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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

lassen sich nicht teilen. Sie lassen sich aber anfangen, ohne beendet zu werden.
Die Logik jedoch, daß die Ausführung einer That, die nicht zur Vollendung
gekommen ist, nie angefangen haben kann, ist Scheinlogik, die alles gleichmacht,
den Wahn, den Irrtum, die Ungeschicklichkeit des Thäters und das unvorher¬
gesehene äußere Hindernis. Zwischen der Annahme der Willensunfreiheit bei
jeder einzelnen Handlung und der Annahme, daß bei jedem einzelnen Erfolg
auch nur der wirkliche Erfolg möglich gewesen sei, besteht ein logischer Zu¬
sammenhang. Vollzieht sich nämlich das innere Geschehen des Willens nur
mit Notwendigkeit, so ist auch in dem äußern Geschehen außer der Wirklichkeit
nichts möglich.

Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens noch einen Satz aus jenem
Urteil anzuführen, der so ziemlich auf das Gegenteil des vorher gesagten
hinausläuft. Während vorher in jedem Falle nur das Wirkliche möglich sein
sollte, so wird später gesagt, daß allgemein gedacht alles möglich sei, was
beabsichtigt wird. Es heißt wörtlich: "Aber es darf auch weiter gesagt werden,
daß es im allgemeinen derartige Handlungen, die unter allen Umstünden un¬
geeignet seien, den beabsichtigten Erfolg hervorzurufen, in Wirklichkeit gar nicht
giebt." In unser geliebtes Deutsch übertragen heißt das einfach, daß "im
allgemeinen" aus einem geschäftig untergelegten Hühnerei ein Kalb ausgebrütet
werden könne, wenn dies beabsichtigt wird, und es nur für den einzelnen Fall,
wo der beabsichtigte Erfolg nicht erzielt worden ist, unmöglich gewesen sei.
Die Gesetze ändern sich im Laufe der Zeit, und mit den alte" Gesetzen wird
meist auch die Erinnerung an die auf ihrer Grundlage gepflogne Rechtsprechung
begraben. Jenes Urteil des Reichsgerichts aber ist durch seine Begründung
davor geschützt, jemals der Vergessenheit anheim zu fallen.

Der Leser wird die naheliegende Frage aufwerfen: Warum haben denn
die Juristen gegen ein solches Urteil nicht Verwahrung eingelegt? Das hat
neben vielen andern auch der Verfasser gethan. Professor Binding in Leipzig
hat das Urteil tief bedauerlich genannt. Es war alles vergeblich. Das be¬
dauerlichste an dem Urteil ist die Begründung. Aber gerade an dieser wird
am zähesten festgehalten, sie hat sogar Schule gemacht.

Das Mögliche, das Wahrscheinliche und das Notwendige sind Begriffe,
die den menschlichen Verstand so wie keine andern in Versuchung führen, zu
widersinnigen Schlüssen zu kommen. Solche der unmittelbaren, gesunden oder,
wie oben gesagt wurde, instinktiven Anschauungsweise widerstreitende Schlüsse
mögen sich Philosophie und Theologie vorübergehend erlauben dürfen, in der
Rechtswissenschaft, die es mit dem irdischen Leben, der Ordnung der gesetzlich
gesicherten Ansprüche und erzwingbaren Verpflichtungen der Menschen zu thun
hat, sind sie unerträglich. Die Schlüsse für sich selbst und die Vergeblichkeit
aller gegen sie gerichteten Verwahrungen weisen wieder darauf hin, daß die
Gesundung von Recht und Rechtsprechung nicht von den Professoren und nicht


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

lassen sich nicht teilen. Sie lassen sich aber anfangen, ohne beendet zu werden.
Die Logik jedoch, daß die Ausführung einer That, die nicht zur Vollendung
gekommen ist, nie angefangen haben kann, ist Scheinlogik, die alles gleichmacht,
den Wahn, den Irrtum, die Ungeschicklichkeit des Thäters und das unvorher¬
gesehene äußere Hindernis. Zwischen der Annahme der Willensunfreiheit bei
jeder einzelnen Handlung und der Annahme, daß bei jedem einzelnen Erfolg
auch nur der wirkliche Erfolg möglich gewesen sei, besteht ein logischer Zu¬
sammenhang. Vollzieht sich nämlich das innere Geschehen des Willens nur
mit Notwendigkeit, so ist auch in dem äußern Geschehen außer der Wirklichkeit
nichts möglich.

Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens noch einen Satz aus jenem
Urteil anzuführen, der so ziemlich auf das Gegenteil des vorher gesagten
hinausläuft. Während vorher in jedem Falle nur das Wirkliche möglich sein
sollte, so wird später gesagt, daß allgemein gedacht alles möglich sei, was
beabsichtigt wird. Es heißt wörtlich: „Aber es darf auch weiter gesagt werden,
daß es im allgemeinen derartige Handlungen, die unter allen Umstünden un¬
geeignet seien, den beabsichtigten Erfolg hervorzurufen, in Wirklichkeit gar nicht
giebt." In unser geliebtes Deutsch übertragen heißt das einfach, daß „im
allgemeinen" aus einem geschäftig untergelegten Hühnerei ein Kalb ausgebrütet
werden könne, wenn dies beabsichtigt wird, und es nur für den einzelnen Fall,
wo der beabsichtigte Erfolg nicht erzielt worden ist, unmöglich gewesen sei.
Die Gesetze ändern sich im Laufe der Zeit, und mit den alte» Gesetzen wird
meist auch die Erinnerung an die auf ihrer Grundlage gepflogne Rechtsprechung
begraben. Jenes Urteil des Reichsgerichts aber ist durch seine Begründung
davor geschützt, jemals der Vergessenheit anheim zu fallen.

