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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

Glaubensgenossen möchten ihren Schuldnern Erleichterungen gewähren und
alles unterlassen, was die alten Vorurteile wieder beleben könnte. Die
Regierung brachte keinen weitern Gesetzentwurf ein, und damit hätte die
Sache erledigt sein sollen. Aber die Gerichtshöfe des Elsaß waren andrer
Ansicht. Der Appellhof in Kolmar hatte am 10. Februar 1809 entschieden,
daß der Eid, durch den die "deutschen Juden" die Nichtigkeit einer beanstan¬
deten Forderung zu erhärten hatten, mors Mäaioo zu schwören sei, und zwar
nach der alten Formel, die die entsetzlichsten Verwünschungen für den Mein¬
eidigen enthielt. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fülle wurde die
Eidesleistung abgelehnt; nach Nachrichten aus jener Zeit wurde durch Hand¬
habung des Dekrets von 1808 das Ergebnis erzielt, daß sechzig von siebzig
Millionen der jüdischen Guthaben für nichtig erklärt wurden. Die Ver¬
urteilungen gegen Wucher im Bereiche des Appellhofes in Kolmar erfolgten
fast ausschließlich gegen Juden, während z. B. der Appellhof in Nimes am
10. Januar 1827 die Erklärung abgeben konnte, daß seit 1808 im ganzen
Süden Frankreichs unter den vielen Tausenden von Urteilen wegen Wuchers
nur zwei gegen Juden gerichtet gewesen seien. Während die Juden im Süden
Frankreichs längst durch Grundbesitz, durch feste Handelsgeschäfte oder Gewerbe
die Wahlfähigkeit hatten, zählte man um 1845 im ganzen Oberelsaß nur vier¬
undsiebzig wahlberechtigte Juden; im ganzen Elsaß war damals nur ein ein¬
ziger Jude Beamter; die Juden des Elsaß waren noch immer strenge Tal-
mudisten, und da sie sich sür den Vorabend des Sabbath und für diesen selbst
wie während der zahlreichen Festtage jeder Arbeit enthielten und überdies sich
der durch die Bourbons wieder eingeführten Heiligung des Sonntags fügen
mußten, feierten sie fast während der Hälfte des Jahres und waren für ständige
Arbeiten nicht zu gebrauchen. Die geachteten Namen von Juden in Frankreich
gehörten damals alle dem Süden, der Einwanderung aus Portugal, an.

Der Gerichtshof in Kolmar hielt auch nach 1818, d. h. nach Ablauf der
Geltungsfrist für die Dekrete von 1808, an der Rechtsprechung über den
Beweiseid der Juden fest. In einer Entscheidung vom 13. Januar 1828
führte der Gerichtshof in Kolmar aus, das bürgerliche Gesetz (Z 121 des
Loclö 6ö xroeväuro civils) habe nur die bürgerliche Form des Eides ge¬
regelt, aber nicht dessen religiösen Inhalt, den das Edikt von 1784 festgelegt
habe, das demnach für die nach dem Talmud betenden elsässischen Juden noch
bindend sei, während die portugiesischen, dem reinen Mosaischen Ritus an¬
hängenden Juden schon 1728 bezüglich des Eides den Christen hätten gleichgestellt
werden können. Auch den Quäkern sei durch einen Spruch des Kassationshofes
vom 28. März 1810 gestattet worden, nach ihrer Art zu schwören; die Juden
nähmen auch keinen Anstand, in Rechtsstreitigkeiten unter sich nach jüdischem
Ritus zu schwören. Diese Entscheidung blieb noch volle siebzehn Jahre ma߬
gebend für den Gerichtsbrauch. Erst 1846 verwarf der Kassationshof auf einen


Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

Glaubensgenossen möchten ihren Schuldnern Erleichterungen gewähren und
alles unterlassen, was die alten Vorurteile wieder beleben könnte. Die
Regierung brachte keinen weitern Gesetzentwurf ein, und damit hätte die
Sache erledigt sein sollen. Aber die Gerichtshöfe des Elsaß waren andrer
Ansicht. Der Appellhof in Kolmar hatte am 10. Februar 1809 entschieden,
daß der Eid, durch den die „deutschen Juden" die Nichtigkeit einer beanstan¬
deten Forderung zu erhärten hatten, mors Mäaioo zu schwören sei, und zwar
nach der alten Formel, die die entsetzlichsten Verwünschungen für den Mein¬
eidigen enthielt. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fülle wurde die
Eidesleistung abgelehnt; nach Nachrichten aus jener Zeit wurde durch Hand¬
habung des Dekrets von 1808 das Ergebnis erzielt, daß sechzig von siebzig
Millionen der jüdischen Guthaben für nichtig erklärt wurden. Die Ver¬
urteilungen gegen Wucher im Bereiche des Appellhofes in Kolmar erfolgten
fast ausschließlich gegen Juden, während z. B. der Appellhof in Nimes am
10. Januar 1827 die Erklärung abgeben konnte, daß seit 1808 im ganzen
Süden Frankreichs unter den vielen Tausenden von Urteilen wegen Wuchers
nur zwei gegen Juden gerichtet gewesen seien. Während die Juden im Süden
Frankreichs längst durch Grundbesitz, durch feste Handelsgeschäfte oder Gewerbe
die Wahlfähigkeit hatten, zählte man um 1845 im ganzen Oberelsaß nur vier¬
undsiebzig wahlberechtigte Juden; im ganzen Elsaß war damals nur ein ein¬
ziger Jude Beamter; die Juden des Elsaß waren noch immer strenge Tal-
mudisten, und da sie sich sür den Vorabend des Sabbath und für diesen selbst
wie während der zahlreichen Festtage jeder Arbeit enthielten und überdies sich
der durch die Bourbons wieder eingeführten Heiligung des Sonntags fügen
mußten, feierten sie fast während der Hälfte des Jahres und waren für ständige
Arbeiten nicht zu gebrauchen. Die geachteten Namen von Juden in Frankreich
gehörten damals alle dem Süden, der Einwanderung aus Portugal, an.

