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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

ästhetischen Seite des Daseins zu thun haben. Ein Sohn dieser Zeit, der sich
der Fabeldichtung als Forscher oder als Poet zuwandte, konnte nicht gut eine
andre Frage stellen als die eine: Wie muß eine gute, also eine der Auffassung
der Blütezeit des Altertums entsprechende Fabel beschaffen sein? Was sind
die Gesetze, nach denen sich die Fabel zu richten hat, und nach denen sie be¬
urteilt sein will?

Wie anders der heutige Forscher! Er fühlt sich nicht mehr schlechthin
als Schüler der Alten, denn er hat sich durch manche bittre Erfahrung zu der
Erkenntnis durchgerungen, daß niemals eine Kultur, mag sie die edelste und
beste sein, ohne weiteres auf einen fremden Boden zu verpflanzen ist, sondern
daß sie bei aller Anregung von außen her doch nur in gesunder Kraft aus
dem eignen Volkstum emporwachsen kann. Damit aber erweitert und verschiebt
sich der Kreis dessen, was für ihn lehrreich und des tiefern Nachforschens wert
ist. Nicht bloß die Kultur in ihrer höchsten Blüte scheint ihm nun anziehend,
sondern auch jene Keime, jene zahllosen ungeschickten und doch hoffnungsvollen
Versuche und Anfänge der Entwicklung, die dem Menschen des vorigen Jahr¬
hunderts abnorm, barbarisch und infolgedessen verächtlich erscheinen mußten;
wir Wollen nicht mehr die Gemälde oder Statuen ausschließlich betrachten, wie
sie rein und glänzend aus der Werkstätte des Künstlers hervorgehen, wir wollen
selbst in die Werkstatt eindringen, die mühseligen Vorarbeiten prüfen und an
ihnen das lernen, was das vollendete und erhabne Kunstwerk vor uns ver¬
schließt. Auch die Menschheit hat ihre Werkstätten der geistigen Bildung, und
in der eines jeden Volks, mag auch nichts äußerlich glänzendes aus ihr hervor¬
gegangen sein, dürfen wir hoffen zu lernen und uns zu eigner Arbeit zu kräftigen.
Jede Erkenntnis andrer ist ja zugleich ein Stück Selbsterkenntnis. Und indem
wir somit die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ins Auge fassen,
folgen wir nur jenem großen Zuge der neuern Wissenschaft, dem die Welt
nicht als etwas Starres, Gegebnes erscheint, sondern als ein Bewegliches,
Ans- und Ineinanderfließendes. Einst schrak man vor dem Unentwickelten
zurück, und die Übergangsformen verwarf man als der festen Norm nicht ent¬
sprechend; jetzt sucht man diese mit Unrecht verachteten Bindeglieder wieder auf
und findet im Unvollkommnen die Erklärung des Vollendeten, in der unschein¬
baren Wurzel den Ursprung der Blüten und der Früchte.

Die Ästhetik ist so ziemlich die letzte der Wissenschaften, die diesen Weg
eingeschlagen haben, ja vielfach hat sie kaum damit begonnen und beschäftigt
sich uoch ganz in alter Weise, statt zu beobachten, mit der Aufstellung fester
Kunstregeln, um die sich der wahre Künstler nicht kümmert. Als rein geistige
Disziplin wird die Ästhetik freilich niemals in derselben Weise zu forschen ver¬
mögen wie die Naturwissenschaften, denn es fehlt ihr deren wichtigstes Hilfs¬
mittel, das Experiment. Sie kann nicht willkürlich eine Entwicklung hervor¬
rufen und in ihren einzelnen Abschnitten verfolgen. Diesen Mangel aber kann


Die Tierfabel

ästhetischen Seite des Daseins zu thun haben. Ein Sohn dieser Zeit, der sich
der Fabeldichtung als Forscher oder als Poet zuwandte, konnte nicht gut eine
andre Frage stellen als die eine: Wie muß eine gute, also eine der Auffassung
der Blütezeit des Altertums entsprechende Fabel beschaffen sein? Was sind
die Gesetze, nach denen sich die Fabel zu richten hat, und nach denen sie be¬
urteilt sein will?

Wie anders der heutige Forscher! Er fühlt sich nicht mehr schlechthin
als Schüler der Alten, denn er hat sich durch manche bittre Erfahrung zu der
Erkenntnis durchgerungen, daß niemals eine Kultur, mag sie die edelste und
beste sein, ohne weiteres auf einen fremden Boden zu verpflanzen ist, sondern
daß sie bei aller Anregung von außen her doch nur in gesunder Kraft aus
dem eignen Volkstum emporwachsen kann. Damit aber erweitert und verschiebt
sich der Kreis dessen, was für ihn lehrreich und des tiefern Nachforschens wert
ist. Nicht bloß die Kultur in ihrer höchsten Blüte scheint ihm nun anziehend,
sondern auch jene Keime, jene zahllosen ungeschickten und doch hoffnungsvollen
Versuche und Anfänge der Entwicklung, die dem Menschen des vorigen Jahr¬
hunderts abnorm, barbarisch und infolgedessen verächtlich erscheinen mußten;
wir Wollen nicht mehr die Gemälde oder Statuen ausschließlich betrachten, wie
sie rein und glänzend aus der Werkstätte des Künstlers hervorgehen, wir wollen
selbst in die Werkstatt eindringen, die mühseligen Vorarbeiten prüfen und an
ihnen das lernen, was das vollendete und erhabne Kunstwerk vor uns ver¬
schließt. Auch die Menschheit hat ihre Werkstätten der geistigen Bildung, und
in der eines jeden Volks, mag auch nichts äußerlich glänzendes aus ihr hervor¬
gegangen sein, dürfen wir hoffen zu lernen und uns zu eigner Arbeit zu kräftigen.
Jede Erkenntnis andrer ist ja zugleich ein Stück Selbsterkenntnis. Und indem
wir somit die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ins Auge fassen,
folgen wir nur jenem großen Zuge der neuern Wissenschaft, dem die Welt
nicht als etwas Starres, Gegebnes erscheint, sondern als ein Bewegliches,
Ans- und Ineinanderfließendes. Einst schrak man vor dem Unentwickelten
zurück, und die Übergangsformen verwarf man als der festen Norm nicht ent¬
sprechend; jetzt sucht man diese mit Unrecht verachteten Bindeglieder wieder auf
und findet im Unvollkommnen die Erklärung des Vollendeten, in der unschein¬
baren Wurzel den Ursprung der Blüten und der Früchte.

