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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Richters

die Anwendung des Gesetzes also möglichst den Bedürfnissen des praktischen
Lebens angepaßt werde. In dieser Kunst waren, wie bekannt, die altrömischen
Juristen Meister, obwohl auch unter ihnen von Alters her sich das entgegen¬
gesetzte Bestreben geltend machte, dem Leben abgewendet ausschließlich den Weg
der starren, unerbittlichen Logik des >s "Zivils zu.verfolgen. Nun, der Durch¬
schnittsrichter von heute neigt entschieden nach dieser Seite und findet seinen
edelsten Beruf darin, das Leben dem Gesetze anzupassen. Von jener sozusagen
reinmenschlichen Prüfung des einzelnen Falles sieht er grundsätzlich ab, er be¬
trachtet ihn von vornherein durch die juristische Brille und erkennt dadurch
sogleich die Merkmale, die ihn zur Auffindung der Zsäos niatmi-is befähigen,
worauf der Fall nach Schema x "im Wege Rechtens" erledigt wird. Rat
Mstitia, x"rgg.t iriuirdus.

Aus dieser Methode, die der gediegne Jurist mit Stolz als das betrachtet,
was ihn über das xi-ok^rü, ont^us derer erhebt, die nicht zu seinem Orden
gehören, ja was ihn zur Behandlung aller öffentlichen und Privatangelegen¬
heiten befähigt, erklärt sich die große Anzahl von gerichtlichen Entscheidungen,
die alle nicht ausschließlich rechtsverständigen Leute in Erstaunen setzen. Ich
will hier einen Fall aus der Praxis anführen, worin das, was hier behauptet
worden ist, besonders deutlich hervortritt.

§ 166 des Reichsstrafgesetzbuchs bedroht mit Strafe den, der öffentlich
eine der christlichen Kirchen oder eine andre mit Korporationsrechten innerhalb
des Bundesgebiets bestehende Rcligionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder
ihre Gebräuche beschimpft. Nun hatte jemand eine Schmähschrift gegen den
Kapitalismus von höchst religionsfeindlichen, unsittlichen und teilweise geradezu
unflätigem Inhalt in der Form der biblischen zehn Gebote, die durch die
Zahl der Thesen, die Überschrift, die Druckweise und vielfache Redewendungen
deutlich erkennbar gemacht war, verfaßt und durch Druck veröffentlicht. Ein
Landgericht sah hierin den Thatbestand des erwähnten Paragraphen, da es die
zehn Gebote als eine Einrichtung der christlichen Kirche und der jüdischen
Neligionsgesellschaft ansah. Aber das Reichsgericht verwarf diese Auffassung
in der Nevisionsinstanz aus folgenden Gründen als rechtsirrtümlich.*)

Die zehn Gebote bilden nach ihrem innern und äußern Wesen nicht eine all¬
gemeine Ordnung einer die Existenz, die Erhaltung und gedeihliche Entwicklung
der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft betreffenden Angelegen¬
heit dieser Kirche oder Religionsgesellschaft als solcher, sie wollen nicht deren
Aufgaben. Interessen, Rechte und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mit¬
gliedern und nach außen regeln und festsetzen, sondern sie sind nichts andres
als ein Inbegriff, eine Zusammenstellung rein sittlicher Grundsätze und Lehren
der christlichen Kirche und der jüdischen Religionsgesellschast. Der 166 des
Strafgesetzbuchs will aber nach seiner Fassung und Entstehungsgeschichte nicht die



Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 20, S. 436.
Zur Naturgeschichte des Richters

die Anwendung des Gesetzes also möglichst den Bedürfnissen des praktischen
Lebens angepaßt werde. In dieser Kunst waren, wie bekannt, die altrömischen
Juristen Meister, obwohl auch unter ihnen von Alters her sich das entgegen¬
gesetzte Bestreben geltend machte, dem Leben abgewendet ausschließlich den Weg
der starren, unerbittlichen Logik des >s «Zivils zu.verfolgen. Nun, der Durch¬
schnittsrichter von heute neigt entschieden nach dieser Seite und findet seinen
edelsten Beruf darin, das Leben dem Gesetze anzupassen. Von jener sozusagen
reinmenschlichen Prüfung des einzelnen Falles sieht er grundsätzlich ab, er be¬
trachtet ihn von vornherein durch die juristische Brille und erkennt dadurch
sogleich die Merkmale, die ihn zur Auffindung der Zsäos niatmi-is befähigen,
worauf der Fall nach Schema x „im Wege Rechtens" erledigt wird. Rat
Mstitia, x«rgg.t iriuirdus.

Aus dieser Methode, die der gediegne Jurist mit Stolz als das betrachtet,
was ihn über das xi-ok^rü, ont^us derer erhebt, die nicht zu seinem Orden
gehören, ja was ihn zur Behandlung aller öffentlichen und Privatangelegen¬
heiten befähigt, erklärt sich die große Anzahl von gerichtlichen Entscheidungen,
die alle nicht ausschließlich rechtsverständigen Leute in Erstaunen setzen. Ich
will hier einen Fall aus der Praxis anführen, worin das, was hier behauptet
worden ist, besonders deutlich hervortritt.

