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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

die Eigenheiten aller drei Wesen durch eine einzige Erzählung zu deuten sucht.
"Die Fledermaus, der Dornbusch und der Tauchervögel thaten sich zusammen
und beschlossen Kaufleute zu werden. Die Fledermaus steuerte Geld bei, das
sie geborgt hatte, der Dornstrauch nahm Kleidungsstücke mit, der Tauchervögel
aber eherne Gerätschaften, und so fuhren sie ab. Als aber ein schrecklicher
Sturm entstand, und das Schiff unterging, konnten sie sich kaum mit Verlust
ihrer ganzen Habe ans Land retten. Seitdem läuft der Tauchervögel immer
am Strande hin und her und sucht, ob nicht irgendwo das Meer sein Erzgerät
auswirft. Die Fledermaus wagt sich aus Furcht vor ihren Gläubigern am
Tage nicht heraus, sondern geht nachts ihrer Nahrung nach. Der Dornstrauch
endlich packt die Kleider der Vorübergehenden, weil er immer glaubt, sie wären
sein Eigentum." Hinzugefügt ist die erzwungne Moral: Die Fabel lehrt, daß
wir gerade durch das, was wir am eifrigsten erstreben, am leichtesten ins
Unglück kommen.

Daß die Form bleiben, der Zweck aber vollkommen wechseln kann, kann
uns Lessing selbst beweisen. Auch er hat eine Erklärungsfabel geschaffen (Zeus
und das Pferd), die äußerlich ganz den ursprünglichsten Fabeln gleicht und
mit ihnen verwechselt werden könnte, in Wahrheit aber nur einen moralischen
Satz verdeutlichen soll. Die Zähigkeit der einmal geschaffnen Formen tritt
hier besonders schön zu Tage.

Alle primitiven Fabeln, die sich mit den Eigenheiten der Tiere beschäftigen,
enthalten dagegen ursprünglich ganz ernst gemeinte Erklärungen. Wie man
sich dabei beruhigen konnte, ist uns Kulturmenschen, bei denen Glaube und
Nichtglaube scharf getrennt sind, fast unbegreiflich. Verständlicher können wir
uns den Vorgang machen, wenn wir erwägen, daß der Geist des primitiven
Menschen nicht nur weniger geübt ist als der unsrige, sondern daß auch sein
Denken wohl nicht ganz in derselben Weise stattfindet, wie bei den Angehörigen
eines Kulturvolkes. Wir denken ja fast ausschließlich mit Hilfe unsrer hoch¬
entwickelten Sprache; das Tier, das überhaupt keine eigentliche Sprache hat,
kann nicht wohl anders denken als in Bildern und Vorstellungen sinnlicher
Eindrücke, ungefähr so, wie auch wir im Traume uicht mehr folgerecht in
Worten denken, sondern unmittelbar Bild an Bild knüpfen und dabei oft die
wunderlichste Logik entwickeln. Es ist nun fehr wahrscheinlich, daß bei den
Naturvölkern das gegenständliche Denken noch nicht so völlig zurückgedrängt
ist wie bei uns. Wo wir eine logische Erklärung suchen, genügt dem primi¬
tiven Menschen ein Bild, eine Ähnlichkeit, um ihn zu überzeugen. Dem Busch¬
mann ist der Mond ein an den Himmel geworfner Schuh, der noch gelb ist
von dem Staube seiner Heimat; die Ungereimtheit der ganzen Vorstellung
stört ihn weiter nicht. In diesem Sinne erscheinen namentlich die Ideen, die
sich an die Sonne und ihr Schicksal beim Untergang knüpfen, ungemein lehr¬
reich, da die seltsamsten und widersprechendsten Deutungen oft gleichzeitig bei


Die Tierfabel

die Eigenheiten aller drei Wesen durch eine einzige Erzählung zu deuten sucht.
„Die Fledermaus, der Dornbusch und der Tauchervögel thaten sich zusammen
und beschlossen Kaufleute zu werden. Die Fledermaus steuerte Geld bei, das
sie geborgt hatte, der Dornstrauch nahm Kleidungsstücke mit, der Tauchervögel
aber eherne Gerätschaften, und so fuhren sie ab. Als aber ein schrecklicher
Sturm entstand, und das Schiff unterging, konnten sie sich kaum mit Verlust
ihrer ganzen Habe ans Land retten. Seitdem läuft der Tauchervögel immer
am Strande hin und her und sucht, ob nicht irgendwo das Meer sein Erzgerät
auswirft. Die Fledermaus wagt sich aus Furcht vor ihren Gläubigern am
Tage nicht heraus, sondern geht nachts ihrer Nahrung nach. Der Dornstrauch
endlich packt die Kleider der Vorübergehenden, weil er immer glaubt, sie wären
sein Eigentum." Hinzugefügt ist die erzwungne Moral: Die Fabel lehrt, daß
wir gerade durch das, was wir am eifrigsten erstreben, am leichtesten ins
Unglück kommen.

Daß die Form bleiben, der Zweck aber vollkommen wechseln kann, kann
uns Lessing selbst beweisen. Auch er hat eine Erklärungsfabel geschaffen (Zeus
und das Pferd), die äußerlich ganz den ursprünglichsten Fabeln gleicht und
mit ihnen verwechselt werden könnte, in Wahrheit aber nur einen moralischen
Satz verdeutlichen soll. Die Zähigkeit der einmal geschaffnen Formen tritt
hier besonders schön zu Tage.

