Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
München und Konstanz

liebe, Opern vorgezogen. In München hätte ich öfter ins Theater gehen
können, aber ich wußte, daß ich auf der Bühne gesprochnes nicht mehr
verstehen würde, und so blieb ich bei der Oper, für die mein Gehör noch
reichte. Später habe ich dann an andern Orten noch eine Anzahl Opernvor¬
stellungen genossen, jetzt habe ich auch davon nur noch so wenig, daß sich der
Besuch kaum lohnt. Aber ich weiß wenigstens, was eine Oper ist, während
ich nicht weiß, was ein gespieltes Stück ist, und nur das Bnchdrama kenne.
Auch den Gesang der Vögel giebt es nicht mehr für mich, den ich aber glück¬
licherweise ebenfalls kennen gelernt habe und in der Erinnerung festhalte. Es
ist interessant, eine solche Absperrung der Seele von ganzen Welt- und Lebens-
gebieten zu beobachten. Zunächst wird einem dadurch die ganze Bedeutung
des Satzes klar: Mo.it sse in intsllsow, cMä non ant-sa tusrit, in 8Mön,
eines Satzes, der von den Anhängern einer teils phantastischen, teils dogma¬
tischen Seelenlehre immer noch vernachlässigt wird. Dann lehrt einen diese
Beobachtung einen Satz der praktischen Lebenskunst. Beschränkung ist das
Wesen des Individuums, des einzelnen Geschöpfes. Kein Wesen könnte ein
einzelnes Wesen sein, wenn es alle Wesen wäre, und es müßte alle Wesen
sein, wenn es alles wissen, alles können, alles selbst erfahren und erleben,
alles genießen sollte. Die Schranke ist also Daseinsbedingung für das Einzel¬
wesen, aber für den Menschen, dem es gegeben ist, die Schranke denkend zu
überfliegen, dessen Vorstellen und Wünschen, dessen Sehnen und Streben
keine Schranken kennt, zugleich höchster Schmerz, ein Satz, dessen einseitige
Hervorhebung zum Pessimismus führt. Die Lebenskunst, die den Pessimismus
zu überwinden vermag, besteht nur darin, daß man sich einerseits in die
Schranken fügt, die einem Begabung, Leibesbeschaffenheit und Verhältnisse
ziehen, andrerseits aber die Schranken nicht aus Trägheit, Feigheit oder Mut¬
losigkeit voreilig zu eng steckt; ehe einer nicht tot ist, weiß er weder, was er
zu erringen, noch was er zu leisten vermag. Daher ist Luftschlösser bauen
bis zu einem Grade eine nützliche und löbliche Beschäftigung. Daß nun die
Absperrung vom Schauspiel zu den Entbehrungen und Einengungen gehörte,
die mir Schmerz verursacht haben, kann ich nicht sagen; mir ist die Sache stets
vollkomne" gleichgiltig gewesen. Und ich vermute, daß sie der großen Mehr¬
zahl meiner Mitmenschen ebenso gleichgiltig ist. Millionen Dörfler und Klein¬
städter bekommen in ihrem Leben kein Schauspiel zu sehen (wenigstens war das
früher der Fall; die allgemeine Dienstpflicht und der durch die Bahn vermittelte
lebhafte Verkehr mit den größern Städten könnte das wohl geändert haben),
und andre Millionen, die ab und zu einmal ins Theater gehen, können es
ebensogut auch lassen, ohne daß sie das als eine Entbehrung empfinden. In
den großen Zeitungen wird freilich das Theater als eines der allerwichtigsten
Lebensgebiete behandelt. Wenn man nun bedenkt, wie gering die Zahl der
Personen ist, für die das Theater wirklich Bedeutung hat, so kommt man zu


München und Konstanz

liebe, Opern vorgezogen. In München hätte ich öfter ins Theater gehen
können, aber ich wußte, daß ich auf der Bühne gesprochnes nicht mehr
verstehen würde, und so blieb ich bei der Oper, für die mein Gehör noch
reichte. Später habe ich dann an andern Orten noch eine Anzahl Opernvor¬
stellungen genossen, jetzt habe ich auch davon nur noch so wenig, daß sich der
Besuch kaum lohnt. Aber ich weiß wenigstens, was eine Oper ist, während
ich nicht weiß, was ein gespieltes Stück ist, und nur das Bnchdrama kenne.
