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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

halten. Jene Strafverhängungen wurden als fehlerhafte Ausnahmen betrachtet.
Jetzt aber handelt es sich um die viel wichtigere Frage, ob überhaupt bei Straf¬
thaten eine Verschuldung vorliegen könne? Wenn das Strafrecht keine Ge¬
heimwissenschaft sein soll, so darf auch der gemeinverständlichen Erörterung der
menschlichen Willensnnfreiheit nicht ausgewichen werden.

Die Lehre der Willensunfreiheit ist zwar nicht neu, hat aber bis jetzt nur
eine kleine Gemeinde. Dennoch birgt sie eine große Gefahr in sich, weil sich zu
ihr sehr namhafte Geister bekennen, und weil sie im Verhältnis zu früher stetig
an Boden gewonnen hat. Sie hat auch früher schon in den Geisteswissen¬
schaften der Philosophie und Theologie eine bedeutende Rolle gespielt, aber in
die Rechtswissenschaft, die das menschliche Verkehrsleben regelt, ist sie erst in
unsrer Zeit durch die auf den Darwinismus aufgebaute Kriminalanthropologie
gedrungen. Ihr gehört die Zukunft, wenn wir fortfahren, die unmittelbaren
Anschauungen unentbehrlicher Vernunftbegriffe durch die logischen Grundgesetze
unsers Verstandes zu kritisiren und dadurch jene Vernunftbegrifse zu zerstören,
wenn wir uns nicht entschließen können, bei allen logischen Untersuchungen von
der völligen Voraussetzungslosigkeit Abstand zu nehmen und die Berechtigung
unmittelbarer und unbeweisbarer Anschauungen anzuerkennen.

Das Volk im großen und ganzen hält sich freilich von der Annahme mensch¬
licher Willensnnfreiheit noch fern, und das ist ein Glück, denn man kann sich nicht
verhehlen, daß ein der Lebensanschauung der Willensunfreiheit huldigendes Volk
mit dem Gefühle der Verantwortlichkeit auch seine Daseinsberechtigung sehr bald
einbüßen müßte. Die von den Volksmassen sich abhebenden und sie leitenden
Schichten der Halb- und Hochgebildeten der Gesellschaft sind wenigstens gegen¬
wärtig noch fest davon überzeugt, daß die Willensfreiheit keines weitern Nach¬
weises bedürfe und sie zu leugne" ein Unsinn sei, der durch die tägliche Er¬
fahrung widerlegt werde, und dem ernstlich auch kein vernünftiger Mensch an¬
hängen könne. Sie geben dabei gern zu, daß Anlage, Erziehung und äußere
Gelegenheit, also Erscheinungen, die von dem Willen des einzelnen Menschen
unabhängig sind und ihm weder zum Verdienst noch zur Schuld angerechnet
werden können, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung
des Charakters üben. Hiermit ist aber keineswegs eine völlige Verantwortungs-
losigkeit des Menschen angenommen, sondern es ist seiner Verantwortung nur
eine Grenze gezogen. Ebenso ist freilich auch der Gerechtigkeit irdischer Ge¬
richte eine Schranke gesetzt, denn der weltliche Richter wird niemals imstande
sein, die Einwirkung aller jener Einflüsse richtig zu veranschlagen. Er ist
außerdem auch durch das Gesetz gebunden, daß er ihnen nur eine geringe Be¬
rücksichtigung schenken kann. Eine beeinflußte Wahlfreiheit ist unvollkommen,
sie ist eine Freiheit, wie sie ganz folgewidrig auch der Materialist Büchner zu¬
lassen möchte, der sie mit der Freiheit des Vogels im Käfig vergleicht. Die
Hauptsache ist und bleibt immer, daß die Willensfreiheit nicht grundsätzlich


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

halten. Jene Strafverhängungen wurden als fehlerhafte Ausnahmen betrachtet.
Jetzt aber handelt es sich um die viel wichtigere Frage, ob überhaupt bei Straf¬
thaten eine Verschuldung vorliegen könne? Wenn das Strafrecht keine Ge¬
heimwissenschaft sein soll, so darf auch der gemeinverständlichen Erörterung der
menschlichen Willensnnfreiheit nicht ausgewichen werden.

