Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Tierfabel

einer kurzen Blüte erfreuen, wie jene orientalischen Dichtungsformen, die im
Anfang unsers Jahrhunderts begeisterte Verehrer fanden und jetzt nur noch
von Einzelnen geschützt und von wenigen Nachzügler" gepflegt werden. Keine
Art der Dichtung aber ist in unsrer Zeit so schnell und so gründlich von ihrer
Höhe herabgestürzt wie die Fabeldichtung, die im Altertum selbst einen Geist
wie Plato verleiten konnte, sie als erste Gattung der Poesie zu bezeichnen,
und die im vorigen Jahrhundert eine glänzende Nachblüte feierte, durch
Lafontaine in Frankreich, durch Gellert, Hagedorn, Lichtwer und andre in
Deutschland zur dichterischen Lieblingsform des Volkes erhoben und durch
Lesstngs theoretische Untersuchung und schöpferische Neugestaltung geadelt wurde.
Wolf, der charakteristischste und einflußreichste Philosoph seiner Zeit, sah wie
Plato in ihr die vorzüglichste Form der Dichtkunst, und selbst Gottsched und
die Schweizer, sonst die erbittertsten Feinde, waren einig in dem Preise der
Fabel. Wenn etwas damals einer glänzenden Entwicklung entgegenzugehen
und fortan einer unbestrittenen Geltung gewiß zu sein schien, so war es die
Fabeldichtung. Jetzt liegt sie traurig am Boden, und wir können nicht hoffen,
vielleicht nicht einmal wünschen, daß sie sich wieder erhebe. Kaum daß sich
in der Kinderstube und in den untern Schulklassen uoch dankbare Hörer und
Leser finden. Die wenigen neuern Versuche der Fabeldichtung sind, wenn sie
sich nicht unmittelbar an die Kinder wandten und der kindlichen Anschauung
anpaßten, ohne Beifall geblieben.

Die Frage, wie ein solches Schicksal zu erklären sein mag, wie ein ehe¬
mals so frischer und blühender Zweig der Dichtkunst so rasch und so hoff¬
nungslos zu Grunde gehen konnte, verdient Wohl den Versuch einer Antwort.
Um was handelt es sich eigentlich bei der Fabel? Bekanntlich hat Lessing
versucht, eine scharfe, endgiltige Definition der Fabel zu geben und ihr damit
nicht nur eine bestimmte Stellung in der Dichtkunst anzuweisen, sondern auch
ihren Zweck und Ursprung aufzuklären.

Lessing bekämpft in seinen ,,Abhandlungen über die Fabel" zunächst die
Erklärungen einiger seiner Vorgänger. De la Motte nennt die Fabel "eine
unter der Allegorie einer Handlung versteckte Lehre," Richer "ein kleines Ge¬
dicht, das irgend eine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthält,"
Vatteux sogar einfach "die Erzählung einer allegorischen Handlung." Lessing
erkennt dagegen ganz richtig, daß die Hauptseite der Fabel in ihrer Verwendung
menschlich sprechender und handelnder Tiere oder selbst unbelebter Gegenstände
liegt, so wenig er sich auch von der Anschauung losmachen kann, daß der
lehrhafte Inhalt der Fabel Kern und Zweck des Ganzen sein müsse. So bleibt
er auf halbem Wege stehen; auch in seinen Augen wendet der Fabulist
uicht die sprechenden Tiere an, weil er sie bereits in der Volksanschauung
vorfindet, sondern er verhüllt absichtlich eine menschliche Begebenheit in die
Tierfabel, er erfindet die Fabel, weil sie für seine Zwecke die brauchbarste


Die Tierfabel

einer kurzen Blüte erfreuen, wie jene orientalischen Dichtungsformen, die im
Anfang unsers Jahrhunderts begeisterte Verehrer fanden und jetzt nur noch
von Einzelnen geschützt und von wenigen Nachzügler» gepflegt werden. Keine
Art der Dichtung aber ist in unsrer Zeit so schnell und so gründlich von ihrer
Höhe herabgestürzt wie die Fabeldichtung, die im Altertum selbst einen Geist
wie Plato verleiten konnte, sie als erste Gattung der Poesie zu bezeichnen,
und die im vorigen Jahrhundert eine glänzende Nachblüte feierte, durch
Lafontaine in Frankreich, durch Gellert, Hagedorn, Lichtwer und andre in
Deutschland zur dichterischen Lieblingsform des Volkes erhoben und durch
Lesstngs theoretische Untersuchung und schöpferische Neugestaltung geadelt wurde.
Wolf, der charakteristischste und einflußreichste Philosoph seiner Zeit, sah wie
Plato in ihr die vorzüglichste Form der Dichtkunst, und selbst Gottsched und
die Schweizer, sonst die erbittertsten Feinde, waren einig in dem Preise der
Fabel. Wenn etwas damals einer glänzenden Entwicklung entgegenzugehen
und fortan einer unbestrittenen Geltung gewiß zu sein schien, so war es die
Fabeldichtung. Jetzt liegt sie traurig am Boden, und wir können nicht hoffen,
vielleicht nicht einmal wünschen, daß sie sich wieder erhebe. Kaum daß sich
in der Kinderstube und in den untern Schulklassen uoch dankbare Hörer und
Leser finden. Die wenigen neuern Versuche der Fabeldichtung sind, wenn sie
sich nicht unmittelbar an die Kinder wandten und der kindlichen Anschauung
anpaßten, ohne Beifall geblieben.

