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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

hielten, sollten ebenfalls für nichtig erklärt werden; die Gerichte sollten ermächtigt
werden, den Zinsfuß bis auf fünf Prozent herabzusetzen und überdies den Schuld¬
nern Zahlungsfristen zu gewähren. Keinerlei Schuldurkunde zu Gunsten eines
Juden (mit Ausnahme der Handelsschulden) sollte beigetrieben werden können,
wenn nicht der Beweis geführt würde, daß der Schuldbetrag ganz und ohne
Wucher geliefert worden sei. Juden sollten Handel oder Gewerbe irgend welcher
Art, ohne vorher beim Prcifekten ein jährlich zu erneuerndes Patent gelöst zu
haben, bei Vermeidung der Nichtigkeit jeder Handlung nicht betreiben können.
Im Ober- und Niederrhein sollte kein Jude mehr Wohnung nehmen dürfen, in
keinem Departement des Reichs aber sollten Juden zugelassen werden, die nicht
schon irgendwo im Reiche ein Domizil Hütten. Von der Befugnis, Stell¬
vertreter zum Heeresdienste zu stellen, sollten Juden ausgeschlossen und zur
persönlichen Dienstleistung angehalten werden (erst 1812 wurde Stellvertretung
durch Glaubensgenossen gestattet). Diese Dekrete sollten zunächst zehn Jahre in
Geltung bleiben; auf die eigentlichen französischen Juden in Bordeaux und in
den Departements der Gironde und des Landes sollten sie keine Anwendung
finden (n'g^ut clonuv usu g. auouus xlaints ol mz hö livraut pg,s g. un tiAÜo
iUioits). Die Dekrete waren also Ausnahmegesetze gegen die deutschen Juden
im Elsaß; den südfranzösischen Juden wurden durch Dekret vom 26. Dezember
1813 die von Paris gleich gestellt. Der Kaiser hatte den festen Vorsatz aus¬
gesprochen, durch solche Mittel die Juden des Elsaß in die bürgerlichen Sitten¬
gesetze des Landes einzuführen, und hatte zu diesem Zwecke Maßregeln er¬
griffen, die 1718 gegen die Juden von Metz vom Staatsrate verhängt worden
waren. Schon 1806 hatte der Kaiser der Versammlung jüdischer Abgeord¬
neten in Paris durch den Minister eröffnen lassen: "Ihr habt keinen Grund
mehr zur Klage; ihr könnt euch also künftig nicht mehr durch die alten Klage¬
gründe rechtfertigen."

Als die Bourbonen durch die Charte von 1814 die Grundsätze der Gleich¬
heit wieder hergestellt hatten, galten gleichwohl die Dekrete von 1808 noch
für anwendbar nach dem Satze: I^ox xostsrior ZöiwiÄis non äeroZat Moi-I
sxLemIi, da das Ausnahmegesetz als ein örtliches galt. Als die Frist für die
Giltigkeit der Dekrete sich ihrem Ende näherte, wurden aus verschiednen
Departements, ganz besonders dringlich aus dem Ober- und Unterelsaß An¬
träge der Generalräte an das Ministerium gerichtet, daß die Ausnahmedekrete
gegen die "deutschen Juden" auf weitere zehn Jahre verlängert oder doch ein
Übergangsgesetz erlassen werden möchte. Die Anträge, über die die Kammer
der Pairs zur Tagesordnung überging, wurde von der Kammer der Deputirten
der Regierung mit nachdrücklicher Begründung zur Erwägung überwiesen
(Sitzung vom 26. Februar 1818). Das israelitische Oberkonststorium zu
Paris richtete im Mai 1818 ein Rundschreiben an die Konsistorien der
unter dem Ausnahmegesetze stehenden Departements mit der Mahnung, die


Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich

hielten, sollten ebenfalls für nichtig erklärt werden; die Gerichte sollten ermächtigt
werden, den Zinsfuß bis auf fünf Prozent herabzusetzen und überdies den Schuld¬
nern Zahlungsfristen zu gewähren. Keinerlei Schuldurkunde zu Gunsten eines
Juden (mit Ausnahme der Handelsschulden) sollte beigetrieben werden können,
wenn nicht der Beweis geführt würde, daß der Schuldbetrag ganz und ohne
Wucher geliefert worden sei. Juden sollten Handel oder Gewerbe irgend welcher
Art, ohne vorher beim Prcifekten ein jährlich zu erneuerndes Patent gelöst zu
haben, bei Vermeidung der Nichtigkeit jeder Handlung nicht betreiben können.
Im Ober- und Niederrhein sollte kein Jude mehr Wohnung nehmen dürfen, in
keinem Departement des Reichs aber sollten Juden zugelassen werden, die nicht
schon irgendwo im Reiche ein Domizil Hütten. Von der Befugnis, Stell¬
vertreter zum Heeresdienste zu stellen, sollten Juden ausgeschlossen und zur
persönlichen Dienstleistung angehalten werden (erst 1812 wurde Stellvertretung
durch Glaubensgenossen gestattet). Diese Dekrete sollten zunächst zehn Jahre in
Geltung bleiben; auf die eigentlichen französischen Juden in Bordeaux und in
den Departements der Gironde und des Landes sollten sie keine Anwendung
finden (n'g^ut clonuv usu g. auouus xlaints ol mz hö livraut pg,s g. un tiAÜo
iUioits). Die Dekrete waren also Ausnahmegesetze gegen die deutschen Juden
im Elsaß; den südfranzösischen Juden wurden durch Dekret vom 26. Dezember
1813 die von Paris gleich gestellt. Der Kaiser hatte den festen Vorsatz aus¬
gesprochen, durch solche Mittel die Juden des Elsaß in die bürgerlichen Sitten¬
gesetze des Landes einzuführen, und hatte zu diesem Zwecke Maßregeln er¬
griffen, die 1718 gegen die Juden von Metz vom Staatsrate verhängt worden
waren. Schon 1806 hatte der Kaiser der Versammlung jüdischer Abgeord¬
neten in Paris durch den Minister eröffnen lassen: „Ihr habt keinen Grund
mehr zur Klage; ihr könnt euch also künftig nicht mehr durch die alten Klage¬
gründe rechtfertigen."