Auch den Gesang der Vögel giebt es nicht mehr für mich, den ich aber glück¬
licherweise ebenfalls kennen gelernt habe und in der Erinnerung festhalte. Es
ist interessant, eine solche Absperrung der Seele von ganzen Welt- und Lebens-
gebieten zu beobachten. Zunächst wird einem dadurch die ganze Bedeutung
des Satzes klar: Mo.it sse in intsllsow, cMä non ant-sa tusrit, in 8Mön,
eines Satzes, der von den Anhängern einer teils phantastischen, teils dogma¬
tischen Seelenlehre immer noch vernachlässigt wird. Dann lehrt einen diese
Beobachtung einen Satz der praktischen Lebenskunst. Beschränkung ist das
Wesen des Individuums, des einzelnen Geschöpfes. Kein Wesen könnte ein
einzelnes Wesen sein, wenn es alle Wesen wäre, und es müßte alle Wesen
sein, wenn es alles wissen, alles können, alles selbst erfahren und erleben,
alles genießen sollte. Die Schranke ist also Daseinsbedingung für das Einzel¬
wesen, aber für den Menschen, dem es gegeben ist, die Schranke denkend zu
überfliegen, dessen Vorstellen und Wünschen, dessen Sehnen und Streben
keine Schranken kennt, zugleich höchster Schmerz, ein Satz, dessen einseitige
Hervorhebung zum Pessimismus führt. Die Lebenskunst, die den Pessimismus
zu überwinden vermag, besteht nur darin, daß man sich einerseits in die
Schranken fügt, die einem Begabung, Leibesbeschaffenheit und Verhältnisse
ziehen, andrerseits aber die Schranken nicht aus Trägheit, Feigheit oder Mut¬
losigkeit voreilig zu eng steckt; ehe einer nicht tot ist, weiß er weder, was er
zu erringen, noch was er zu leisten vermag. Daher ist Luftschlösser bauen
bis zu einem Grade eine nützliche und löbliche Beschäftigung. Daß nun die
Absperrung vom Schauspiel zu den Entbehrungen und Einengungen gehörte,
die mir Schmerz verursacht haben, kann ich nicht sagen; mir ist die Sache stets
vollkomne» gleichgiltig gewesen. Und ich vermute, daß sie der großen Mehr¬
zahl meiner Mitmenschen ebenso gleichgiltig ist. Millionen Dörfler und Klein¬
städter bekommen in ihrem Leben kein Schauspiel zu sehen (wenigstens war das
früher der Fall; die allgemeine Dienstpflicht und der durch die Bahn vermittelte
lebhafte Verkehr mit den größern Städten könnte das wohl geändert haben),
und andre Millionen, die ab und zu einmal ins Theater gehen, können es
ebensogut auch lassen, ohne daß sie das als eine Entbehrung empfinden. In
den großen Zeitungen wird freilich das Theater als eines der allerwichtigsten
Lebensgebiete behandelt. Wenn man nun bedenkt, wie gering die Zahl der
Personen ist, für die das Theater wirklich Bedeutung hat, so kommt man zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0331" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225259"/>
          <fw type="header" place="top"> München und Konstanz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1093" prev="#ID_1092" next="#ID_1094"> liebe, Opern vorgezogen. In München hätte ich öfter ins Theater gehen<lb/>
können, aber ich wußte, daß ich auf der Bühne gesprochnes nicht mehr<lb/>
verstehen würde, und so blieb ich bei der Oper, für die mein Gehör noch<lb/>
reichte. Später habe ich dann an andern Orten noch eine Anzahl Opernvor¬<lb/>
stellungen genossen, jetzt habe ich auch davon nur noch so wenig, daß sich der<lb/>
Besuch kaum lohnt. Aber ich weiß wenigstens, was eine Oper ist, während<lb/>
ich nicht weiß, was ein gespieltes Stück ist, und nur das Bnchdrama kenne.<lb/>
Auch den Gesang der Vögel giebt es nicht mehr für mich, den ich aber glück¬<lb/>
licherweise ebenfalls kennen gelernt habe und in der Erinnerung festhalte. Es<lb/>
ist interessant, eine solche Absperrung der Seele von ganzen Welt- und Lebens-<lb/>
gebieten zu beobachten. Zunächst wird einem dadurch die ganze Bedeutung<lb/>
des Satzes klar: Mo.it sse in intsllsow, cMä non ant-sa tusrit, in 8Mön,<lb/>
eines Satzes, der von den Anhängern einer teils phantastischen, teils dogma¬<lb/>
tischen Seelenlehre immer noch vernachlässigt wird. Dann lehrt einen diese<lb/>
Beobachtung einen Satz der praktischen Lebenskunst. Beschränkung ist das<lb/>
Wesen des Individuums, des einzelnen Geschöpfes. Kein Wesen könnte ein<lb/>
einzelnes Wesen sein, wenn es alle Wesen wäre, und es müßte alle Wesen<lb/>
sein, wenn es alles wissen, alles können, alles selbst erfahren und erleben,<lb/>
alles genießen sollte. Die Schranke ist also Daseinsbedingung für das Einzel¬<lb/>
wesen, aber für den Menschen, dem es gegeben ist, die Schranke denkend zu<lb/>
überfliegen, dessen Vorstellen und Wünschen, dessen Sehnen und Streben<lb/>
keine Schranken kennt, zugleich höchster Schmerz, ein Satz, dessen einseitige<lb/>
Hervorhebung zum Pessimismus führt. Die Lebenskunst, die den Pessimismus<lb/>
