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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

zeugen: "Alle wirklich tiefen Denker aller Zeiten, so verschieden anch ihre
sonstigen Ansichten sein mochten, stimmten darin überein, daß sie die Not¬
wendigkeit der Willensakte bei eintretenden Motiven behaupteten und die
Willensfreiheit (das liberum arbitrium inälllvrontmö) verwarfen, während die
oberflächlichen Geister mit dem großen Haufen der Willensfreiheit anhängen.
Hobbes zuerst, daun Spinoza, dann Hume, auch Holbach im LMvirio as 1a
NÄwi-s, und endlich am ausführlichsten und gründlichsten Pricstleh, haben die
vollkommne und strenge Notwendigkeit der Willensakte bei eintretenden Mo¬
tiven so deutlich bewiesen, daß sie den vollkommen demonstrirten Wahrheiten
beizuzählen ist. Und nicht bloß große Philosophen, sondern auch große
Theologen, wie Augustin und Luther, und große Dichter, wie Shakespeare,
Goethe und Schiller haben diese Wahrheit gelehrt, sodaß nur noch Unwissende
und Rohe vou einer Freiheit des Menschen in den einzelnen Handlungen zu
reden fortfahren können. Es giebt aber noch einen Mtttelschlag, der, sich ver¬
legen fühlend, hin und her lavirt, sich und andern den Zielpunkt verrückt,
sich hinter Worte und Phrasen flüchtet, oder die Frage so lange dreht und
verdreht, bis man nicht mehr weiß, worauf sie hinauslief. So hat es z. B.
Leibniz gemacht." Diese Worte Schopenhauers lassen an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig, sie dulden keine Einschränkung und keinen Rückzug, wer
sie unbefangen liest und so große Denker und Dichter auf Seiten der Willens-
unfrciheit findet, muß erstaunt ausrufen: Haben denn diese Männer nicht be¬
dacht, daß alle sittliche Beurteilung menschlicher Handlungen, alle Zurechnung
und Vergeltung wegfallen muß, wenn der Mensch nicht frei ist? Daß ferner
jedem Menschen sein innerstes Gefühl sagt, er könne den Neigungen zum Bösen
widerstehen und seine Pflicht erfüllen, wenn er nur ernstlich wolle? Wenn
dem ärgsten Vösewicht sein Gewissen schlägt, wenn er mit dem Vorsatz der
Besserung Neue empfindet, so soll das ein leerer Wahn sein, weil er gedcmken-
schwach sich einbildet, daß er seine bösen Handlungen Hütte unterlassen können
und sollen?

So berechtigt auch diese dem natürlichen und gesunden Denken entspringenden
Einwürfe sind, man wird doch anerkennen müssen, daß sich Schopenhauer
wenigstens so klar und gemeinverständlich ausgesprochen hat, wie es sonst in
der Philosophie leider nicht gebräuchlich ist. Auch er hat trotz der Schroffheit
seiner Worte das Unhaltbare der Lehre vollauf empfunden, denn er ist sich
selbst nicht treu geblieben. Die großen Dichter hätte er als Eideshelfer aus
dem Spiele lassen sollen. Jeder von ihnen hat hie und da eine Anwandlung
der Stimmung poetisch verwertet, in der man sich nicht sür den Thäter seiner
Thaten hält, sondern sich in der Willensunfreiheit gefällt, aber im Gründe
genommen sind sie alle davou durchdrungen, daß der Mensch, und wäre er
"in Ketten geboren," frei sei. Schopenhauer selbst will ebenfalls der unmittel¬
baren Anschauung der Willensfreiheit Rechnung trage", und so hat er sich,


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

zeugen: „Alle wirklich tiefen Denker aller Zeiten, so verschieden anch ihre
sonstigen Ansichten sein mochten, stimmten darin überein, daß sie die Not¬
wendigkeit der Willensakte bei eintretenden Motiven behaupteten und die
Willensfreiheit (das liberum arbitrium inälllvrontmö) verwarfen, während die
oberflächlichen Geister mit dem großen Haufen der Willensfreiheit anhängen.
Hobbes zuerst, daun Spinoza, dann Hume, auch Holbach im LMvirio as 1a
NÄwi-s, und endlich am ausführlichsten und gründlichsten Pricstleh, haben die
vollkommne und strenge Notwendigkeit der Willensakte bei eintretenden Mo¬
tiven so deutlich bewiesen, daß sie den vollkommen demonstrirten Wahrheiten
beizuzählen ist. Und nicht bloß große Philosophen, sondern auch große
Theologen, wie Augustin und Luther, und große Dichter, wie Shakespeare,
Goethe und Schiller haben diese Wahrheit gelehrt, sodaß nur noch Unwissende
und Rohe vou einer Freiheit des Menschen in den einzelnen Handlungen zu
reden fortfahren können. Es giebt aber noch einen Mtttelschlag, der, sich ver¬
legen fühlend, hin und her lavirt, sich und andern den Zielpunkt verrückt,
sich hinter Worte und Phrasen flüchtet, oder die Frage so lange dreht und
verdreht, bis man nicht mehr weiß, worauf sie hinauslief. So hat es z. B.
Leibniz gemacht." Diese Worte Schopenhauers lassen an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig, sie dulden keine Einschränkung und keinen Rückzug, wer
sie unbefangen liest und so große Denker und Dichter auf Seiten der Willens-
unfrciheit findet, muß erstaunt ausrufen: Haben denn diese Männer nicht be¬
dacht, daß alle sittliche Beurteilung menschlicher Handlungen, alle Zurechnung
und Vergeltung wegfallen muß, wenn der Mensch nicht frei ist? Daß ferner
jedem Menschen sein innerstes Gefühl sagt, er könne den Neigungen zum Bösen
widerstehen und seine Pflicht erfüllen, wenn er nur ernstlich wolle? Wenn
dem ärgsten Vösewicht sein Gewissen schlägt, wenn er mit dem Vorsatz der
Besserung Neue empfindet, so soll das ein leerer Wahn sein, weil er gedcmken-
schwach sich einbildet, daß er seine bösen Handlungen Hütte unterlassen können
und sollen?

