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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Gedanke, daß alle die einzelnen Tierfabeln der Arier nur Reste einer alten
gemeinsamen Fabeldichtung seien, die vielleicht gerade im deutschen Tierepos
ihren wichtigsten und am treuesten erhaltnen Ausläufer hatte? In der Be¬
geisterung über diese neue Erkenntnis ist Jakob Grimms Einleitung zum
Reinhart Fuchs geschrieben, die trotz heftigen und zum Teil berechtigten Wider¬
standes der Fachgenossen anregend und erschütternd nach allen Seiten gewirkt
hat. Der alte Streit über die notwendigen Eigenschaften einer guten Fabel
verstummte vor dem frischen Hauche einer neuen und siegreichen wissenschaft¬
lichen Methode, und auch die klassische Philologie mußte die neuen Waffen
benutzen lernen, die sie bisher achtlos verschmäht hatte.

Mit schärferen Blicke betrachtete man nun auch die äsopische Tierfabel,
die noch der so kritisch angelegte Lessing unbedenklich als das einheitliche Werk
einer bestimmten Persönlichkeit hingenommen hatte, und auch die Person des
Äsop, über dessen Lebensumstände anscheinend so sichere Nachrichten aus dem
Altertume überliefert sind, mußte sich eine genauere Prüfung gefallen lassen.
Die Ergebnisse waren überraschend. Man darf jetzt behaupten, daß Äsop,
wenn er überhaupt gelebt hat, uur der erfolgreichste Sammler der überall
umlaufenden Tierfabelu gewesen ist, daß aber die Fabeln als solche aus sehr
verschiednen Quellen stammen und in ihrer jetzigen Gestalt schon das Ergebnis
einer langen Entwicklung und einer Mischung mit ursprünglich fremdartigen
Bestandteile" sind. Daß Äsvp als witziger Sklave in verschiednen Städten
Griechenlands gelebt, Fabeln zusammengetragen und vielleicht durch eigne
schwanke seine Sammlung noch vermehrt hat, ist möglich; aber die Erzählungen
über seine spätern Schicksale sind ganz unglaubwürdig, und zahlreiche Anekdoten
sind nur dadurch entstanden, daß man die Entstehung mancher Fabeln mit
den Lebensschicksalen des Äsop zu verknüpfen suchte: mehrmals soll er sich
durch Erzählung von Fabeln aus schwierigen Lagen gerettet, zuletzt aber auf
dieselbe Weise seinen Untergang herbeigeführt haben, indem ihn die Delphier,
durch eine anzügliche Fabel gereizt, eines Verbrechens beschuldigten und ohne
weiteres totschlugen. Jedenfalls tritt Äsop als dichterische Persönlichkeit nun
ganz zurück, und so sind denn auch die äsopischen Fabeln nicht nur nicht als
Zeugnisse der frischen, unbefangnen Fabeldichtung zu betrachten, sondern sie
bedürfen selbst einer Sichtung auf Grund der Ergebnisse, die uns eine Prüfung
einfacherer, ursprünglicherer Formen gewährt, wie wir sie bei Naturvölkern
finden. Zu diesem Zwecke dürfen wir uns natürlich nicht darauf beschränken,
die indischen Fabeln heranzuziehen, um nun, wie es Keller gethan hat, einfach
den Kern der äsopischen Fabeln aus Indien herzuleiten und das deutsche Tier-
epos wieder auf griechische Anregungen zurückzuführen, sondern wir müssen
einen Blick auf die Völker der ganzen Erde werfen.

Diese Umschau auf der Erde wird nun wenigstens nach einer bestimmten
Richtung hiu reich belohnt. Fast bei allen Völkern finden sich Tiersagen und


Die Tierfabel

Gedanke, daß alle die einzelnen Tierfabeln der Arier nur Reste einer alten
gemeinsamen Fabeldichtung seien, die vielleicht gerade im deutschen Tierepos
ihren wichtigsten und am treuesten erhaltnen Ausläufer hatte? In der Be¬
geisterung über diese neue Erkenntnis ist Jakob Grimms Einleitung zum
Reinhart Fuchs geschrieben, die trotz heftigen und zum Teil berechtigten Wider¬
standes der Fachgenossen anregend und erschütternd nach allen Seiten gewirkt
hat. Der alte Streit über die notwendigen Eigenschaften einer guten Fabel
verstummte vor dem frischen Hauche einer neuen und siegreichen wissenschaft¬
lichen Methode, und auch die klassische Philologie mußte die neuen Waffen
benutzen lernen, die sie bisher achtlos verschmäht hatte.