zu überwinden vermag, besteht nur darin, daß man sich einerseits in die<lb/>
Schranken fügt, die einem Begabung, Leibesbeschaffenheit und Verhältnisse<lb/>
ziehen, andrerseits aber die Schranken nicht aus Trägheit, Feigheit oder Mut¬<lb/>
losigkeit voreilig zu eng steckt; ehe einer nicht tot ist, weiß er weder, was er<lb/>
zu erringen, noch was er zu leisten vermag. Daher ist Luftschlösser bauen<lb/>
bis zu einem Grade eine nützliche und löbliche Beschäftigung. Daß nun die<lb/>
Absperrung vom Schauspiel zu den Entbehrungen und Einengungen gehörte,<lb/>
die mir Schmerz verursacht haben, kann ich nicht sagen; mir ist die Sache stets<lb/>
vollkomne» gleichgiltig gewesen. Und ich vermute, daß sie der großen Mehr¬<lb/>
zahl meiner Mitmenschen ebenso gleichgiltig ist. Millionen Dörfler und Klein¬<lb/>
städter bekommen in ihrem Leben kein Schauspiel zu sehen (wenigstens war das<lb/>
früher der Fall; die allgemeine Dienstpflicht und der durch die Bahn vermittelte<lb/>
lebhafte Verkehr mit den größern Städten könnte das wohl geändert haben),<lb/>
und andre Millionen, die ab und zu einmal ins Theater gehen, können es<lb/>
ebensogut auch lassen, ohne daß sie das als eine Entbehrung empfinden. In<lb/>
den großen Zeitungen wird freilich das Theater als eines der allerwichtigsten<lb/>
Lebensgebiete behandelt. Wenn man nun bedenkt, wie gering die Zahl der<lb/>
Personen ist, für die das Theater wirklich Bedeutung hat, so kommt man zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0331] München und Konstanz liebe, Opern vorgezogen. In München hätte ich öfter ins Theater gehen können, aber ich wußte, daß ich auf der Bühne gesprochnes nicht mehr verstehen würde, und so blieb ich bei der Oper, für die mein Gehör noch reichte. Später habe ich dann an andern Orten noch eine Anzahl Opernvor¬ stellungen genossen, jetzt habe ich auch davon nur noch so wenig, daß sich der Besuch kaum lohnt. Aber ich weiß wenigstens, was eine Oper ist, während ich nicht weiß, was ein gespieltes Stück ist, und nur das Bnchdrama kenne. Auch den Gesang der Vögel giebt es nicht mehr für mich, den ich aber glück¬ licherweise ebenfalls kennen gelernt habe und in der Erinnerung festhalte. Es ist interessant, eine solche Absperrung der Seele von ganzen Welt- und Lebens- gebieten zu beobachten. Zunächst wird einem dadurch die ganze Bedeutung des Satzes klar: Mo.it sse in intsllsow, cMä non ant-sa tusrit, in 8Mön, eines Satzes, der von den Anhängern einer teils phantastischen, teils dogma¬ tischen Seelenlehre immer noch vernachlässigt wird. Dann lehrt einen diese Beobachtung einen Satz der praktischen Lebenskunst. Beschränkung ist das Wesen des Individuums, des einzelnen Geschöpfes. Kein Wesen könnte ein einzelnes Wesen sein, wenn es alle Wesen wäre, und es müßte alle Wesen sein, wenn es alles wissen, alles können, alles selbst erfahren und erleben, alles genießen sollte. Die Schranke ist also Daseinsbedingung für das Einzel¬ wesen, aber für den Menschen, dem es gegeben ist, die Schranke denkend zu überfliegen, dessen Vorstellen und Wünschen, dessen Sehnen und Streben keine Schranken kennt, zugleich höchster Schmerz, ein Satz, dessen einseitige Hervorhebung zum Pessimismus führt. Die Lebenskunst, die den Pessimismus zu überwinden vermag, besteht nur darin, daß man sich einerseits in die Schranken fügt, die einem Begabung, Leibesbeschaffenheit und Verhältnisse ziehen, andrerseits aber die Schranken nicht aus Trägheit, Feigheit oder Mut¬ losigkeit voreilig zu eng steckt; ehe einer nicht tot ist, weiß er weder, was er zu erringen, noch was er zu leisten vermag. Daher ist Luftschlösser bauen bis zu einem Grade eine nützliche und löbliche Beschäftigung. Daß nun die Absperrung vom Schauspiel zu den Entbehrungen und Einengungen gehörte, die mir Schmerz verursacht haben, kann ich nicht sagen; mir ist die Sache stets vollkomne» gleichgiltig gewesen. Und ich vermute, daß sie der großen Mehr¬ zahl meiner Mitmenschen ebenso gleichgiltig ist. Millionen Dörfler und Klein¬ städter bekommen in ihrem Leben kein Schauspiel zu sehen (wenigstens war das früher der Fall; die allgemeine Dienstpflicht und der durch die Bahn vermittelte lebhafte Verkehr mit den größern Städten könnte das wohl geändert haben), und andre Millionen, die ab und zu einmal ins Theater gehen, können es ebensogut auch lassen, ohne daß sie das als eine Entbehrung empfinden. In den großen Zeitungen wird freilich das Theater als eines der allerwichtigsten Lebensgebiete behandelt. Wenn man nun bedenkt, wie gering die Zahl der Personen ist, für die das Theater wirklich Bedeutung hat, so kommt man zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/331
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/331>, abgerufen am 23.07.2024.