Der Leser wird die naheliegende Frage aufwerfen: Warum haben denn
die Juristen gegen ein solches Urteil nicht Verwahrung eingelegt? Das hat
neben vielen andern auch der Verfasser gethan. Professor Binding in Leipzig
hat das Urteil tief bedauerlich genannt. Es war alles vergeblich. Das be¬
dauerlichste an dem Urteil ist die Begründung. Aber gerade an dieser wird
am zähesten festgehalten, sie hat sogar Schule gemacht.

Das Mögliche, das Wahrscheinliche und das Notwendige sind Begriffe,
die den menschlichen Verstand so wie keine andern in Versuchung führen, zu
widersinnigen Schlüssen zu kommen. Solche der unmittelbaren, gesunden oder,
wie oben gesagt wurde, instinktiven Anschauungsweise widerstreitende Schlüsse
mögen sich Philosophie und Theologie vorübergehend erlauben dürfen, in der
Rechtswissenschaft, die es mit dem irdischen Leben, der Ordnung der gesetzlich
gesicherten Ansprüche und erzwingbaren Verpflichtungen der Menschen zu thun
hat, sind sie unerträglich. Die Schlüsse für sich selbst und die Vergeblichkeit
aller gegen sie gerichteten Verwahrungen weisen wieder darauf hin, daß die
Gesundung von Recht und Rechtsprechung nicht von den Professoren und nicht


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[0230] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg lassen sich nicht teilen. Sie lassen sich aber anfangen, ohne beendet zu werden. Die Logik jedoch, daß die Ausführung einer That, die nicht zur Vollendung gekommen ist, nie angefangen haben kann, ist Scheinlogik, die alles gleichmacht, den Wahn, den Irrtum, die Ungeschicklichkeit des Thäters und das unvorher¬ gesehene äußere Hindernis. Zwischen der Annahme der Willensunfreiheit bei jeder einzelnen Handlung und der Annahme, daß bei jedem einzelnen Erfolg auch nur der wirkliche Erfolg möglich gewesen sei, besteht ein logischer Zu¬ sammenhang. Vollzieht sich nämlich das innere Geschehen des Willens nur mit Notwendigkeit, so ist auch in dem äußern Geschehen außer der Wirklichkeit nichts möglich. Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens noch einen Satz aus jenem Urteil anzuführen, der so ziemlich auf das Gegenteil des vorher gesagten hinausläuft. Während vorher in jedem Falle nur das Wirkliche möglich sein sollte, so wird später gesagt, daß allgemein gedacht alles möglich sei, was beabsichtigt wird. Es heißt wörtlich: „Aber es darf auch weiter gesagt werden, daß es im allgemeinen derartige Handlungen, die unter allen Umstünden un¬ geeignet seien, den beabsichtigten Erfolg hervorzurufen, in Wirklichkeit gar nicht giebt." In unser geliebtes Deutsch übertragen heißt das einfach, daß „im allgemeinen" aus einem geschäftig untergelegten Hühnerei ein Kalb ausgebrütet werden könne, wenn dies beabsichtigt wird, und es nur für den einzelnen Fall, wo der beabsichtigte Erfolg nicht erzielt worden ist, unmöglich gewesen sei. Die Gesetze ändern sich im Laufe der Zeit, und mit den alte» Gesetzen wird meist auch die Erinnerung an die auf ihrer Grundlage gepflogne Rechtsprechung begraben. Jenes Urteil des Reichsgerichts aber ist durch seine Begründung davor geschützt, jemals der Vergessenheit anheim zu fallen. Der Leser wird die naheliegende Frage aufwerfen: Warum haben denn die Juristen gegen ein solches Urteil nicht Verwahrung eingelegt? Das hat neben vielen andern auch der Verfasser gethan. Professor Binding in Leipzig hat das Urteil tief bedauerlich genannt. Es war alles vergeblich. Das be¬ dauerlichste an dem Urteil ist die Begründung. Aber gerade an dieser wird am zähesten festgehalten, sie hat sogar Schule gemacht. Das Mögliche, das Wahrscheinliche und das Notwendige sind Begriffe, die den menschlichen Verstand so wie keine andern in Versuchung führen, zu widersinnigen Schlüssen zu kommen. Solche der unmittelbaren, gesunden oder, wie oben gesagt wurde, instinktiven Anschauungsweise widerstreitende Schlüsse mögen sich Philosophie und Theologie vorübergehend erlauben dürfen, in der Rechtswissenschaft, die es mit dem irdischen Leben, der Ordnung der gesetzlich gesicherten Ansprüche und erzwingbaren Verpflichtungen der Menschen zu thun hat, sind sie unerträglich. Die Schlüsse für sich selbst und die Vergeblichkeit aller gegen sie gerichteten Verwahrungen weisen wieder darauf hin, daß die Gesundung von Recht und Rechtsprechung nicht von den Professoren und nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/230>, abgerufen am 23.07.2024.