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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Richters

religiöse Lehre oder einzelne Sätze derselben als solche, als Dogmen gegen be¬
schimpfende Angriffe schützen, sondern nur die christlichen Kirchen und die im
Gesetze erwähnten Religionsgesellschaften als solche und deren Einrichtungen und
Gebräuche. Eine Beschimpfung der Lehre oder einzelner Sätze derselben fällt
daher unter die Strafvvrschrift des Z 166 des Strafgesetzbuchs nur dann, wenn
der Thäter durch diesen Augriff die betreffende Kirche oder Religionsgesellschaft
selbst beschimpfen wollte.

Der Begriff der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft als
solcher wird weiterhin durch die Worte "als idealen Organismus gedacht"
erläutert.

Also: als Einrichtung eines idealen Organismus, wie die christliche Kirche
einer ist, ist die allgemeine Ordnung einer seine Existenz, Erhaltung und ge¬
deihliche Entwicklung betreffenden Angelegenheit anzusehen. Dagegen läßt sich
nichts sagen- Aber eine solche Ordnung sollen die zehn Gebote in der christ¬
lichen Kirche nicht sein. Nicht? Und was wäre die christliche Kirche ohne
die Herzensangelegenheit des Verhältnisses, in dem der natürliche Mensch zu
Gott steht, und in dem die in den zehn Geboten enthaltne Offenbarung des
göttlichen Willens erst Ordnung schafft? Sie wäre überhaupt nicht da, sondern
statt ihrer irgend eine Form des Heidentums. Da es aber nach der Meinung
des Reichsgerichts mit den zehn Geboten diese Bewandtnis nicht hat, so muß
die christliche Kirche vom Nechtsstandpunkte aus anders aussehen als im Leben.
Aber wie? Daß als sämtliche Angelegenheiten, die ihre "Existenz, Erhaltung
und gedeihliche Entwicklung" betreffen, nur ihre "Aufgaben, Interessen, Rechte
und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mitgliedern und nach außen"
aufgezählt werden, nötigt zu dem Schlüsse, daß sie lediglich von der Seite
ihrer äußern Erscheinung als korporatives Gebilde in der bürgerlichen Gesell¬
schaft aufgefaßt wird. Dann können freilich zu ihren Einrichtungen nur
Predigtamt, Kirchenbehörden, Kirchensteuern usw. gerechnet, die zehn Gebote
dagegen nur als Zusammenstellung sittlicher Grundsätze und Lehren angesehen
werden. Wer aber das Wesen der christlichen Kirche erkennt, der kann nicht
in Zweifel darüber sein, daß die zehn Gebote allerdings zu ihren Einrich¬
tungen gehören. Gleichviel: in der Anschauung der obersten Richter des
deutschen Reichs spiegelt sich die christliche Kirche nur als eine kahle juristische
Persönlichkeit.

Die Abkehr vom praktischen Leben ist es, an der der Jurist "als solcher"
krankt. Es ist ihm fremd, und er hat nicht einmal das Verlangen, es kennen
zu lernen. Seine eigentliche Thätigkeit, die Rechtsprechung, giebt ihm freilich
auch nicht regelmäßig unmittelbare Veranlassung, hinter dem grünen Tische
und dem Gesetzbuche hervorzukommen: der thatsächliche Stoff seiner Arbeit
wird ihm im Gerichtssaale von den rechtsuchenden Parteien und ihren Ver¬
tretern geliefert, und was sich davon nicht ohne weiteres in Rechtsstoff um-


Zur Naturgeschichte des Richters

religiöse Lehre oder einzelne Sätze derselben als solche, als Dogmen gegen be¬
schimpfende Angriffe schützen, sondern nur die christlichen Kirchen und die im
Gesetze erwähnten Religionsgesellschaften als solche und deren Einrichtungen und
Gebräuche. Eine Beschimpfung der Lehre oder einzelner Sätze derselben fällt
daher unter die Strafvvrschrift des Z 166 des Strafgesetzbuchs nur dann, wenn
der Thäter durch diesen Augriff die betreffende Kirche oder Religionsgesellschaft
selbst beschimpfen wollte.

Der Begriff der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft als
solcher wird weiterhin durch die Worte „als idealen Organismus gedacht"
erläutert.

