, brauche ich uicht zu stehlen. Die Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/444>, abgerufen am 23.07.2024.