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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

eignet erscheinen, den Kampf ums Dasein mit so glänzendem Erfolg zu kämpfen,
wie es thatsächlich geschehen ist und noch geschieht. Aber die Waffe des
Menschen ist der Geist, wenn man so will, das Gehirn, und was er in den
Bereich dieser Waffe ziehen, mit andern Worten, was er erforschen und erklären
kann, das ist ihm verfallen, und früher oder später muß es seine Überlegenheit
anerkennen. Was aber steht dem Menschen ursprünglich näher, was kämpft
verzweifelter mit ihm um Raum auf der Erde, als die Tierwelt? Über sie
vor allem muß er sich klar werden, gegen sie muß er den geistigen Kampf
aufzunehmen suchen, und als früheste, künstlerisch veredelte Spuren und
Nachklänge dieses uraltens Ringens um die Weltherrschaft sind uns die Tier¬
fabeln erhalten.

Freilich kann uns die Tierfabel zugleich lehren, wie ungeschickt der Natur¬
mensch zunächst seine geistige Waffe braucht. Das Nachdenken ist ihm eine
harte, ermüdende Arbeit, viel unwillkommner als ein erfrischender Kampf mit
Faust oder Keule, und er erlahmt dabei sehr rasch. Eine Erklärung freilich
möchte er für alles haben, aber er begnügt sich auch gern mit der ersten besten,
die ihm gerade einleuchtet, oder die ihm einmal der Zufall bietet. Man kann
vermuten, daß gerade jene Erklärungen tierischer Eigentümlichkeiten, wie sie
die primitive Fabel giebt, in der Regel nicht durch eigentliches Nachdenken
gefunden worden sind, sondern mehr einem plötzlichen, durch irgend ein Ereignis
angeregten Einfalle ihre Entstehung verdankten. Das entspräche ganz der Art,
wie Kinder noch jetzt auf ihre oft so wunderlichen Erklärungen kommen. Ein
Vogel fliegt ins Feuer und wird verkohlt wieder herausgezogen. "Jetzt weiß
ich auch, mag da einer der Umsitzenden ausrufen, warum der Rabe so schwarz
ist. Er ist auch einmal ins Feuer geflogen und hat sich verbrannt." "Ja,
fügt vielleicht ein andrer hinzu, und das mag damals geschehen sein, als wir
noch kein Feuer hatten. Er wird uns das Feuer gebracht haben und hat
dabei seine Federn versengt." Da ist denn gleich eine mythologische Fabel
entstanden, wie sie noch heute in dieser Art in Nordwestamerika erzählt wird.
Die Erfinder der Geschichte sind sich vielleicht noch bewußt, daß das Ganze
nur eine phantastische und willkürliche Deutung ist, aber schon die nächsten,
denen sie erzählt wird, nehmen sie als gegeben hin, und mit überraschender
Schnelligkeit gewinnt die neue Erzählung eine Art künstlicher Palma und läuft
als alte, anerkannte Wahrheit um.

Auch die äsopische Sammlung enthält einen Stamm von Erklürungsfabeln,
die freilich zu der Zeit, wo sich die Fabeltheorien bildeten, nicht mehr ernst ge¬
nommen wurden; dennoch mögen dergleichen Geschichten auch noch später ent¬
standen sein, weil die bequeme Form leicht zu andern Zwecken zu benutzen war,
sodaß es zuweilen zweifelhaft erscheint, ob wir ursprünglichen Ernst oder nur
spielende Nachahmung vor uns haben. Als Beispiel mag die äsopische Fabel
von der Fledermaus, dem Dornbusch und dem Tauchervögel dienen, die gleich


Die Tierfabel

eignet erscheinen, den Kampf ums Dasein mit so glänzendem Erfolg zu kämpfen,
wie es thatsächlich geschehen ist und noch geschieht. Aber die Waffe des
Menschen ist der Geist, wenn man so will, das Gehirn, und was er in den
Bereich dieser Waffe ziehen, mit andern Worten, was er erforschen und erklären
kann, das ist ihm verfallen, und früher oder später muß es seine Überlegenheit
anerkennen. Was aber steht dem Menschen ursprünglich näher, was kämpft
verzweifelter mit ihm um Raum auf der Erde, als die Tierwelt? Über sie
vor allem muß er sich klar werden, gegen sie muß er den geistigen Kampf
aufzunehmen suchen, und als früheste, künstlerisch veredelte Spuren und
Nachklänge dieses uraltens Ringens um die Weltherrschaft sind uns die Tier¬
fabeln erhalten.

