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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Memoiren von Paul Barras

Republik zu halten, dann gehorcht auch er Napoleon. Der Staatsstreich am
18. und 19. Brumaire wird wesentlich so, wie wir ihn aus der Geschichte
kennen, erzählt, allerdings mit vielen neuen Einzelheiten und spannend, weil
der Erzählende der Mittelpunkt der Bewegung ist. Seine Schilderungen sind
lebendig, seine Urteile hier im höchsten Grade verständig und belehrend. Bona¬
parte hatte die Fähigkeit, Menschen glauben zu machen, was er selbst nicht
glaubte, z. B., daß keine Gefahr sei, wenn sie ihm drohte, daß es keine Oppo¬
sition gebe, in dem Augenblick, wo er zitternd und unsicher gegen sie auftrat.
Darauf, sagt Barras, beruhte, unbeschadet der geistigen Größe des Mannes,
der Erfolg solcher Tage, wie dieser beiden. Sodann waren es Offiziere, mit
deren Hilfe er handeln mußte. Sie sind, meint Barras, keine Politiker, und
wenn sie es zu sein sich eingeredet haben, im Anblick eines Vorgesetzten, wenn
er sich nur geschickt benimmt, gehen alle guten Vorsätze mit ihnen durch. Der
Riese Augereau, der am Tage vorher die Verfassung retten will, begegnet
Bonaparte nach dem entscheidenden Akt mit dem Scherz: "El, General, Sie
führen einen Streich aus und vergessen Ihren kleinen Augereau dazu zu rufen?"
Bernadottes Verhalten entspringt nach Barras nicht der Wankelmütigkeit des
Bvarners, sondern dem "Typus des militärischen Charakters." Man darf
sagen, Barras war ein Kenner der Technik des Bürgerkriegs. Er hat von
Anfang an als Zuschauer beobachtet und spricht wiederholt aus, was er dann
auch bei seinen eignen Staatsstreichen erfahren zu haben behauptet: der Zufall
spielt eine große Rolle, aber in dem, was berechnet werden kann, kommt es
beim Bürgerkriege nie auf das Volk, immer auf die Soldaten an. So braucht
er denn auch nur sein Fenster zu offnen, um zu sehen, wie das Ereignis ver¬
läuft. Er weiß, daß es zum Widerstande zu spät ist, und legt sein Amt nieder,
nachdem ihm Talleyrand vorgelogen hat, daß alle vier Direktoren gethan hätten,
was in Wirklichkeit nur zwei thaten. Der Gedanke, mit den zwei andern eine
Mehrheit bilden zu können, kommt ihm wohl, und er weiß, daß Talleyrand
und sein Begleiter Lügner von Profession sind. Aber es fehlt ihm die Energie,
ihnen nicht zu glauben, da es jedenfalls praktisch nichts mehr nützt. Er reist
auf sein Landgut ab und ist nnn Privatmann. Der neue Konsul sucht ihn
durch Anerbietungen zu gewinnen, aber vergeblich.

Was nun noch folgt, seit der Memoirenschreiber nicht mehr aktiver Staats¬
mann ist, sondern teils als Reisender, von Napoleons Polizei verfolgt, in
Italien, teils wieder ansässig in Frankreich lebt, ist keineswegs weniger inter¬
essant als der frühere Inhalt des Werkes. Im Gegenteil berührt es uns
unzühligemale ganz eigentümlich, wenn diese Menschen, die in der Republik
oder doch unter Napoleon ihre Rolle zu Ende gespielt zu haben scheinen, nun,
weil ihre Lebenszeit so ganz verschiedne Geschichtsepochen umfaßt, sich nach
1815 noch auf lange Jahre wieder zusammenfinden und sich ihre Sünden
gegenseitig vorrechnen: Bernadotte, bald als König von Schweden; Talleyrand


Die Memoiren von Paul Barras

Republik zu halten, dann gehorcht auch er Napoleon. Der Staatsstreich am
18. und 19. Brumaire wird wesentlich so, wie wir ihn aus der Geschichte
kennen, erzählt, allerdings mit vielen neuen Einzelheiten und spannend, weil
der Erzählende der Mittelpunkt der Bewegung ist. Seine Schilderungen sind
lebendig, seine Urteile hier im höchsten Grade verständig und belehrend. Bona¬
parte hatte die Fähigkeit, Menschen glauben zu machen, was er selbst nicht
glaubte, z. B., daß keine Gefahr sei, wenn sie ihm drohte, daß es keine Oppo¬
sition gebe, in dem Augenblick, wo er zitternd und unsicher gegen sie auftrat.
Darauf, sagt Barras, beruhte, unbeschadet der geistigen Größe des Mannes,
der Erfolg solcher Tage, wie dieser beiden. Sodann waren es Offiziere, mit
deren Hilfe er handeln mußte. Sie sind, meint Barras, keine Politiker, und
wenn sie es zu sein sich eingeredet haben, im Anblick eines Vorgesetzten, wenn
er sich nur geschickt benimmt, gehen alle guten Vorsätze mit ihnen durch. Der
Riese Augereau, der am Tage vorher die Verfassung retten will, begegnet
Bonaparte nach dem entscheidenden Akt mit dem Scherz: „El, General, Sie
führen einen Streich aus und vergessen Ihren kleinen Augereau dazu zu rufen?"
Bernadottes Verhalten entspringt nach Barras nicht der Wankelmütigkeit des
Bvarners, sondern dem „Typus des militärischen Charakters." Man darf
sagen, Barras war ein Kenner der Technik des Bürgerkriegs. Er hat von
Anfang an als Zuschauer beobachtet und spricht wiederholt aus, was er dann
auch bei seinen eignen Staatsstreichen erfahren zu haben behauptet: der Zufall
spielt eine große Rolle, aber in dem, was berechnet werden kann, kommt es
beim Bürgerkriege nie auf das Volk, immer auf die Soldaten an. So braucht
er denn auch nur sein Fenster zu offnen, um zu sehen, wie das Ereignis ver¬
läuft. Er weiß, daß es zum Widerstande zu spät ist, und legt sein Amt nieder,
nachdem ihm Talleyrand vorgelogen hat, daß alle vier Direktoren gethan hätten,
was in Wirklichkeit nur zwei thaten. Der Gedanke, mit den zwei andern eine
Mehrheit bilden zu können, kommt ihm wohl, und er weiß, daß Talleyrand
und sein Begleiter Lügner von Profession sind. Aber es fehlt ihm die Energie,
ihnen nicht zu glauben, da es jedenfalls praktisch nichts mehr nützt. Er reist
auf sein Landgut ab und ist nnn Privatmann. Der neue Konsul sucht ihn
durch Anerbietungen zu gewinnen, aber vergeblich.