§ 166 des Reichsstrafgesetzbuchs bedroht mit Strafe den, der öffentlich
eine der christlichen Kirchen oder eine andre mit Korporationsrechten innerhalb
des Bundesgebiets bestehende Rcligionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder
ihre Gebräuche beschimpft. Nun hatte jemand eine Schmähschrift gegen den
Kapitalismus von höchst religionsfeindlichen, unsittlichen und teilweise geradezu
unflätigem Inhalt in der Form der biblischen zehn Gebote, die durch die
Zahl der Thesen, die Überschrift, die Druckweise und vielfache Redewendungen
deutlich erkennbar gemacht war, verfaßt und durch Druck veröffentlicht. Ein
Landgericht sah hierin den Thatbestand des erwähnten Paragraphen, da es die
zehn Gebote als eine Einrichtung der christlichen Kirche und der jüdischen
Neligionsgesellschaft ansah. Aber das Reichsgericht verwarf diese Auffassung
in der Nevisionsinstanz aus folgenden Gründen als rechtsirrtümlich.*)

Die zehn Gebote bilden nach ihrem innern und äußern Wesen nicht eine all¬
gemeine Ordnung einer die Existenz, die Erhaltung und gedeihliche Entwicklung
der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft betreffenden Angelegen¬
heit dieser Kirche oder Religionsgesellschaft als solcher, sie wollen nicht deren
Aufgaben. Interessen, Rechte und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mit¬
gliedern und nach außen regeln und festsetzen, sondern sie sind nichts andres
als ein Inbegriff, eine Zusammenstellung rein sittlicher Grundsätze und Lehren
der christlichen Kirche und der jüdischen Religionsgesellschast. Der 166 des
Strafgesetzbuchs will aber nach seiner Fassung und Entstehungsgeschichte nicht die



Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 20, S. 436.
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[0027] Zur Naturgeschichte des Richters die Anwendung des Gesetzes also möglichst den Bedürfnissen des praktischen Lebens angepaßt werde. In dieser Kunst waren, wie bekannt, die altrömischen Juristen Meister, obwohl auch unter ihnen von Alters her sich das entgegen¬ gesetzte Bestreben geltend machte, dem Leben abgewendet ausschließlich den Weg der starren, unerbittlichen Logik des >s «Zivils zu.verfolgen. Nun, der Durch¬ schnittsrichter von heute neigt entschieden nach dieser Seite und findet seinen edelsten Beruf darin, das Leben dem Gesetze anzupassen. Von jener sozusagen reinmenschlichen Prüfung des einzelnen Falles sieht er grundsätzlich ab, er be¬ trachtet ihn von vornherein durch die juristische Brille und erkennt dadurch sogleich die Merkmale, die ihn zur Auffindung der Zsäos niatmi-is befähigen, worauf der Fall nach Schema x „im Wege Rechtens" erledigt wird. Rat Mstitia, x«rgg.t iriuirdus. Aus dieser Methode, die der gediegne Jurist mit Stolz als das betrachtet, was ihn über das xi-ok^rü, ont^us derer erhebt, die nicht zu seinem Orden gehören, ja was ihn zur Behandlung aller öffentlichen und Privatangelegen¬ heiten befähigt, erklärt sich die große Anzahl von gerichtlichen Entscheidungen, die alle nicht ausschließlich rechtsverständigen Leute in Erstaunen setzen. Ich will hier einen Fall aus der Praxis anführen, worin das, was hier behauptet worden ist, besonders deutlich hervortritt. § 166 des Reichsstrafgesetzbuchs bedroht mit Strafe den, der öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andre mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebiets bestehende Rcligionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder ihre Gebräuche beschimpft. Nun hatte jemand eine Schmähschrift gegen den Kapitalismus von höchst religionsfeindlichen, unsittlichen und teilweise geradezu unflätigem Inhalt in der Form der biblischen zehn Gebote, die durch die Zahl der Thesen, die Überschrift, die Druckweise und vielfache Redewendungen deutlich erkennbar gemacht war, verfaßt und durch Druck veröffentlicht. Ein Landgericht sah hierin den Thatbestand des erwähnten Paragraphen, da es die zehn Gebote als eine Einrichtung der christlichen Kirche und der jüdischen Neligionsgesellschaft ansah. Aber das Reichsgericht verwarf diese Auffassung in der Nevisionsinstanz aus folgenden Gründen als rechtsirrtümlich.*) Die zehn Gebote bilden nach ihrem innern und äußern Wesen nicht eine all¬ gemeine Ordnung einer die Existenz, die Erhaltung und gedeihliche Entwicklung der christlichen Kirche oder der jüdischen Religionsgesellschaft betreffenden Angelegen¬ heit dieser Kirche oder Religionsgesellschaft als solcher, sie wollen nicht deren Aufgaben. Interessen, Rechte und Pflichten, sowie ihr Verhältnis zu ihren Mit¬ gliedern und nach außen regeln und festsetzen, sondern sie sind nichts andres als ein Inbegriff, eine Zusammenstellung rein sittlicher Grundsätze und Lehren der christlichen Kirche und der jüdischen Religionsgesellschast. Der 166 des Strafgesetzbuchs will aber nach seiner Fassung und Entstehungsgeschichte nicht die Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 20, S. 436.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/27>, abgerufen am 23.07.2024.