Freilich kann uns die Tierfabel zugleich lehren, wie ungeschickt der Natur¬
mensch zunächst seine geistige Waffe braucht. Das Nachdenken ist ihm eine
harte, ermüdende Arbeit, viel unwillkommner als ein erfrischender Kampf mit
Faust oder Keule, und er erlahmt dabei sehr rasch. Eine Erklärung freilich
möchte er für alles haben, aber er begnügt sich auch gern mit der ersten besten,
die ihm gerade einleuchtet, oder die ihm einmal der Zufall bietet. Man kann
vermuten, daß gerade jene Erklärungen tierischer Eigentümlichkeiten, wie sie
die primitive Fabel giebt, in der Regel nicht durch eigentliches Nachdenken
gefunden worden sind, sondern mehr einem plötzlichen, durch irgend ein Ereignis
angeregten Einfalle ihre Entstehung verdankten. Das entspräche ganz der Art,
wie Kinder noch jetzt auf ihre oft so wunderlichen Erklärungen kommen. Ein
Vogel fliegt ins Feuer und wird verkohlt wieder herausgezogen. „Jetzt weiß
ich auch, mag da einer der Umsitzenden ausrufen, warum der Rabe so schwarz
ist. Er ist auch einmal ins Feuer geflogen und hat sich verbrannt." „Ja,
fügt vielleicht ein andrer hinzu, und das mag damals geschehen sein, als wir
noch kein Feuer hatten. Er wird uns das Feuer gebracht haben und hat
dabei seine Federn versengt." Da ist denn gleich eine mythologische Fabel
entstanden, wie sie noch heute in dieser Art in Nordwestamerika erzählt wird.
Die Erfinder der Geschichte sind sich vielleicht noch bewußt, daß das Ganze
nur eine phantastische und willkürliche Deutung ist, aber schon die nächsten,
denen sie erzählt wird, nehmen sie als gegeben hin, und mit überraschender
Schnelligkeit gewinnt die neue Erzählung eine Art künstlicher Palma und läuft
als alte, anerkannte Wahrheit um.

Auch die äsopische Sammlung enthält einen Stamm von Erklürungsfabeln,
die freilich zu der Zeit, wo sich die Fabeltheorien bildeten, nicht mehr ernst ge¬
nommen wurden; dennoch mögen dergleichen Geschichten auch noch später ent¬
standen sein, weil die bequeme Form leicht zu andern Zwecken zu benutzen war,
sodaß es zuweilen zweifelhaft erscheint, ob wir ursprünglichen Ernst oder nur
spielende Nachahmung vor uns haben. Als Beispiel mag die äsopische Fabel
von der Fledermaus, dem Dornbusch und dem Tauchervögel dienen, die gleich


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[0398] Die Tierfabel eignet erscheinen, den Kampf ums Dasein mit so glänzendem Erfolg zu kämpfen, wie es thatsächlich geschehen ist und noch geschieht. Aber die Waffe des Menschen ist der Geist, wenn man so will, das Gehirn, und was er in den Bereich dieser Waffe ziehen, mit andern Worten, was er erforschen und erklären kann, das ist ihm verfallen, und früher oder später muß es seine Überlegenheit anerkennen. Was aber steht dem Menschen ursprünglich näher, was kämpft verzweifelter mit ihm um Raum auf der Erde, als die Tierwelt? Über sie vor allem muß er sich klar werden, gegen sie muß er den geistigen Kampf aufzunehmen suchen, und als früheste, künstlerisch veredelte Spuren und Nachklänge dieses uraltens Ringens um die Weltherrschaft sind uns die Tier¬ fabeln erhalten. Freilich kann uns die Tierfabel zugleich lehren, wie ungeschickt der Natur¬ mensch zunächst seine geistige Waffe braucht. Das Nachdenken ist ihm eine harte, ermüdende Arbeit, viel unwillkommner als ein erfrischender Kampf mit Faust oder Keule, und er erlahmt dabei sehr rasch. Eine Erklärung freilich möchte er für alles haben, aber er begnügt sich auch gern mit der ersten besten, die ihm gerade einleuchtet, oder die ihm einmal der Zufall bietet. Man kann vermuten, daß gerade jene Erklärungen tierischer Eigentümlichkeiten, wie sie die primitive Fabel giebt, in der Regel nicht durch eigentliches Nachdenken gefunden worden sind, sondern mehr einem plötzlichen, durch irgend ein Ereignis angeregten Einfalle ihre Entstehung verdankten. Das entspräche ganz der Art, wie Kinder noch jetzt auf ihre oft so wunderlichen Erklärungen kommen. Ein Vogel fliegt ins Feuer und wird verkohlt wieder herausgezogen. „Jetzt weiß ich auch, mag da einer der Umsitzenden ausrufen, warum der Rabe so schwarz ist. Er ist auch einmal ins Feuer geflogen und hat sich verbrannt." „Ja, fügt vielleicht ein andrer hinzu, und das mag damals geschehen sein, als wir noch kein Feuer hatten. Er wird uns das Feuer gebracht haben und hat dabei seine Federn versengt." Da ist denn gleich eine mythologische Fabel entstanden, wie sie noch heute in dieser Art in Nordwestamerika erzählt wird. Die Erfinder der Geschichte sind sich vielleicht noch bewußt, daß das Ganze nur eine phantastische und willkürliche Deutung ist, aber schon die nächsten, denen sie erzählt wird, nehmen sie als gegeben hin, und mit überraschender Schnelligkeit gewinnt die neue Erzählung eine Art künstlicher Palma und läuft als alte, anerkannte Wahrheit um. Auch die äsopische Sammlung enthält einen Stamm von Erklürungsfabeln, die freilich zu der Zeit, wo sich die Fabeltheorien bildeten, nicht mehr ernst ge¬ nommen wurden; dennoch mögen dergleichen Geschichten auch noch später ent¬ standen sein, weil die bequeme Form leicht zu andern Zwecken zu benutzen war, sodaß es zuweilen zweifelhaft erscheint, ob wir ursprünglichen Ernst oder nur spielende Nachahmung vor uns haben. Als Beispiel mag die äsopische Fabel von der Fledermaus, dem Dornbusch und dem Tauchervögel dienen, die gleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/398>, abgerufen am 23.07.2024.