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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Heimatschutz

gesehen hat, kann das Gegenteil behaupten. Und wie könnte es anders sein
nach Jahrzehnten maß- und widerstandsloser Einseitigkeit, mit der man dem
Drängen einer übermächtigen Bewegung nachgegeben hat? Möchte man doch
endlich einmal anhalten, sich besinnen und die Augen für das aufthun, was
rechts und links niedergeworfen und zertreten am Boden liegt!

Seit das große, wirklich unentbehrliche Schienennetz deutscher Eisenbahnen
für den Weltverkehr fertig ist, welche Fülle von Verzweigungen sind in Szene
gesetzt worden, oft von zweifelhaftesten Wert! Jetzt noch einem neuen Begehren
nach einer Eisenbahn nachgeben, das müßte nur noch in den dringendsten Fällen
geschehen dürfen, in wirklich ernsten Notlagen, wie sie ja freilich für manche
Gegenden heutzutage infolge der Verschiebung aller Konkurrenzverhältnisse
eintreten können; aber nicht auf die bloße Möglichkeit materiellen Gewinns
hin, der irgend welchen Einzelnen zu gute kommt, oder gar zur Befriedigung
eines eingebildeten Verkehrsbedürfnisses und einer thörichten Vergnügungssucht.

Es ist der Fluch der Gegenwart, daß sie nichts kennt außer dem wirt¬
schaftlichen Gesichtspunkt, während doch dem sozialpolitischen und sozialethischen
bei weitem die erste Stelle gebührt für die Entscheidung dieser und aller ähn¬
lichen Fragen, besonders auch aller der, die das Fabrikwesen berühren. So
sollte vor allem die Anlegung von Fabriken auf gewisse Gegenden, namentlich
auf die unmittelbare Nähe großer Städte eingeschränkt werden, damit dem
Lande, das jetzt immer mehr von industriellen Anlagen durchsetzt wird, sein
ursprünglicher, im vollen Sinne des Worts ländlicher Charakter gewahrt oder
wiedergewonnen werde. Durch eine solche Reform würde einer gebieterischen
ethischen wie einer ebenso dringenden ästhetischen Forderung in gleicher Weise
entsprochen werden, wie es denn merkwürdig genug ist, daß in der unendlichen
Mehrzahl der Fälle thatsächlich eins vom andern nicht zu trennen ist.

Wenn schon hiermit Großes erreicht, eine unabweisliche Vorbedingung
erfüllt werden würde, so liegt doch das Hauptgewicht noch an einer andern
Stelle. Wir werden nicht eher wieder zu gesunden Zuständen gelangen, bis
der fabrikmäßige Betrieb lediglich auf die Dinge eingeschränkt wird, die einzig
und allein so und nur so gemacht werden können. Alles andre, namentlich
alles das, was irgend einen wenn auch noch so unscheinbaren Zusatz des Ge¬
schmacks, des künstlerischen Gestaltens, des Jndividualisirens, also der Freiheit
zu seiner vollkommnen Herstellung bedarf, muß dem Handwerk zu ausschlie߬
licher Behandlung zurückgegeben werden, weil es seiner Natur nach ihm und
nur ihm gehört. Nicht nur daß auf diesen Gebieten die Übergriffe der Fabrik
zur Herrschaft unsolider Arbeit geführt haben und führen müssen, nicht nur
daß die handwerksmäßige Herstellung solchen Gegenständen einzig und allein
einen wirklichen Wert zu verleihen imstande ist, weil sie die Spur der leben¬
digen und Leben schaffenden Menschenhand empfinden läßt, während die
Maschine tote Phrasen an die Stelle des Lebens setzt und damit alle Ge¬
schmacksbildung untergräbt -- die Bedeutung dieser Frage reicht noch weit


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gesehen hat, kann das Gegenteil behaupten. Und wie könnte es anders sein
nach Jahrzehnten maß- und widerstandsloser Einseitigkeit, mit der man dem
Drängen einer übermächtigen Bewegung nachgegeben hat? Möchte man doch
endlich einmal anhalten, sich besinnen und die Augen für das aufthun, was
rechts und links niedergeworfen und zertreten am Boden liegt!

Seit das große, wirklich unentbehrliche Schienennetz deutscher Eisenbahnen
für den Weltverkehr fertig ist, welche Fülle von Verzweigungen sind in Szene
gesetzt worden, oft von zweifelhaftesten Wert! Jetzt noch einem neuen Begehren
nach einer Eisenbahn nachgeben, das müßte nur noch in den dringendsten Fällen
geschehen dürfen, in wirklich ernsten Notlagen, wie sie ja freilich für manche
Gegenden heutzutage infolge der Verschiebung aller Konkurrenzverhältnisse
eintreten können; aber nicht auf die bloße Möglichkeit materiellen Gewinns
hin, der irgend welchen Einzelnen zu gute kommt, oder gar zur Befriedigung
eines eingebildeten Verkehrsbedürfnisses und einer thörichten Vergnügungssucht.

Es ist der Fluch der Gegenwart, daß sie nichts kennt außer dem wirt¬
schaftlichen Gesichtspunkt, während doch dem sozialpolitischen und sozialethischen
bei weitem die erste Stelle gebührt für die Entscheidung dieser und aller ähn¬
lichen Fragen, besonders auch aller der, die das Fabrikwesen berühren. So
sollte vor allem die Anlegung von Fabriken auf gewisse Gegenden, namentlich
auf die unmittelbare Nähe großer Städte eingeschränkt werden, damit dem
Lande, das jetzt immer mehr von industriellen Anlagen durchsetzt wird, sein
ursprünglicher, im vollen Sinne des Worts ländlicher Charakter gewahrt oder
wiedergewonnen werde. Durch eine solche Reform würde einer gebieterischen
ethischen wie einer ebenso dringenden ästhetischen Forderung in gleicher Weise
entsprochen werden, wie es denn merkwürdig genug ist, daß in der unendlichen
Mehrzahl der Fälle thatsächlich eins vom andern nicht zu trennen ist.