Also: als Einrichtung eines idealen Organismus, wie die christliche Kirche
einer ist, ist die allgemeine Ordnung einer seine Existenz, Erhaltung und ge¬
deihliche Entwicklung betreffenden Angelegenheit anzusehen. Dagegen läßt sich
nichts sagen- Aber eine solche Ordnung sollen die zehn Gebote in der christ¬
lichen Kirche nicht sein. Nicht? Und was wäre die christliche Kirche ohne
die Herzensangelegenheit des Verhältnisses, in dem der natürliche Mensch zu
Gott steht, und in dem die in den zehn Geboten enthaltne Offenbarung des
göttlichen Willens erst Ordnung schafft? Sie wäre überhaupt nicht da, sondern
statt ihrer irgend eine Form des Heidentums. Da es aber nach der Meinung
des Reichsgerichts mit den zehn Geboten diese Bewandtnis nicht hat, so muß
die christliche Kirche vom Nechtsstandpunkte aus anders aussehen als im Leben.
Aber wie? Daß als sämtliche Angelegenheiten, die ihre „Existenz, Erhaltung
und gedeihliche Entwicklung" betreffen, nur ihre „Aufgaben, Interessen, Rechte
und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mitgliedern und nach außen"
aufgezählt werden, nötigt zu dem Schlüsse, daß sie lediglich von der Seite
ihrer äußern Erscheinung als korporatives Gebilde in der bürgerlichen Gesell¬
schaft aufgefaßt wird. Dann können freilich zu ihren Einrichtungen nur
Predigtamt, Kirchenbehörden, Kirchensteuern usw. gerechnet, die zehn Gebote
dagegen nur als Zusammenstellung sittlicher Grundsätze und Lehren angesehen
werden. Wer aber das Wesen der christlichen Kirche erkennt, der kann nicht
in Zweifel darüber sein, daß die zehn Gebote allerdings zu ihren Einrich¬
tungen gehören. Gleichviel: in der Anschauung der obersten Richter des
deutschen Reichs spiegelt sich die christliche Kirche nur als eine kahle juristische
Persönlichkeit.

Die Abkehr vom praktischen Leben ist es, an der der Jurist „als solcher"
krankt. Es ist ihm fremd, und er hat nicht einmal das Verlangen, es kennen
zu lernen. Seine eigentliche Thätigkeit, die Rechtsprechung, giebt ihm freilich
auch nicht regelmäßig unmittelbare Veranlassung, hinter dem grünen Tische
und dem Gesetzbuche hervorzukommen: der thatsächliche Stoff seiner Arbeit
wird ihm im Gerichtssaale von den rechtsuchenden Parteien und ihren Ver¬
tretern geliefert, und was sich davon nicht ohne weiteres in Rechtsstoff um-


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[0028] Zur Naturgeschichte des Richters religiöse Lehre oder einzelne Sätze derselben als solche, als Dogmen gegen be¬ schimpfende Angriffe schützen, sondern nur die christlichen Kirchen und die im Gesetze erwähnten Religionsgesellschaften als solche und deren Einrichtungen und Gebräuche. Eine Beschimpfung der Lehre oder einzelner Sätze derselben fällt daher unter die Strafvvrschrift des Z 166 des Strafgesetzbuchs nur dann, wenn der Thäter durch diesen Augriff die betreffende Kirche oder Religionsgesellschaft selbst beschimpfen wollte. Der Begriff der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft als solcher wird weiterhin durch die Worte „als idealen Organismus gedacht" erläutert. Also: als Einrichtung eines idealen Organismus, wie die christliche Kirche einer ist, ist die allgemeine Ordnung einer seine Existenz, Erhaltung und ge¬ deihliche Entwicklung betreffenden Angelegenheit anzusehen. Dagegen läßt sich nichts sagen- Aber eine solche Ordnung sollen die zehn Gebote in der christ¬ lichen Kirche nicht sein. Nicht? Und was wäre die christliche Kirche ohne die Herzensangelegenheit des Verhältnisses, in dem der natürliche Mensch zu Gott steht, und in dem die in den zehn Geboten enthaltne Offenbarung des göttlichen Willens erst Ordnung schafft? Sie wäre überhaupt nicht da, sondern statt ihrer irgend eine Form des Heidentums. Da es aber nach der Meinung des Reichsgerichts mit den zehn Geboten diese Bewandtnis nicht hat, so muß die christliche Kirche vom Nechtsstandpunkte aus anders aussehen als im Leben. Aber wie? Daß als sämtliche Angelegenheiten, die ihre „Existenz, Erhaltung und gedeihliche Entwicklung" betreffen, nur ihre „Aufgaben, Interessen, Rechte und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mitgliedern und nach außen" aufgezählt werden, nötigt zu dem Schlüsse, daß sie lediglich von der Seite ihrer äußern Erscheinung als korporatives Gebilde in der bürgerlichen Gesell¬ schaft aufgefaßt wird. Dann können freilich zu ihren Einrichtungen nur Predigtamt, Kirchenbehörden, Kirchensteuern usw. gerechnet, die zehn Gebote dagegen nur als Zusammenstellung sittlicher Grundsätze und Lehren angesehen werden. Wer aber das Wesen der christlichen Kirche erkennt, der kann nicht in Zweifel darüber sein, daß die zehn Gebote allerdings zu ihren Einrich¬ tungen gehören. Gleichviel: in der Anschauung der obersten Richter des deutschen Reichs spiegelt sich die christliche Kirche nur als eine kahle juristische Persönlichkeit. Die Abkehr vom praktischen Leben ist es, an der der Jurist „als solcher" krankt. Es ist ihm fremd, und er hat nicht einmal das Verlangen, es kennen zu lernen. Seine eigentliche Thätigkeit, die Rechtsprechung, giebt ihm freilich auch nicht regelmäßig unmittelbare Veranlassung, hinter dem grünen Tische und dem Gesetzbuche hervorzukommen: der thatsächliche Stoff seiner Arbeit wird ihm im Gerichtssaale von den rechtsuchenden Parteien und ihren Ver¬ tretern geliefert, und was sich davon nicht ohne weiteres in Rechtsstoff um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/28>, abgerufen am 23.07.2024.