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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Richters

hunde steht oder mit Anstand darin untergebracht werden kann, und schert sich-
ten Teufel um das, was uoch drum und dran hängt.

Wie ist das zu erklären? Etwa dadurch, daß seine Vorbildung, die
lediglich juristischer Art ist, nicht ausreicht? Schmerlich; denn in der Haupt¬
sache bedarf es hier eines gesunden, hellen Menschenverstandes. Aber gerade
der ist es, dem der zünftige Richter die sogenannte juristische Auffassung und
Geistesschulung für weit überlegen hält, den er sich zwar bei dem Laien mit
wohlwollender Nachsicht gefallen läßt, der ihm aber für ihn selbst und seines¬
gleichen durchaus nicht genügt: für ihn denkt das Gesetz, und seine Aufgabe
ist es allein, die Aussprüche dieses hohen Gebieters, wenn auch nicht ge¬
dankenlos anzuwenden, so doch nach den Regeln der Logik auf allgemeine Sätze
zurückzuführen und daraus Schlußfolgerungen zu entwickeln. Darin besteht
die juristische Denkweise, und wenn sie lauge geübt ist, die juristische Schulung
des Verstandes.

Kein Zweifel, daß sie von hohem Wert ist. Aber man darf sich dadurch
nicht über die Gefahren täuschen lassen, die sie in sich birgt. Wäre das Gesetz
das getreue und vollständige Spiegelbild des Rechtslebens, dann würden freilich
die aus ihm hergeleiteten Entscheidungen mit den Ergebnissen übereinstimmen
müssen, zu denen ein gereifter Verstand bei der Prüfung der einzelnen Fälle
des praktischen Lebens gelangt, und zu ihrer richtigen Entscheidung würde ge¬
nügen, wenn man sie ans dem Leben herauslöste und, diesem den Rücken
kehrend, in dem juristischen Laboratorium behandelte. Aber ein solches Spiegel¬
bild ist das Gesetz nicht und kann es bei der UnVollkommenheit der mensch¬
lichen Erkenntnis nicht sein; die Welt, die sich in ihm aufthut, ist uur ein
abgeblaßtes, verschwommnes Bild der wirklichen, ja stellenweise so sehr von
dieser verschieden, daß man sagen muß: "Vernunft wird Unsinn, Wohlthat
Plage." Wie kann sie also für sich allein den Stoff zu Entscheidungen bieten,
die dem Nechtsbedürfnis des praktischen Lebens entsprechen! Nein, es ist
unerläßlich, dieses zunächst vor das Forum des gesunden Menschenverstandes
zu stellen, den einzelnen Fall nach seiner besondern Art von jeder Seite zu
betrachten und zu prüfen und dadurch zu ermitteln, welche Folgen er ver¬
nünftigerweise haben muß; erst dann ist zu untersuchen, ob ihn das Gesetz
kennt, und wie es ihn beurteilt, und aus dieser doppelten Prüfung ergiebt sich
schließlich, welche Entscheidung nach Lage der Gesetzgebung getroffen werden
kann und muß. Ob und inwieweit sie mit dem Ergebnis der ersten Prüfung
zusammenfällt, hängt von mancherlei Umständen ab: ob das Gesetz eine Lücke
hat, die durch Analogie ausgefüllt werden kann oder nicht, ob es eine aus¬
dehnende Auslegung gestattet, ob es dem Ermessen des Richters Spielraum
läßt, ob es zu hart oder gar unverständig ist usw. Immer aber ist als
Grundsatz festzuhalten, daß die rechtliche Entscheidung soviel wie möglich mit
dem Ausspruche des gesunden Menschenverstandes in Übereinstimmung gebracht,


Zur Naturgeschichte des Richters

hunde steht oder mit Anstand darin untergebracht werden kann, und schert sich-
ten Teufel um das, was uoch drum und dran hängt.

Wie ist das zu erklären? Etwa dadurch, daß seine Vorbildung, die
lediglich juristischer Art ist, nicht ausreicht? Schmerlich; denn in der Haupt¬
sache bedarf es hier eines gesunden, hellen Menschenverstandes. Aber gerade
der ist es, dem der zünftige Richter die sogenannte juristische Auffassung und
Geistesschulung für weit überlegen hält, den er sich zwar bei dem Laien mit
wohlwollender Nachsicht gefallen läßt, der ihm aber für ihn selbst und seines¬
gleichen durchaus nicht genügt: für ihn denkt das Gesetz, und seine Aufgabe
ist es allein, die Aussprüche dieses hohen Gebieters, wenn auch nicht ge¬
dankenlos anzuwenden, so doch nach den Regeln der Logik auf allgemeine Sätze
zurückzuführen und daraus Schlußfolgerungen zu entwickeln. Darin besteht
die juristische Denkweise, und wenn sie lauge geübt ist, die juristische Schulung
des Verstandes.