Wenn schon hiermit Großes erreicht, eine unabweisliche Vorbedingung
erfüllt werden würde, so liegt doch das Hauptgewicht noch an einer andern
Stelle. Wir werden nicht eher wieder zu gesunden Zuständen gelangen, bis
der fabrikmäßige Betrieb lediglich auf die Dinge eingeschränkt wird, die einzig
und allein so und nur so gemacht werden können. Alles andre, namentlich
alles das, was irgend einen wenn auch noch so unscheinbaren Zusatz des Ge¬
schmacks, des künstlerischen Gestaltens, des Jndividualisirens, also der Freiheit
zu seiner vollkommnen Herstellung bedarf, muß dem Handwerk zu ausschlie߬
licher Behandlung zurückgegeben werden, weil es seiner Natur nach ihm und
nur ihm gehört. Nicht nur daß auf diesen Gebieten die Übergriffe der Fabrik
zur Herrschaft unsolider Arbeit geführt haben und führen müssen, nicht nur
daß die handwerksmäßige Herstellung solchen Gegenständen einzig und allein
einen wirklichen Wert zu verleihen imstande ist, weil sie die Spur der leben¬
digen und Leben schaffenden Menschenhand empfinden läßt, während die
Maschine tote Phrasen an die Stelle des Lebens setzt und damit alle Ge¬
schmacksbildung untergräbt — die Bedeutung dieser Frage reicht noch weit


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[0421] Heimatschutz gesehen hat, kann das Gegenteil behaupten. Und wie könnte es anders sein nach Jahrzehnten maß- und widerstandsloser Einseitigkeit, mit der man dem Drängen einer übermächtigen Bewegung nachgegeben hat? Möchte man doch endlich einmal anhalten, sich besinnen und die Augen für das aufthun, was rechts und links niedergeworfen und zertreten am Boden liegt! Seit das große, wirklich unentbehrliche Schienennetz deutscher Eisenbahnen für den Weltverkehr fertig ist, welche Fülle von Verzweigungen sind in Szene gesetzt worden, oft von zweifelhaftesten Wert! Jetzt noch einem neuen Begehren nach einer Eisenbahn nachgeben, das müßte nur noch in den dringendsten Fällen geschehen dürfen, in wirklich ernsten Notlagen, wie sie ja freilich für manche Gegenden heutzutage infolge der Verschiebung aller Konkurrenzverhältnisse eintreten können; aber nicht auf die bloße Möglichkeit materiellen Gewinns hin, der irgend welchen Einzelnen zu gute kommt, oder gar zur Befriedigung eines eingebildeten Verkehrsbedürfnisses und einer thörichten Vergnügungssucht. Es ist der Fluch der Gegenwart, daß sie nichts kennt außer dem wirt¬ schaftlichen Gesichtspunkt, während doch dem sozialpolitischen und sozialethischen bei weitem die erste Stelle gebührt für die Entscheidung dieser und aller ähn¬ lichen Fragen, besonders auch aller der, die das Fabrikwesen berühren. So sollte vor allem die Anlegung von Fabriken auf gewisse Gegenden, namentlich auf die unmittelbare Nähe großer Städte eingeschränkt werden, damit dem Lande, das jetzt immer mehr von industriellen Anlagen durchsetzt wird, sein ursprünglicher, im vollen Sinne des Worts ländlicher Charakter gewahrt oder wiedergewonnen werde. Durch eine solche Reform würde einer gebieterischen ethischen wie einer ebenso dringenden ästhetischen Forderung in gleicher Weise entsprochen werden, wie es denn merkwürdig genug ist, daß in der unendlichen Mehrzahl der Fälle thatsächlich eins vom andern nicht zu trennen ist. Wenn schon hiermit Großes erreicht, eine unabweisliche Vorbedingung erfüllt werden würde, so liegt doch das Hauptgewicht noch an einer andern Stelle. Wir werden nicht eher wieder zu gesunden Zuständen gelangen, bis der fabrikmäßige Betrieb lediglich auf die Dinge eingeschränkt wird, die einzig und allein so und nur so gemacht werden können. Alles andre, namentlich alles das, was irgend einen wenn auch noch so unscheinbaren Zusatz des Ge¬ schmacks, des künstlerischen Gestaltens, des Jndividualisirens, also der Freiheit zu seiner vollkommnen Herstellung bedarf, muß dem Handwerk zu ausschlie߬ licher Behandlung zurückgegeben werden, weil es seiner Natur nach ihm und nur ihm gehört. Nicht nur daß auf diesen Gebieten die Übergriffe der Fabrik zur Herrschaft unsolider Arbeit geführt haben und führen müssen, nicht nur daß die handwerksmäßige Herstellung solchen Gegenständen einzig und allein einen wirklichen Wert zu verleihen imstande ist, weil sie die Spur der leben¬ digen und Leben schaffenden Menschenhand empfinden läßt, während die Maschine tote Phrasen an die Stelle des Lebens setzt und damit alle Ge¬ schmacksbildung untergräbt — die Bedeutung dieser Frage reicht noch weit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/421>, abgerufen am 23.07.2024.