Alle primitiven Fabeln, die sich mit den Eigenheiten der Tiere beschäftigen,
enthalten dagegen ursprünglich ganz ernst gemeinte Erklärungen. Wie man
sich dabei beruhigen konnte, ist uns Kulturmenschen, bei denen Glaube und
Nichtglaube scharf getrennt sind, fast unbegreiflich. Verständlicher können wir
uns den Vorgang machen, wenn wir erwägen, daß der Geist des primitiven
Menschen nicht nur weniger geübt ist als der unsrige, sondern daß auch sein
Denken wohl nicht ganz in derselben Weise stattfindet, wie bei den Angehörigen
eines Kulturvolkes. Wir denken ja fast ausschließlich mit Hilfe unsrer hoch¬
entwickelten Sprache; das Tier, das überhaupt keine eigentliche Sprache hat,
kann nicht wohl anders denken als in Bildern und Vorstellungen sinnlicher
Eindrücke, ungefähr so, wie auch wir im Traume uicht mehr folgerecht in
Worten denken, sondern unmittelbar Bild an Bild knüpfen und dabei oft die
wunderlichste Logik entwickeln. Es ist nun fehr wahrscheinlich, daß bei den
Naturvölkern das gegenständliche Denken noch nicht so völlig zurückgedrängt
ist wie bei uns. Wo wir eine logische Erklärung suchen, genügt dem primi¬
tiven Menschen ein Bild, eine Ähnlichkeit, um ihn zu überzeugen. Dem Busch¬
mann ist der Mond ein an den Himmel geworfner Schuh, der noch gelb ist
von dem Staube seiner Heimat; die Ungereimtheit der ganzen Vorstellung
stört ihn weiter nicht. In diesem Sinne erscheinen namentlich die Ideen, die
sich an die Sonne und ihr Schicksal beim Untergang knüpfen, ungemein lehr¬
reich, da die seltsamsten und widersprechendsten Deutungen oft gleichzeitig bei


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[0399] Die Tierfabel die Eigenheiten aller drei Wesen durch eine einzige Erzählung zu deuten sucht. „Die Fledermaus, der Dornbusch und der Tauchervögel thaten sich zusammen und beschlossen Kaufleute zu werden. Die Fledermaus steuerte Geld bei, das sie geborgt hatte, der Dornstrauch nahm Kleidungsstücke mit, der Tauchervögel aber eherne Gerätschaften, und so fuhren sie ab. Als aber ein schrecklicher Sturm entstand, und das Schiff unterging, konnten sie sich kaum mit Verlust ihrer ganzen Habe ans Land retten. Seitdem läuft der Tauchervögel immer am Strande hin und her und sucht, ob nicht irgendwo das Meer sein Erzgerät auswirft. Die Fledermaus wagt sich aus Furcht vor ihren Gläubigern am Tage nicht heraus, sondern geht nachts ihrer Nahrung nach. Der Dornstrauch endlich packt die Kleider der Vorübergehenden, weil er immer glaubt, sie wären sein Eigentum." Hinzugefügt ist die erzwungne Moral: Die Fabel lehrt, daß wir gerade durch das, was wir am eifrigsten erstreben, am leichtesten ins Unglück kommen. Daß die Form bleiben, der Zweck aber vollkommen wechseln kann, kann uns Lessing selbst beweisen. Auch er hat eine Erklärungsfabel geschaffen (Zeus und das Pferd), die äußerlich ganz den ursprünglichsten Fabeln gleicht und mit ihnen verwechselt werden könnte, in Wahrheit aber nur einen moralischen Satz verdeutlichen soll. Die Zähigkeit der einmal geschaffnen Formen tritt hier besonders schön zu Tage. Alle primitiven Fabeln, die sich mit den Eigenheiten der Tiere beschäftigen, enthalten dagegen ursprünglich ganz ernst gemeinte Erklärungen. Wie man sich dabei beruhigen konnte, ist uns Kulturmenschen, bei denen Glaube und Nichtglaube scharf getrennt sind, fast unbegreiflich. Verständlicher können wir uns den Vorgang machen, wenn wir erwägen, daß der Geist des primitiven Menschen nicht nur weniger geübt ist als der unsrige, sondern daß auch sein Denken wohl nicht ganz in derselben Weise stattfindet, wie bei den Angehörigen eines Kulturvolkes. Wir denken ja fast ausschließlich mit Hilfe unsrer hoch¬ entwickelten Sprache; das Tier, das überhaupt keine eigentliche Sprache hat, kann nicht wohl anders denken als in Bildern und Vorstellungen sinnlicher Eindrücke, ungefähr so, wie auch wir im Traume uicht mehr folgerecht in Worten denken, sondern unmittelbar Bild an Bild knüpfen und dabei oft die wunderlichste Logik entwickeln. Es ist nun fehr wahrscheinlich, daß bei den Naturvölkern das gegenständliche Denken noch nicht so völlig zurückgedrängt ist wie bei uns. Wo wir eine logische Erklärung suchen, genügt dem primi¬ tiven Menschen ein Bild, eine Ähnlichkeit, um ihn zu überzeugen. Dem Busch¬ mann ist der Mond ein an den Himmel geworfner Schuh, der noch gelb ist von dem Staube seiner Heimat; die Ungereimtheit der ganzen Vorstellung stört ihn weiter nicht. In diesem Sinne erscheinen namentlich die Ideen, die sich an die Sonne und ihr Schicksal beim Untergang knüpfen, ungemein lehr¬ reich, da die seltsamsten und widersprechendsten Deutungen oft gleichzeitig bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/399>, abgerufen am 23.07.2024.