Mit schärferen Blicke betrachtete man nun auch die äsopische Tierfabel,
die noch der so kritisch angelegte Lessing unbedenklich als das einheitliche Werk
einer bestimmten Persönlichkeit hingenommen hatte, und auch die Person des
Äsop, über dessen Lebensumstände anscheinend so sichere Nachrichten aus dem
Altertume überliefert sind, mußte sich eine genauere Prüfung gefallen lassen.
Die Ergebnisse waren überraschend. Man darf jetzt behaupten, daß Äsop,
wenn er überhaupt gelebt hat, uur der erfolgreichste Sammler der überall
umlaufenden Tierfabelu gewesen ist, daß aber die Fabeln als solche aus sehr
verschiednen Quellen stammen und in ihrer jetzigen Gestalt schon das Ergebnis
einer langen Entwicklung und einer Mischung mit ursprünglich fremdartigen
Bestandteile» sind. Daß Äsvp als witziger Sklave in verschiednen Städten
Griechenlands gelebt, Fabeln zusammengetragen und vielleicht durch eigne
schwanke seine Sammlung noch vermehrt hat, ist möglich; aber die Erzählungen
über seine spätern Schicksale sind ganz unglaubwürdig, und zahlreiche Anekdoten
sind nur dadurch entstanden, daß man die Entstehung mancher Fabeln mit
den Lebensschicksalen des Äsop zu verknüpfen suchte: mehrmals soll er sich
durch Erzählung von Fabeln aus schwierigen Lagen gerettet, zuletzt aber auf
dieselbe Weise seinen Untergang herbeigeführt haben, indem ihn die Delphier,
durch eine anzügliche Fabel gereizt, eines Verbrechens beschuldigten und ohne
weiteres totschlugen. Jedenfalls tritt Äsop als dichterische Persönlichkeit nun
ganz zurück, und so sind denn auch die äsopischen Fabeln nicht nur nicht als
Zeugnisse der frischen, unbefangnen Fabeldichtung zu betrachten, sondern sie
bedürfen selbst einer Sichtung auf Grund der Ergebnisse, die uns eine Prüfung
einfacherer, ursprünglicherer Formen gewährt, wie wir sie bei Naturvölkern
finden. Zu diesem Zwecke dürfen wir uns natürlich nicht darauf beschränken,
die indischen Fabeln heranzuziehen, um nun, wie es Keller gethan hat, einfach
den Kern der äsopischen Fabeln aus Indien herzuleiten und das deutsche Tier-
epos wieder auf griechische Anregungen zurückzuführen, sondern wir müssen
einen Blick auf die Völker der ganzen Erde werfen.

Diese Umschau auf der Erde wird nun wenigstens nach einer bestimmten
Richtung hiu reich belohnt. Fast bei allen Völkern finden sich Tiersagen und


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[0394] Die Tierfabel Gedanke, daß alle die einzelnen Tierfabeln der Arier nur Reste einer alten gemeinsamen Fabeldichtung seien, die vielleicht gerade im deutschen Tierepos ihren wichtigsten und am treuesten erhaltnen Ausläufer hatte? In der Be¬ geisterung über diese neue Erkenntnis ist Jakob Grimms Einleitung zum Reinhart Fuchs geschrieben, die trotz heftigen und zum Teil berechtigten Wider¬ standes der Fachgenossen anregend und erschütternd nach allen Seiten gewirkt hat. Der alte Streit über die notwendigen Eigenschaften einer guten Fabel verstummte vor dem frischen Hauche einer neuen und siegreichen wissenschaft¬ lichen Methode, und auch die klassische Philologie mußte die neuen Waffen benutzen lernen, die sie bisher achtlos verschmäht hatte. Mit schärferen Blicke betrachtete man nun auch die äsopische Tierfabel, die noch der so kritisch angelegte Lessing unbedenklich als das einheitliche Werk einer bestimmten Persönlichkeit hingenommen hatte, und auch die Person des Äsop, über dessen Lebensumstände anscheinend so sichere Nachrichten aus dem Altertume überliefert sind, mußte sich eine genauere Prüfung gefallen lassen. Die Ergebnisse waren überraschend. Man darf jetzt behaupten, daß Äsop, wenn er überhaupt gelebt hat, uur der erfolgreichste Sammler der überall umlaufenden Tierfabelu gewesen ist, daß aber die Fabeln als solche aus sehr verschiednen Quellen stammen und in ihrer jetzigen Gestalt schon das Ergebnis einer langen Entwicklung und einer Mischung mit ursprünglich fremdartigen Bestandteile» sind. Daß Äsvp als witziger Sklave in verschiednen Städten Griechenlands gelebt, Fabeln zusammengetragen und vielleicht durch eigne schwanke seine Sammlung noch vermehrt hat, ist möglich; aber die Erzählungen über seine spätern Schicksale sind ganz unglaubwürdig, und zahlreiche Anekdoten sind nur dadurch entstanden, daß man die Entstehung mancher Fabeln mit den Lebensschicksalen des Äsop zu verknüpfen suchte: mehrmals soll er sich durch Erzählung von Fabeln aus schwierigen Lagen gerettet, zuletzt aber auf dieselbe Weise seinen Untergang herbeigeführt haben, indem ihn die Delphier, durch eine anzügliche Fabel gereizt, eines Verbrechens beschuldigten und ohne weiteres totschlugen. Jedenfalls tritt Äsop als dichterische Persönlichkeit nun ganz zurück, und so sind denn auch die äsopischen Fabeln nicht nur nicht als Zeugnisse der frischen, unbefangnen Fabeldichtung zu betrachten, sondern sie bedürfen selbst einer Sichtung auf Grund der Ergebnisse, die uns eine Prüfung einfacherer, ursprünglicherer Formen gewährt, wie wir sie bei Naturvölkern finden. Zu diesem Zwecke dürfen wir uns natürlich nicht darauf beschränken, die indischen Fabeln heranzuziehen, um nun, wie es Keller gethan hat, einfach den Kern der äsopischen Fabeln aus Indien herzuleiten und das deutsche Tier- epos wieder auf griechische Anregungen zurückzuführen, sondern wir müssen einen Blick auf die Völker der ganzen Erde werfen. Diese Umschau auf der Erde wird nun wenigstens nach einer bestimmten Richtung hiu reich belohnt. Fast bei allen Völkern finden sich Tiersagen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/394>, abgerufen am 23.07.2024.