Als die Bourbonen durch die Charte von 1814 die Grundsätze der Gleich¬
heit wieder hergestellt hatten, galten gleichwohl die Dekrete von 1808 noch
für anwendbar nach dem Satze: I^ox xostsrior ZöiwiÄis non äeroZat Moi-I
sxLemIi, da das Ausnahmegesetz als ein örtliches galt. Als die Frist für die
Giltigkeit der Dekrete sich ihrem Ende näherte, wurden aus verschiednen
Departements, ganz besonders dringlich aus dem Ober- und Unterelsaß An¬
träge der Generalräte an das Ministerium gerichtet, daß die Ausnahmedekrete
gegen die „deutschen Juden" auf weitere zehn Jahre verlängert oder doch ein
Übergangsgesetz erlassen werden möchte. Die Anträge, über die die Kammer
der Pairs zur Tagesordnung überging, wurde von der Kammer der Deputirten
der Regierung mit nachdrücklicher Begründung zur Erwägung überwiesen
(Sitzung vom 26. Februar 1818). Das israelitische Oberkonststorium zu
Paris richtete im Mai 1818 ein Rundschreiben an die Konsistorien der
unter dem Ausnahmegesetze stehenden Departements mit der Mahnung, die


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[0287] Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich hielten, sollten ebenfalls für nichtig erklärt werden; die Gerichte sollten ermächtigt werden, den Zinsfuß bis auf fünf Prozent herabzusetzen und überdies den Schuld¬ nern Zahlungsfristen zu gewähren. Keinerlei Schuldurkunde zu Gunsten eines Juden (mit Ausnahme der Handelsschulden) sollte beigetrieben werden können, wenn nicht der Beweis geführt würde, daß der Schuldbetrag ganz und ohne Wucher geliefert worden sei. Juden sollten Handel oder Gewerbe irgend welcher Art, ohne vorher beim Prcifekten ein jährlich zu erneuerndes Patent gelöst zu haben, bei Vermeidung der Nichtigkeit jeder Handlung nicht betreiben können. Im Ober- und Niederrhein sollte kein Jude mehr Wohnung nehmen dürfen, in keinem Departement des Reichs aber sollten Juden zugelassen werden, die nicht schon irgendwo im Reiche ein Domizil Hütten. Von der Befugnis, Stell¬ vertreter zum Heeresdienste zu stellen, sollten Juden ausgeschlossen und zur persönlichen Dienstleistung angehalten werden (erst 1812 wurde Stellvertretung durch Glaubensgenossen gestattet). Diese Dekrete sollten zunächst zehn Jahre in Geltung bleiben; auf die eigentlichen französischen Juden in Bordeaux und in den Departements der Gironde und des Landes sollten sie keine Anwendung finden (n'g^ut clonuv usu g. auouus xlaints ol mz hö livraut pg,s g. un tiAÜo iUioits). Die Dekrete waren also Ausnahmegesetze gegen die deutschen Juden im Elsaß; den südfranzösischen Juden wurden durch Dekret vom 26. Dezember 1813 die von Paris gleich gestellt. Der Kaiser hatte den festen Vorsatz aus¬ gesprochen, durch solche Mittel die Juden des Elsaß in die bürgerlichen Sitten¬ gesetze des Landes einzuführen, und hatte zu diesem Zwecke Maßregeln er¬ griffen, die 1718 gegen die Juden von Metz vom Staatsrate verhängt worden waren. Schon 1806 hatte der Kaiser der Versammlung jüdischer Abgeord¬ neten in Paris durch den Minister eröffnen lassen: „Ihr habt keinen Grund mehr zur Klage; ihr könnt euch also künftig nicht mehr durch die alten Klage¬ gründe rechtfertigen." Als die Bourbonen durch die Charte von 1814 die Grundsätze der Gleich¬ heit wieder hergestellt hatten, galten gleichwohl die Dekrete von 1808 noch für anwendbar nach dem Satze: I^ox xostsrior ZöiwiÄis non äeroZat Moi-I sxLemIi, da das Ausnahmegesetz als ein örtliches galt. Als die Frist für die Giltigkeit der Dekrete sich ihrem Ende näherte, wurden aus verschiednen Departements, ganz besonders dringlich aus dem Ober- und Unterelsaß An¬ träge der Generalräte an das Ministerium gerichtet, daß die Ausnahmedekrete gegen die „deutschen Juden" auf weitere zehn Jahre verlängert oder doch ein Übergangsgesetz erlassen werden möchte. Die Anträge, über die die Kammer der Pairs zur Tagesordnung überging, wurde von der Kammer der Deputirten der Regierung mit nachdrücklicher Begründung zur Erwägung überwiesen (Sitzung vom 26. Februar 1818). Das israelitische Oberkonststorium zu Paris richtete im Mai 1818 ein Rundschreiben an die Konsistorien der unter dem Ausnahmegesetze stehenden Departements mit der Mahnung, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/287>, abgerufen am 23.07.2024.