Die Frage, wie ein solches Schicksal zu erklären sein mag, wie ein ehe¬
mals so frischer und blühender Zweig der Dichtkunst so rasch und so hoff¬
nungslos zu Grunde gehen konnte, verdient Wohl den Versuch einer Antwort.
Um was handelt es sich eigentlich bei der Fabel? Bekanntlich hat Lessing
versucht, eine scharfe, endgiltige Definition der Fabel zu geben und ihr damit
nicht nur eine bestimmte Stellung in der Dichtkunst anzuweisen, sondern auch
ihren Zweck und Ursprung aufzuklären.

Lessing bekämpft in seinen ,,Abhandlungen über die Fabel" zunächst die
Erklärungen einiger seiner Vorgänger. De la Motte nennt die Fabel „eine
unter der Allegorie einer Handlung versteckte Lehre," Richer „ein kleines Ge¬
dicht, das irgend eine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthält,"
Vatteux sogar einfach „die Erzählung einer allegorischen Handlung." Lessing
erkennt dagegen ganz richtig, daß die Hauptseite der Fabel in ihrer Verwendung
menschlich sprechender und handelnder Tiere oder selbst unbelebter Gegenstände
liegt, so wenig er sich auch von der Anschauung losmachen kann, daß der
lehrhafte Inhalt der Fabel Kern und Zweck des Ganzen sein müsse. So bleibt
er auf halbem Wege stehen; auch in seinen Augen wendet der Fabulist
uicht die sprechenden Tiere an, weil er sie bereits in der Volksanschauung
vorfindet, sondern er verhüllt absichtlich eine menschliche Begebenheit in die
Tierfabel, er erfindet die Fabel, weil sie für seine Zwecke die brauchbarste