Was nun noch folgt, seit der Memoirenschreiber nicht mehr aktiver Staats¬
mann ist, sondern teils als Reisender, von Napoleons Polizei verfolgt, in
Italien, teils wieder ansässig in Frankreich lebt, ist keineswegs weniger inter¬
essant als der frühere Inhalt des Werkes. Im Gegenteil berührt es uns
unzühligemale ganz eigentümlich, wenn diese Menschen, die in der Republik
oder doch unter Napoleon ihre Rolle zu Ende gespielt zu haben scheinen, nun,
weil ihre Lebenszeit so ganz verschiedne Geschichtsepochen umfaßt, sich nach
1815 noch auf lange Jahre wieder zusammenfinden und sich ihre Sünden
gegenseitig vorrechnen: Bernadotte, bald als König von Schweden; Talleyrand


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[0194] Die Memoiren von Paul Barras Republik zu halten, dann gehorcht auch er Napoleon. Der Staatsstreich am 18. und 19. Brumaire wird wesentlich so, wie wir ihn aus der Geschichte kennen, erzählt, allerdings mit vielen neuen Einzelheiten und spannend, weil der Erzählende der Mittelpunkt der Bewegung ist. Seine Schilderungen sind lebendig, seine Urteile hier im höchsten Grade verständig und belehrend. Bona¬ parte hatte die Fähigkeit, Menschen glauben zu machen, was er selbst nicht glaubte, z. B., daß keine Gefahr sei, wenn sie ihm drohte, daß es keine Oppo¬ sition gebe, in dem Augenblick, wo er zitternd und unsicher gegen sie auftrat. Darauf, sagt Barras, beruhte, unbeschadet der geistigen Größe des Mannes, der Erfolg solcher Tage, wie dieser beiden. Sodann waren es Offiziere, mit deren Hilfe er handeln mußte. Sie sind, meint Barras, keine Politiker, und wenn sie es zu sein sich eingeredet haben, im Anblick eines Vorgesetzten, wenn er sich nur geschickt benimmt, gehen alle guten Vorsätze mit ihnen durch. Der Riese Augereau, der am Tage vorher die Verfassung retten will, begegnet Bonaparte nach dem entscheidenden Akt mit dem Scherz: „El, General, Sie führen einen Streich aus und vergessen Ihren kleinen Augereau dazu zu rufen?" Bernadottes Verhalten entspringt nach Barras nicht der Wankelmütigkeit des Bvarners, sondern dem „Typus des militärischen Charakters." Man darf sagen, Barras war ein Kenner der Technik des Bürgerkriegs. Er hat von Anfang an als Zuschauer beobachtet und spricht wiederholt aus, was er dann auch bei seinen eignen Staatsstreichen erfahren zu haben behauptet: der Zufall spielt eine große Rolle, aber in dem, was berechnet werden kann, kommt es beim Bürgerkriege nie auf das Volk, immer auf die Soldaten an. So braucht er denn auch nur sein Fenster zu offnen, um zu sehen, wie das Ereignis ver¬ läuft. Er weiß, daß es zum Widerstande zu spät ist, und legt sein Amt nieder, nachdem ihm Talleyrand vorgelogen hat, daß alle vier Direktoren gethan hätten, was in Wirklichkeit nur zwei thaten. Der Gedanke, mit den zwei andern eine Mehrheit bilden zu können, kommt ihm wohl, und er weiß, daß Talleyrand und sein Begleiter Lügner von Profession sind. Aber es fehlt ihm die Energie, ihnen nicht zu glauben, da es jedenfalls praktisch nichts mehr nützt. Er reist auf sein Landgut ab und ist nnn Privatmann. Der neue Konsul sucht ihn durch Anerbietungen zu gewinnen, aber vergeblich. Was nun noch folgt, seit der Memoirenschreiber nicht mehr aktiver Staats¬ mann ist, sondern teils als Reisender, von Napoleons Polizei verfolgt, in Italien, teils wieder ansässig in Frankreich lebt, ist keineswegs weniger inter¬ essant als der frühere Inhalt des Werkes. Im Gegenteil berührt es uns unzühligemale ganz eigentümlich, wenn diese Menschen, die in der Republik oder doch unter Napoleon ihre Rolle zu Ende gespielt zu haben scheinen, nun, weil ihre Lebenszeit so ganz verschiedne Geschichtsepochen umfaßt, sich nach 1815 noch auf lange Jahre wieder zusammenfinden und sich ihre Sünden gegenseitig vorrechnen: Bernadotte, bald als König von Schweden; Talleyrand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/194>, abgerufen am 23.07.2024.