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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

bleibt eine notwendige Fügung in der ewigen Kette von Ursachen und
Wirkungen.

Es ist sicherlich sehr bequem, einer Weltanschauung zu huldigen, bei der
man sich völlig verantwortungsfrei fühlen darf. Und doch würde es mit einer
so einseitigen Weltanschauung recht bald zu Ende sein, wenn sie nichts weiter
als verführerische Bequemlichkeit zu bieten vermochte. Die große Gefahr, daß
sie von den weltentrückten Denkern auf die Massen des Volkes übergeht, liegt
aber darin, daß sie und nur sie allein die irdische Gerechtigkeit in vollendetem
Maße verbürgt und sich dabei mit grobsinnlichen Vorstellungen verbindet, die
sich noch heute allgemeiner Verbreitung und Anerkennung erfreuen, den Idea¬
lismus aber, wenn er sich auf sie zu stützen sucht, in die Irre führen. So
wenn Montaigne sagt: "Zur Erhaltung der Körper sind die Grabgewölbe,
zur Erhaltung des Namens ist der Ruhm bestimmt." Aber der Ruhm ist
eitel, echt ist nur der Nachruhm, der dem gilt, der nichts von ihm erfahren
kann. Der Name ist Schall und Rauch und stimmt oft nicht einmal mit
dem Namen dessen überein, den er bezeichnen soll. Die Grabgewölbe, und
wenn sie Pyramiden sind, vermögen nicht die Körper zu erhalten. Es ist
auch erstaunlich, daß die Menschen bis auf den heutigen Tag auf die unver¬
änderte Erhaltung des Leichnams, also des gerade beim Tode vorhandnen
Körpers einen so hohen Wert legen, obwohl sie den Urstoffen, aus denen sich
der lebende Körper zusammensetzt, eine gleiche Aufmerksamkeit weder schenken
können noch wollen. Hat doch der Körper bei Lebzeiten in jeder Faser, in
jeder Blutzelle unausgesetzt gewechselt, ist doch das physische Leben jedes ein¬
zelnen Menschen ein fortwährender, in jedem Atemzug bethätigter Wechsel der
Stoffe seines Körpers mit den Stoffen der Außenwelt. In dem Alten Testa¬
ment ist den Juden verboten, Blut zu trinken, weil in dem Blut die Seele
liege, im Homer müssen die Schatten der Unterwelt, um sich wieder zu be¬
seelen, um eine Erinnerung an das irdische Dasein zu gewinnen, Blut trinken,
und Aristoteles spricht noch ganz unbefangen aus, daß das Blut die Seele sei.
Dieselbe Vorstellung hat sich im Mittelalter erhalten; wer seine Seele dem
Teufel verschreiben will, muß es mit ihr selbst, mit seinem Blute thun. Ähnlich
sucht unser heutiger Materialismus in dem Gefüge und der Erscheinungsform
des Körpers die Erklärung für dessen gesamte Leistungsfähigkeit zu finden und
schreibt nicht nur das physische Leben, sondern auch das Denken einer Eigenschaft
besonders gefügten Stoffes zu. Auch Du Bois-Reymond teilte diese Ansicht
und scheute nicht davor zurück, ihr den krassesten Ausdruck zu verleihen. Er
sagte in einer Vorlesung vor ungefähr dreißig Jahren: "Bevor ich an einen
Gott glauben soll, muß man mir ein der Denkkraft dieses göttlichen Wesens
entsprechendes Gehirn vorweisen." Indem wir also nach materialistischer
Weltanschauung täglich in beständigem Stoffwechsel nicht nur Teile unsers
Körpers, sondern unsers eigensten Ichs, unsers Denkens und Fühlens an


Grenzboten II 1897 28
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

bleibt eine notwendige Fügung in der ewigen Kette von Ursachen und
Wirkungen.

Es ist sicherlich sehr bequem, einer Weltanschauung zu huldigen, bei der
man sich völlig verantwortungsfrei fühlen darf. Und doch würde es mit einer
so einseitigen Weltanschauung recht bald zu Ende sein, wenn sie nichts weiter
als verführerische Bequemlichkeit zu bieten vermochte. Die große Gefahr, daß
sie von den weltentrückten Denkern auf die Massen des Volkes übergeht, liegt
aber darin, daß sie und nur sie allein die irdische Gerechtigkeit in vollendetem
Maße verbürgt und sich dabei mit grobsinnlichen Vorstellungen verbindet, die
sich noch heute allgemeiner Verbreitung und Anerkennung erfreuen, den Idea¬
lismus aber, wenn er sich auf sie zu stützen sucht, in die Irre führen. So
wenn Montaigne sagt: „Zur Erhaltung der Körper sind die Grabgewölbe,
zur Erhaltung des Namens ist der Ruhm bestimmt." Aber der Ruhm ist
eitel, echt ist nur der Nachruhm, der dem gilt, der nichts von ihm erfahren
kann. Der Name ist Schall und Rauch und stimmt oft nicht einmal mit
dem Namen dessen überein, den er bezeichnen soll. Die Grabgewölbe, und
wenn sie Pyramiden sind, vermögen nicht die Körper zu erhalten. Es ist
auch erstaunlich, daß die Menschen bis auf den heutigen Tag auf die unver¬
änderte Erhaltung des Leichnams, also des gerade beim Tode vorhandnen
Körpers einen so hohen Wert legen, obwohl sie den Urstoffen, aus denen sich
der lebende Körper zusammensetzt, eine gleiche Aufmerksamkeit weder schenken
können noch wollen. Hat doch der Körper bei Lebzeiten in jeder Faser, in
jeder Blutzelle unausgesetzt gewechselt, ist doch das physische Leben jedes ein¬
zelnen Menschen ein fortwährender, in jedem Atemzug bethätigter Wechsel der
Stoffe seines Körpers mit den Stoffen der Außenwelt. In dem Alten Testa¬
ment ist den Juden verboten, Blut zu trinken, weil in dem Blut die Seele
liege, im Homer müssen die Schatten der Unterwelt, um sich wieder zu be¬
seelen, um eine Erinnerung an das irdische Dasein zu gewinnen, Blut trinken,
und Aristoteles spricht noch ganz unbefangen aus, daß das Blut die Seele sei.
Dieselbe Vorstellung hat sich im Mittelalter erhalten; wer seine Seele dem
Teufel verschreiben will, muß es mit ihr selbst, mit seinem Blute thun. Ähnlich
sucht unser heutiger Materialismus in dem Gefüge und der Erscheinungsform
des Körpers die Erklärung für dessen gesamte Leistungsfähigkeit zu finden und
schreibt nicht nur das physische Leben, sondern auch das Denken einer Eigenschaft
besonders gefügten Stoffes zu. Auch Du Bois-Reymond teilte diese Ansicht
und scheute nicht davor zurück, ihr den krassesten Ausdruck zu verleihen. Er
sagte in einer Vorlesung vor ungefähr dreißig Jahren: „Bevor ich an einen
Gott glauben soll, muß man mir ein der Denkkraft dieses göttlichen Wesens
entsprechendes Gehirn vorweisen." Indem wir also nach materialistischer
Weltanschauung täglich in beständigem Stoffwechsel nicht nur Teile unsers
Körpers, sondern unsers eigensten Ichs, unsers Denkens und Fühlens an


Grenzboten II 1897 28
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/225>, abgerufen am 23.07.2024.