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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

des neunzehnten Jahrhunderts ein Wagenrad bricht, oder wenn es ihm an
Wasser fehlt, so ist nicht sein erstes, daß er zum Wagenbauer oder Brunnen¬
macher schickt, sondern er beruft eine Versammlung, hält eine Rede, wählt
eine Kommission, saßt ein Dutzend Resolutionen und schlägt zwei Dutzend Ge¬
setze vor. Im politischen Leben hat das Fieber schon ein wenig nachgelassen.*)
Man beginnt einzusehen, daß neue Gesetze nicht neue Kräfte schaffen, sondern
höchstens die Thätigkeit der vorhandnen regeln; daß die Sitte oder Unsitte
überall stärker ist als das Gesetz, und daß Gesetze nur dann ausgeführt werden,
wenn sie entweder der Willensausdruck einer weit überwiegenden Mehrheit oder
eines ohne Widerspruch gebietenden absoluten Herrschers sind. Es ist daher
ein Anachronismus, wenn man kirchlicherseits jetzt erst einen Irrweg betritt,
den man politischerseits als einen solchen zu erkennen beginnt. Es ist ein
Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsfe vorzuschlagen, ehe die vorhandnen verdaut
sind, ein doppelter Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsse vorzuschlagen, die nicht
durch ein entschiednes Bedürfnis der überwiegenden Mehrheit unsrer Gemeinden
geboten sind, und es ist nebenbei eine Gedankenlosigkeit, von dergleichen Be¬
schlüssen auch noch einen Zuwachs zu erwarten. Das Synodalinstitut ist
keine Fabrik, die jedes Jahr so und so viel Paragraphen "fertig zu stellen"
hätte. Sind nicht neue Umstände eingetreten, die neue Regelungen fordern,
so hat die Synode keine Beschlüsse zu fassen. Sie ist darum doch nicht über¬
flüssig. Die Glieder einer weit zerstreuten Gemeinschaft bedürfen einer jähr¬
lichen Einigung, Besprechung, Beratung, damit sie sich nicht fremd werden,
nicht auseinanderfallen. Vor der Hand ist das Bedürfnis neuer Mitglieder
weit dringender als das Bedürfnis neuer Paragraphen."

"Die apostolische Kirche hatte zwei Jahrzehnte großartiger Entwicklung
und Ausbreitung hinter sich, während deren sich jede Gemeinde half, wie sie
konnte, da erst wurde die erste Synode in Jerusalem gehalten. Auf ihr wurde
ein einziger Paragraph gemacht, nud dieser enthielt nichts als die Anerkennung
eines thatsächlichen Zustandes. Er besagte nämlich, daß den aus dem Heiden¬
tum eintretenden das Joch des jüdischen Gesetzes nicht auferlegt werden solle.
Es waren eben bereits Scharen von Heidenchristen vorhanden, die sich der Be-
schneidung nicht unterworfen hatten."

"Als das Konzil von Konstanz die Superiorität des Konzils über den
Papst lehrte, formulirte es auch nur die damalige Sachlage als Dogma. Denn
die Leute hätten ja verrückt sein müssen, wenn sie nicht eingesehen hätten, daß
das absetzende Konzil über den drei abgesetzten Päpsten stehe, und daß einige
hundert wirklich vorhandne Konzilsväter mehr wissen müßten, als ein noch
nicht vorhandner Papst."

"Den Leuten unsrer Zeit war vor dem Jahre Siebzig ein Konzil ein



^) Ein arger Irrtum! Was mich dazu verleitet hat, weis; ich heute nicht mehr.
München und Konstanz

des neunzehnten Jahrhunderts ein Wagenrad bricht, oder wenn es ihm an
Wasser fehlt, so ist nicht sein erstes, daß er zum Wagenbauer oder Brunnen¬
macher schickt, sondern er beruft eine Versammlung, hält eine Rede, wählt
eine Kommission, saßt ein Dutzend Resolutionen und schlägt zwei Dutzend Ge¬
setze vor. Im politischen Leben hat das Fieber schon ein wenig nachgelassen.*)
Man beginnt einzusehen, daß neue Gesetze nicht neue Kräfte schaffen, sondern
höchstens die Thätigkeit der vorhandnen regeln; daß die Sitte oder Unsitte
überall stärker ist als das Gesetz, und daß Gesetze nur dann ausgeführt werden,
wenn sie entweder der Willensausdruck einer weit überwiegenden Mehrheit oder
eines ohne Widerspruch gebietenden absoluten Herrschers sind. Es ist daher
ein Anachronismus, wenn man kirchlicherseits jetzt erst einen Irrweg betritt,
den man politischerseits als einen solchen zu erkennen beginnt. Es ist ein
Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsfe vorzuschlagen, ehe die vorhandnen verdaut
sind, ein doppelter Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsse vorzuschlagen, die nicht
durch ein entschiednes Bedürfnis der überwiegenden Mehrheit unsrer Gemeinden
geboten sind, und es ist nebenbei eine Gedankenlosigkeit, von dergleichen Be¬
schlüssen auch noch einen Zuwachs zu erwarten. Das Synodalinstitut ist
keine Fabrik, die jedes Jahr so und so viel Paragraphen »fertig zu stellen«
hätte. Sind nicht neue Umstände eingetreten, die neue Regelungen fordern,
so hat die Synode keine Beschlüsse zu fassen. Sie ist darum doch nicht über¬
flüssig. Die Glieder einer weit zerstreuten Gemeinschaft bedürfen einer jähr¬
lichen Einigung, Besprechung, Beratung, damit sie sich nicht fremd werden,
nicht auseinanderfallen. Vor der Hand ist das Bedürfnis neuer Mitglieder
weit dringender als das Bedürfnis neuer Paragraphen."