Die Ästhetik ist so ziemlich die letzte der Wissenschaften, die diesen Weg
eingeschlagen haben, ja vielfach hat sie kaum damit begonnen und beschäftigt
sich uoch ganz in alter Weise, statt zu beobachten, mit der Aufstellung fester
Kunstregeln, um die sich der wahre Künstler nicht kümmert. Als rein geistige
Disziplin wird die Ästhetik freilich niemals in derselben Weise zu forschen ver¬
mögen wie die Naturwissenschaften, denn es fehlt ihr deren wichtigstes Hilfs¬
mittel, das Experiment. Sie kann nicht willkürlich eine Entwicklung hervor¬
rufen und in ihren einzelnen Abschnitten verfolgen. Diesen Mangel aber kann


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[0391] Die Tierfabel ästhetischen Seite des Daseins zu thun haben. Ein Sohn dieser Zeit, der sich der Fabeldichtung als Forscher oder als Poet zuwandte, konnte nicht gut eine andre Frage stellen als die eine: Wie muß eine gute, also eine der Auffassung der Blütezeit des Altertums entsprechende Fabel beschaffen sein? Was sind die Gesetze, nach denen sich die Fabel zu richten hat, und nach denen sie be¬ urteilt sein will? Wie anders der heutige Forscher! Er fühlt sich nicht mehr schlechthin als Schüler der Alten, denn er hat sich durch manche bittre Erfahrung zu der Erkenntnis durchgerungen, daß niemals eine Kultur, mag sie die edelste und beste sein, ohne weiteres auf einen fremden Boden zu verpflanzen ist, sondern daß sie bei aller Anregung von außen her doch nur in gesunder Kraft aus dem eignen Volkstum emporwachsen kann. Damit aber erweitert und verschiebt sich der Kreis dessen, was für ihn lehrreich und des tiefern Nachforschens wert ist. Nicht bloß die Kultur in ihrer höchsten Blüte scheint ihm nun anziehend, sondern auch jene Keime, jene zahllosen ungeschickten und doch hoffnungsvollen Versuche und Anfänge der Entwicklung, die dem Menschen des vorigen Jahr¬ hunderts abnorm, barbarisch und infolgedessen verächtlich erscheinen mußten; wir Wollen nicht mehr die Gemälde oder Statuen ausschließlich betrachten, wie sie rein und glänzend aus der Werkstätte des Künstlers hervorgehen, wir wollen selbst in die Werkstatt eindringen, die mühseligen Vorarbeiten prüfen und an ihnen das lernen, was das vollendete und erhabne Kunstwerk vor uns ver¬ schließt. Auch die Menschheit hat ihre Werkstätten der geistigen Bildung, und in der eines jeden Volks, mag auch nichts äußerlich glänzendes aus ihr hervor¬ gegangen sein, dürfen wir hoffen zu lernen und uns zu eigner Arbeit zu kräftigen. Jede Erkenntnis andrer ist ja zugleich ein Stück Selbsterkenntnis. Und indem wir somit die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts ins Auge fassen, folgen wir nur jenem großen Zuge der neuern Wissenschaft, dem die Welt nicht als etwas Starres, Gegebnes erscheint, sondern als ein Bewegliches, Ans- und Ineinanderfließendes. Einst schrak man vor dem Unentwickelten zurück, und die Übergangsformen verwarf man als der festen Norm nicht ent¬ sprechend; jetzt sucht man diese mit Unrecht verachteten Bindeglieder wieder auf und findet im Unvollkommnen die Erklärung des Vollendeten, in der unschein¬ baren Wurzel den Ursprung der Blüten und der Früchte. Die Ästhetik ist so ziemlich die letzte der Wissenschaften, die diesen Weg eingeschlagen haben, ja vielfach hat sie kaum damit begonnen und beschäftigt sich uoch ganz in alter Weise, statt zu beobachten, mit der Aufstellung fester Kunstregeln, um die sich der wahre Künstler nicht kümmert. Als rein geistige Disziplin wird die Ästhetik freilich niemals in derselben Weise zu forschen ver¬ mögen wie die Naturwissenschaften, denn es fehlt ihr deren wichtigstes Hilfs¬ mittel, das Experiment. Sie kann nicht willkürlich eine Entwicklung hervor¬ rufen und in ihren einzelnen Abschnitten verfolgen. Diesen Mangel aber kann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/391>, abgerufen am 23.07.2024.