Der Gerichtshof in Kolmar hielt auch nach 1818, d. h. nach Ablauf der
Geltungsfrist für die Dekrete von 1808, an der Rechtsprechung über den
Beweiseid der Juden fest. In einer Entscheidung vom 13. Januar 1828
führte der Gerichtshof in Kolmar aus, das bürgerliche Gesetz (Z 121 des
Loclö 6ö xroeväuro civils) habe nur die bürgerliche Form des Eides ge¬
regelt, aber nicht dessen religiösen Inhalt, den das Edikt von 1784 festgelegt
habe, das demnach für die nach dem Talmud betenden elsässischen Juden noch
bindend sei, während die portugiesischen, dem reinen Mosaischen Ritus an¬
hängenden Juden schon 1728 bezüglich des Eides den Christen hätten gleichgestellt
werden können. Auch den Quäkern sei durch einen Spruch des Kassationshofes
vom 28. März 1810 gestattet worden, nach ihrer Art zu schwören; die Juden
nähmen auch keinen Anstand, in Rechtsstreitigkeiten unter sich nach jüdischem
Ritus zu schwören. Diese Entscheidung blieb noch volle siebzehn Jahre ma߬
gebend für den Gerichtsbrauch. Erst 1846 verwarf der Kassationshof auf einen


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[0288] Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich Glaubensgenossen möchten ihren Schuldnern Erleichterungen gewähren und alles unterlassen, was die alten Vorurteile wieder beleben könnte. Die Regierung brachte keinen weitern Gesetzentwurf ein, und damit hätte die Sache erledigt sein sollen. Aber die Gerichtshöfe des Elsaß waren andrer Ansicht. Der Appellhof in Kolmar hatte am 10. Februar 1809 entschieden, daß der Eid, durch den die „deutschen Juden" die Nichtigkeit einer beanstan¬ deten Forderung zu erhärten hatten, mors Mäaioo zu schwören sei, und zwar nach der alten Formel, die die entsetzlichsten Verwünschungen für den Mein¬ eidigen enthielt. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fülle wurde die Eidesleistung abgelehnt; nach Nachrichten aus jener Zeit wurde durch Hand¬ habung des Dekrets von 1808 das Ergebnis erzielt, daß sechzig von siebzig Millionen der jüdischen Guthaben für nichtig erklärt wurden. Die Ver¬ urteilungen gegen Wucher im Bereiche des Appellhofes in Kolmar erfolgten fast ausschließlich gegen Juden, während z. B. der Appellhof in Nimes am 10. Januar 1827 die Erklärung abgeben konnte, daß seit 1808 im ganzen Süden Frankreichs unter den vielen Tausenden von Urteilen wegen Wuchers nur zwei gegen Juden gerichtet gewesen seien. Während die Juden im Süden Frankreichs längst durch Grundbesitz, durch feste Handelsgeschäfte oder Gewerbe die Wahlfähigkeit hatten, zählte man um 1845 im ganzen Oberelsaß nur vier¬ undsiebzig wahlberechtigte Juden; im ganzen Elsaß war damals nur ein ein¬ ziger Jude Beamter; die Juden des Elsaß waren noch immer strenge Tal- mudisten, und da sie sich sür den Vorabend des Sabbath und für diesen selbst wie während der zahlreichen Festtage jeder Arbeit enthielten und überdies sich der durch die Bourbons wieder eingeführten Heiligung des Sonntags fügen mußten, feierten sie fast während der Hälfte des Jahres und waren für ständige Arbeiten nicht zu gebrauchen. Die geachteten Namen von Juden in Frankreich gehörten damals alle dem Süden, der Einwanderung aus Portugal, an. Der Gerichtshof in Kolmar hielt auch nach 1818, d. h. nach Ablauf der Geltungsfrist für die Dekrete von 1808, an der Rechtsprechung über den Beweiseid der Juden fest. In einer Entscheidung vom 13. Januar 1828 führte der Gerichtshof in Kolmar aus, das bürgerliche Gesetz (Z 121 des Loclö 6ö xroeväuro civils) habe nur die bürgerliche Form des Eides ge¬ regelt, aber nicht dessen religiösen Inhalt, den das Edikt von 1784 festgelegt habe, das demnach für die nach dem Talmud betenden elsässischen Juden noch bindend sei, während die portugiesischen, dem reinen Mosaischen Ritus an¬ hängenden Juden schon 1728 bezüglich des Eides den Christen hätten gleichgestellt werden können. Auch den Quäkern sei durch einen Spruch des Kassationshofes vom 28. März 1810 gestattet worden, nach ihrer Art zu schwören; die Juden nähmen auch keinen Anstand, in Rechtsstreitigkeiten unter sich nach jüdischem Ritus zu schwören. Diese Entscheidung blieb noch volle siebzehn Jahre ma߬ gebend für den Gerichtsbrauch. Erst 1846 verwarf der Kassationshof auf einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/288>, abgerufen am 23.07.2024.