„Die apostolische Kirche hatte zwei Jahrzehnte großartiger Entwicklung
und Ausbreitung hinter sich, während deren sich jede Gemeinde half, wie sie
konnte, da erst wurde die erste Synode in Jerusalem gehalten. Auf ihr wurde
ein einziger Paragraph gemacht, nud dieser enthielt nichts als die Anerkennung
eines thatsächlichen Zustandes. Er besagte nämlich, daß den aus dem Heiden¬
tum eintretenden das Joch des jüdischen Gesetzes nicht auferlegt werden solle.
Es waren eben bereits Scharen von Heidenchristen vorhanden, die sich der Be-
schneidung nicht unterworfen hatten."

„Als das Konzil von Konstanz die Superiorität des Konzils über den
Papst lehrte, formulirte es auch nur die damalige Sachlage als Dogma. Denn
die Leute hätten ja verrückt sein müssen, wenn sie nicht eingesehen hätten, daß
das absetzende Konzil über den drei abgesetzten Päpsten stehe, und daß einige
hundert wirklich vorhandne Konzilsväter mehr wissen müßten, als ein noch
nicht vorhandner Papst."

„Den Leuten unsrer Zeit war vor dem Jahre Siebzig ein Konzil ein



^) Ein arger Irrtum! Was mich dazu verleitet hat, weis; ich heute nicht mehr.
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[0239] München und Konstanz des neunzehnten Jahrhunderts ein Wagenrad bricht, oder wenn es ihm an Wasser fehlt, so ist nicht sein erstes, daß er zum Wagenbauer oder Brunnen¬ macher schickt, sondern er beruft eine Versammlung, hält eine Rede, wählt eine Kommission, saßt ein Dutzend Resolutionen und schlägt zwei Dutzend Ge¬ setze vor. Im politischen Leben hat das Fieber schon ein wenig nachgelassen.*) Man beginnt einzusehen, daß neue Gesetze nicht neue Kräfte schaffen, sondern höchstens die Thätigkeit der vorhandnen regeln; daß die Sitte oder Unsitte überall stärker ist als das Gesetz, und daß Gesetze nur dann ausgeführt werden, wenn sie entweder der Willensausdruck einer weit überwiegenden Mehrheit oder eines ohne Widerspruch gebietenden absoluten Herrschers sind. Es ist daher ein Anachronismus, wenn man kirchlicherseits jetzt erst einen Irrweg betritt, den man politischerseits als einen solchen zu erkennen beginnt. Es ist ein Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsfe vorzuschlagen, ehe die vorhandnen verdaut sind, ein doppelter Fehlgriff, neue Synodalbeschlüsse vorzuschlagen, die nicht durch ein entschiednes Bedürfnis der überwiegenden Mehrheit unsrer Gemeinden geboten sind, und es ist nebenbei eine Gedankenlosigkeit, von dergleichen Be¬ schlüssen auch noch einen Zuwachs zu erwarten. Das Synodalinstitut ist keine Fabrik, die jedes Jahr so und so viel Paragraphen »fertig zu stellen« hätte. Sind nicht neue Umstände eingetreten, die neue Regelungen fordern, so hat die Synode keine Beschlüsse zu fassen. Sie ist darum doch nicht über¬ flüssig. Die Glieder einer weit zerstreuten Gemeinschaft bedürfen einer jähr¬ lichen Einigung, Besprechung, Beratung, damit sie sich nicht fremd werden, nicht auseinanderfallen. Vor der Hand ist das Bedürfnis neuer Mitglieder weit dringender als das Bedürfnis neuer Paragraphen." „Die apostolische Kirche hatte zwei Jahrzehnte großartiger Entwicklung und Ausbreitung hinter sich, während deren sich jede Gemeinde half, wie sie konnte, da erst wurde die erste Synode in Jerusalem gehalten. Auf ihr wurde ein einziger Paragraph gemacht, nud dieser enthielt nichts als die Anerkennung eines thatsächlichen Zustandes. Er besagte nämlich, daß den aus dem Heiden¬ tum eintretenden das Joch des jüdischen Gesetzes nicht auferlegt werden solle. Es waren eben bereits Scharen von Heidenchristen vorhanden, die sich der Be- schneidung nicht unterworfen hatten." „Als das Konzil von Konstanz die Superiorität des Konzils über den Papst lehrte, formulirte es auch nur die damalige Sachlage als Dogma. Denn die Leute hätten ja verrückt sein müssen, wenn sie nicht eingesehen hätten, daß das absetzende Konzil über den drei abgesetzten Päpsten stehe, und daß einige hundert wirklich vorhandne Konzilsväter mehr wissen müßten, als ein noch nicht vorhandner Papst." „Den Leuten unsrer Zeit war vor dem Jahre Siebzig ein Konzil ein ^) Ein arger Irrtum! Was mich dazu verleitet hat, weis; ich heute nicht mehr.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/239>, abgerufen am 23.07.2024.