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0389" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225317"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Tierfabel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1296" prev="#ID_1295"> einer kurzen Blüte erfreuen, wie jene orientalischen Dichtungsformen, die im<lb/>
Anfang unsers Jahrhunderts begeisterte Verehrer fanden und jetzt nur noch<lb/>
von Einzelnen geschützt und von wenigen Nachzügler» gepflegt werden. Keine<lb/>
Art der Dichtung aber ist in unsrer Zeit so schnell und so gründlich von ihrer<lb/>
Höhe herabgestürzt wie die Fabeldichtung, die im Altertum selbst einen Geist<lb/>
wie Plato verleiten konnte, sie als erste Gattung der Poesie zu bezeichnen,<lb/>
und die im vorigen Jahrhundert eine glänzende Nachblüte feierte, durch<lb/>
Lafontaine in Frankreich, durch Gellert, Hagedorn, Lichtwer und andre in<lb/>
Deutschland zur dichterischen Lieblingsform des Volkes erhoben und durch<lb/>
Lesstngs theoretische Untersuchung und schöpferische Neugestaltung geadelt wurde.<lb/>
Wolf, der charakteristischste und einflußreichste Philosoph seiner Zeit, sah wie<lb/>
Plato in ihr die vorzüglichste Form der Dichtkunst, und selbst Gottsched und<lb/>
die Schweizer, sonst die erbittertsten Feinde, waren einig in dem Preise der<lb/>
Fabel. Wenn etwas damals einer glänzenden Entwicklung entgegenzugehen<lb/>
und fortan einer unbestrittenen Geltung gewiß zu sein schien, so war es die<lb/>
Fabeldichtung. Jetzt liegt sie traurig am Boden, und wir können nicht hoffen,<lb/>
vielleicht nicht einmal wünschen, daß sie sich wieder erhebe. Kaum daß sich<lb/>
in der Kinderstube und in den untern Schulklassen uoch dankbare Hörer und<lb/>
Leser finden. Die wenigen neuern Versuche der Fabeldichtung sind, wenn sie<lb/>
sich nicht unmittelbar an die Kinder wandten und der kindlichen Anschauung<lb/>
anpaßten, ohne Beifall geblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1297"> Die Frage, wie ein solches Schicksal zu erklären sein mag, wie ein ehe¬<lb/>
mals so frischer und blühender Zweig der Dichtkunst so rasch und so hoff¬<lb/>
nungslos zu Grunde gehen konnte, verdient Wohl den Versuch einer Antwort.<lb/>
Um was handelt es sich eigentlich bei der Fabel? Bekanntlich hat Lessing<lb/>
versucht, eine scharfe, endgiltige Definition der Fabel zu geben und ihr damit<lb/>
nicht nur eine bestimmte Stellung in der Dichtkunst anzuweisen, sondern auch<lb/>
ihren Zweck und Ursprung aufzuklären.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1298" next="#ID_1299"> Lessing bekämpft in seinen ,,Abhandlungen über die Fabel" zunächst die<lb/>
Erklärungen einiger seiner Vorgänger. De la Motte nennt die Fabel &#x201E;eine<lb/>
unter der Allegorie einer Handlung versteckte Lehre," Richer &#x201E;ein kleines Ge¬<lb/>
dicht, das irgend eine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthält,"<lb/>
Vatteux sogar einfach &#x201E;die Erzählung einer allegorischen Handlung." Lessing<lb/>
erkennt dagegen ganz richtig, daß die Hauptseite der Fabel in ihrer Verwendung<lb/>
menschlich sprechender und handelnder Tiere oder selbst unbelebter Gegenstände<lb/>
liegt, so wenig er sich auch von der Anschauung losmachen kann, daß der<lb/>
lehrhafte Inhalt der Fabel Kern und Zweck des Ganzen sein müsse. So bleibt<lb/>
er auf halbem Wege stehen; auch in seinen Augen wendet der Fabulist<lb/>
uicht die sprechenden Tiere an, weil er sie bereits in der Volksanschauung<lb/>
vorfindet, sondern er verhüllt absichtlich eine menschliche Begebenheit in die<lb/>
Tierfabel, er erfindet die Fabel, weil sie für seine Zwecke die brauchbarste</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0389] Die Tierfabel einer kurzen Blüte erfreuen, wie jene orientalischen Dichtungsformen, die im Anfang unsers Jahrhunderts begeisterte Verehrer fanden und jetzt nur noch von Einzelnen geschützt und von wenigen Nachzügler» gepflegt werden. Keine Art der Dichtung aber ist in unsrer Zeit so schnell und so gründlich von ihrer Höhe herabgestürzt wie die Fabeldichtung, die im Altertum selbst einen Geist wie Plato verleiten konnte, sie als erste Gattung der Poesie zu bezeichnen, und die im vorigen Jahrhundert eine glänzende Nachblüte feierte, durch Lafontaine in Frankreich, durch Gellert, Hagedorn, Lichtwer und andre in Deutschland zur dichterischen Lieblingsform des Volkes erhoben und durch Lesstngs theoretische Untersuchung und schöpferische Neugestaltung geadelt wurde. Wolf, der charakteristischste und einflußreichste Philosoph seiner Zeit, sah wie Plato in ihr die vorzüglichste Form der Dichtkunst, und selbst Gottsched und die Schweizer, sonst die erbittertsten Feinde, waren einig in dem Preise der Fabel. Wenn etwas damals einer glänzenden Entwicklung entgegenzugehen und fortan einer unbestrittenen Geltung gewiß zu sein schien, so war es die Fabeldichtung. Jetzt liegt sie traurig am Boden, und wir können nicht hoffen, vielleicht nicht einmal wünschen, daß sie sich wieder erhebe. Kaum daß sich in der Kinderstube und in den untern Schulklassen uoch dankbare Hörer und Leser finden. Die wenigen neuern Versuche der Fabeldichtung sind, wenn sie sich nicht unmittelbar an die Kinder wandten und der kindlichen Anschauung anpaßten, ohne Beifall geblieben. Die Frage, wie ein solches Schicksal zu erklären sein mag, wie ein ehe¬ mals so frischer und blühender Zweig der Dichtkunst so rasch und so hoff¬ nungslos zu Grunde gehen konnte, verdient Wohl den Versuch einer Antwort. Um was handelt es sich eigentlich bei der Fabel? Bekanntlich hat Lessing versucht, eine scharfe, endgiltige Definition der Fabel zu geben und ihr damit nicht nur eine bestimmte Stellung in der Dichtkunst anzuweisen, sondern auch ihren Zweck und Ursprung aufzuklären. Lessing bekämpft in seinen ,,Abhandlungen über die Fabel" zunächst die Erklärungen einiger seiner Vorgänger. De la Motte nennt die Fabel „eine unter der Allegorie einer Handlung versteckte Lehre," Richer „ein kleines Ge¬ dicht, das irgend eine unter einem allegorischen Bilde versteckte Regel enthält," Vatteux sogar einfach „die Erzählung einer allegorischen Handlung." Lessing erkennt dagegen ganz richtig, daß die Hauptseite der Fabel in ihrer Verwendung menschlich sprechender und handelnder Tiere oder selbst unbelebter Gegenstände liegt, so wenig er sich auch von der Anschauung losmachen kann, daß der lehrhafte Inhalt der Fabel Kern und Zweck des Ganzen sein müsse. So bleibt er auf halbem Wege stehen; auch in seinen Augen wendet der Fabulist uicht die sprechenden Tiere an, weil er sie bereits in der Volksanschauung vorfindet, sondern er verhüllt absichtlich eine menschliche Begebenheit in die Tierfabel, er erfindet die Fabel, weil sie für seine Zwecke die brauchbarste

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/389
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/389>, abgerufen am 23.07.2024.