Kein Zweifel, daß sie von hohem Wert ist. Aber man darf sich dadurch
nicht über die Gefahren täuschen lassen, die sie in sich birgt. Wäre das Gesetz
das getreue und vollständige Spiegelbild des Rechtslebens, dann würden freilich
die aus ihm hergeleiteten Entscheidungen mit den Ergebnissen übereinstimmen
müssen, zu denen ein gereifter Verstand bei der Prüfung der einzelnen Fälle
des praktischen Lebens gelangt, und zu ihrer richtigen Entscheidung würde ge¬
nügen, wenn man sie ans dem Leben herauslöste und, diesem den Rücken
kehrend, in dem juristischen Laboratorium behandelte. Aber ein solches Spiegel¬
bild ist das Gesetz nicht und kann es bei der UnVollkommenheit der mensch¬
lichen Erkenntnis nicht sein; die Welt, die sich in ihm aufthut, ist uur ein
abgeblaßtes, verschwommnes Bild der wirklichen, ja stellenweise so sehr von
dieser verschieden, daß man sagen muß: „Vernunft wird Unsinn, Wohlthat
Plage." Wie kann sie also für sich allein den Stoff zu Entscheidungen bieten,
die dem Nechtsbedürfnis des praktischen Lebens entsprechen! Nein, es ist
unerläßlich, dieses zunächst vor das Forum des gesunden Menschenverstandes
zu stellen, den einzelnen Fall nach seiner besondern Art von jeder Seite zu
betrachten und zu prüfen und dadurch zu ermitteln, welche Folgen er ver¬
nünftigerweise haben muß; erst dann ist zu untersuchen, ob ihn das Gesetz
kennt, und wie es ihn beurteilt, und aus dieser doppelten Prüfung ergiebt sich
schließlich, welche Entscheidung nach Lage der Gesetzgebung getroffen werden
kann und muß. Ob und inwieweit sie mit dem Ergebnis der ersten Prüfung
zusammenfällt, hängt von mancherlei Umständen ab: ob das Gesetz eine Lücke
hat, die durch Analogie ausgefüllt werden kann oder nicht, ob es eine aus¬
dehnende Auslegung gestattet, ob es dem Ermessen des Richters Spielraum
läßt, ob es zu hart oder gar unverständig ist usw. Immer aber ist als
Grundsatz festzuhalten, daß die rechtliche Entscheidung soviel wie möglich mit
dem Ausspruche des gesunden Menschenverstandes in Übereinstimmung gebracht,


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[0026] Zur Naturgeschichte des Richters hunde steht oder mit Anstand darin untergebracht werden kann, und schert sich- ten Teufel um das, was uoch drum und dran hängt. Wie ist das zu erklären? Etwa dadurch, daß seine Vorbildung, die lediglich juristischer Art ist, nicht ausreicht? Schmerlich; denn in der Haupt¬ sache bedarf es hier eines gesunden, hellen Menschenverstandes. Aber gerade der ist es, dem der zünftige Richter die sogenannte juristische Auffassung und Geistesschulung für weit überlegen hält, den er sich zwar bei dem Laien mit wohlwollender Nachsicht gefallen läßt, der ihm aber für ihn selbst und seines¬ gleichen durchaus nicht genügt: für ihn denkt das Gesetz, und seine Aufgabe ist es allein, die Aussprüche dieses hohen Gebieters, wenn auch nicht ge¬ dankenlos anzuwenden, so doch nach den Regeln der Logik auf allgemeine Sätze zurückzuführen und daraus Schlußfolgerungen zu entwickeln. Darin besteht die juristische Denkweise, und wenn sie lauge geübt ist, die juristische Schulung des Verstandes. Kein Zweifel, daß sie von hohem Wert ist. Aber man darf sich dadurch nicht über die Gefahren täuschen lassen, die sie in sich birgt. Wäre das Gesetz das getreue und vollständige Spiegelbild des Rechtslebens, dann würden freilich die aus ihm hergeleiteten Entscheidungen mit den Ergebnissen übereinstimmen müssen, zu denen ein gereifter Verstand bei der Prüfung der einzelnen Fälle des praktischen Lebens gelangt, und zu ihrer richtigen Entscheidung würde ge¬ nügen, wenn man sie ans dem Leben herauslöste und, diesem den Rücken kehrend, in dem juristischen Laboratorium behandelte. Aber ein solches Spiegel¬ bild ist das Gesetz nicht und kann es bei der UnVollkommenheit der mensch¬ lichen Erkenntnis nicht sein; die Welt, die sich in ihm aufthut, ist uur ein abgeblaßtes, verschwommnes Bild der wirklichen, ja stellenweise so sehr von dieser verschieden, daß man sagen muß: „Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage." Wie kann sie also für sich allein den Stoff zu Entscheidungen bieten, die dem Nechtsbedürfnis des praktischen Lebens entsprechen! Nein, es ist unerläßlich, dieses zunächst vor das Forum des gesunden Menschenverstandes zu stellen, den einzelnen Fall nach seiner besondern Art von jeder Seite zu betrachten und zu prüfen und dadurch zu ermitteln, welche Folgen er ver¬ nünftigerweise haben muß; erst dann ist zu untersuchen, ob ihn das Gesetz kennt, und wie es ihn beurteilt, und aus dieser doppelten Prüfung ergiebt sich schließlich, welche Entscheidung nach Lage der Gesetzgebung getroffen werden kann und muß. Ob und inwieweit sie mit dem Ergebnis der ersten Prüfung zusammenfällt, hängt von mancherlei Umständen ab: ob das Gesetz eine Lücke hat, die durch Analogie ausgefüllt werden kann oder nicht, ob es eine aus¬ dehnende Auslegung gestattet, ob es dem Ermessen des Richters Spielraum läßt, ob es zu hart oder gar unverständig ist usw. Immer aber ist als Grundsatz festzuhalten, daß die rechtliche Entscheidung soviel wie möglich mit dem Ausspruche des gesunden Menschenverstandes in Übereinstimmung gebracht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/26>, abgerufen am 23.07.2024.