So berechtigt auch diese dem natürlichen und gesunden Denken entspringenden
Einwürfe sind, man wird doch anerkennen müssen, daß sich Schopenhauer
wenigstens so klar und gemeinverständlich ausgesprochen hat, wie es sonst in
der Philosophie leider nicht gebräuchlich ist. Auch er hat trotz der Schroffheit
seiner Worte das Unhaltbare der Lehre vollauf empfunden, denn er ist sich
selbst nicht treu geblieben. Die großen Dichter hätte er als Eideshelfer aus
dem Spiele lassen sollen. Jeder von ihnen hat hie und da eine Anwandlung
der Stimmung poetisch verwertet, in der man sich nicht sür den Thäter seiner
Thaten hält, sondern sich in der Willensunfreiheit gefällt, aber im Gründe
genommen sind sie alle davou durchdrungen, daß der Mensch, und wäre er
„in Ketten geboren," frei sei. Schopenhauer selbst will ebenfalls der unmittel¬
baren Anschauung der Willensfreiheit Rechnung trage», und so hat er sich,


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[0188] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg zeugen: „Alle wirklich tiefen Denker aller Zeiten, so verschieden anch ihre sonstigen Ansichten sein mochten, stimmten darin überein, daß sie die Not¬ wendigkeit der Willensakte bei eintretenden Motiven behaupteten und die Willensfreiheit (das liberum arbitrium inälllvrontmö) verwarfen, während die oberflächlichen Geister mit dem großen Haufen der Willensfreiheit anhängen. Hobbes zuerst, daun Spinoza, dann Hume, auch Holbach im LMvirio as 1a NÄwi-s, und endlich am ausführlichsten und gründlichsten Pricstleh, haben die vollkommne und strenge Notwendigkeit der Willensakte bei eintretenden Mo¬ tiven so deutlich bewiesen, daß sie den vollkommen demonstrirten Wahrheiten beizuzählen ist. Und nicht bloß große Philosophen, sondern auch große Theologen, wie Augustin und Luther, und große Dichter, wie Shakespeare, Goethe und Schiller haben diese Wahrheit gelehrt, sodaß nur noch Unwissende und Rohe vou einer Freiheit des Menschen in den einzelnen Handlungen zu reden fortfahren können. Es giebt aber noch einen Mtttelschlag, der, sich ver¬ legen fühlend, hin und her lavirt, sich und andern den Zielpunkt verrückt, sich hinter Worte und Phrasen flüchtet, oder die Frage so lange dreht und verdreht, bis man nicht mehr weiß, worauf sie hinauslief. So hat es z. B. Leibniz gemacht." Diese Worte Schopenhauers lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, sie dulden keine Einschränkung und keinen Rückzug, wer sie unbefangen liest und so große Denker und Dichter auf Seiten der Willens- unfrciheit findet, muß erstaunt ausrufen: Haben denn diese Männer nicht be¬ dacht, daß alle sittliche Beurteilung menschlicher Handlungen, alle Zurechnung und Vergeltung wegfallen muß, wenn der Mensch nicht frei ist? Daß ferner jedem Menschen sein innerstes Gefühl sagt, er könne den Neigungen zum Bösen widerstehen und seine Pflicht erfüllen, wenn er nur ernstlich wolle? Wenn dem ärgsten Vösewicht sein Gewissen schlägt, wenn er mit dem Vorsatz der Besserung Neue empfindet, so soll das ein leerer Wahn sein, weil er gedcmken- schwach sich einbildet, daß er seine bösen Handlungen Hütte unterlassen können und sollen? So berechtigt auch diese dem natürlichen und gesunden Denken entspringenden Einwürfe sind, man wird doch anerkennen müssen, daß sich Schopenhauer wenigstens so klar und gemeinverständlich ausgesprochen hat, wie es sonst in der Philosophie leider nicht gebräuchlich ist. Auch er hat trotz der Schroffheit seiner Worte das Unhaltbare der Lehre vollauf empfunden, denn er ist sich selbst nicht treu geblieben. Die großen Dichter hätte er als Eideshelfer aus dem Spiele lassen sollen. Jeder von ihnen hat hie und da eine Anwandlung der Stimmung poetisch verwertet, in der man sich nicht sür den Thäter seiner Thaten hält, sondern sich in der Willensunfreiheit gefällt, aber im Gründe genommen sind sie alle davou durchdrungen, daß der Mensch, und wäre er „in Ketten geboren," frei sei. Schopenhauer selbst will ebenfalls der unmittel¬ baren Anschauung der Willensfreiheit Rechnung trage», und so hat er sich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/188>, abgerufen am 23.07.2024.