Die Lehre der Willensunfreiheit ist zwar nicht neu, hat aber bis jetzt nur
eine kleine Gemeinde. Dennoch birgt sie eine große Gefahr in sich, weil sich zu
ihr sehr namhafte Geister bekennen, und weil sie im Verhältnis zu früher stetig
an Boden gewonnen hat. Sie hat auch früher schon in den Geisteswissen¬
schaften der Philosophie und Theologie eine bedeutende Rolle gespielt, aber in
die Rechtswissenschaft, die das menschliche Verkehrsleben regelt, ist sie erst in
unsrer Zeit durch die auf den Darwinismus aufgebaute Kriminalanthropologie
gedrungen. Ihr gehört die Zukunft, wenn wir fortfahren, die unmittelbaren
Anschauungen unentbehrlicher Vernunftbegriffe durch die logischen Grundgesetze
unsers Verstandes zu kritisiren und dadurch jene Vernunftbegrifse zu zerstören,
wenn wir uns nicht entschließen können, bei allen logischen Untersuchungen von
der völligen Voraussetzungslosigkeit Abstand zu nehmen und die Berechtigung
unmittelbarer und unbeweisbarer Anschauungen anzuerkennen.

Das Volk im großen und ganzen hält sich freilich von der Annahme mensch¬
licher Willensnnfreiheit noch fern, und das ist ein Glück, denn man kann sich nicht
verhehlen, daß ein der Lebensanschauung der Willensunfreiheit huldigendes Volk
mit dem Gefühle der Verantwortlichkeit auch seine Daseinsberechtigung sehr bald
einbüßen müßte. Die von den Volksmassen sich abhebenden und sie leitenden
Schichten der Halb- und Hochgebildeten der Gesellschaft sind wenigstens gegen¬
wärtig noch fest davon überzeugt, daß die Willensfreiheit keines weitern Nach¬
weises bedürfe und sie zu leugne» ein Unsinn sei, der durch die tägliche Er¬
fahrung widerlegt werde, und dem ernstlich auch kein vernünftiger Mensch an¬
hängen könne. Sie geben dabei gern zu, daß Anlage, Erziehung und äußere
Gelegenheit, also Erscheinungen, die von dem Willen des einzelnen Menschen
unabhängig sind und ihm weder zum Verdienst noch zur Schuld angerechnet
werden können, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung
des Charakters üben. Hiermit ist aber keineswegs eine völlige Verantwortungs-
losigkeit des Menschen angenommen, sondern es ist seiner Verantwortung nur
eine Grenze gezogen. Ebenso ist freilich auch der Gerechtigkeit irdischer Ge¬
richte eine Schranke gesetzt, denn der weltliche Richter wird niemals imstande
sein, die Einwirkung aller jener Einflüsse richtig zu veranschlagen. Er ist
außerdem auch durch das Gesetz gebunden, daß er ihnen nur eine geringe Be¬
rücksichtigung schenken kann. Eine beeinflußte Wahlfreiheit ist unvollkommen,
sie ist eine Freiheit, wie sie ganz folgewidrig auch der Materialist Büchner zu¬
lassen möchte, der sie mit der Freiheit des Vogels im Käfig vergleicht. Die
Hauptsache ist und bleibt immer, daß die Willensfreiheit nicht grundsätzlich


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[0186] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg halten. Jene Strafverhängungen wurden als fehlerhafte Ausnahmen betrachtet. Jetzt aber handelt es sich um die viel wichtigere Frage, ob überhaupt bei Straf¬ thaten eine Verschuldung vorliegen könne? Wenn das Strafrecht keine Ge¬ heimwissenschaft sein soll, so darf auch der gemeinverständlichen Erörterung der menschlichen Willensnnfreiheit nicht ausgewichen werden. Die Lehre der Willensunfreiheit ist zwar nicht neu, hat aber bis jetzt nur eine kleine Gemeinde. Dennoch birgt sie eine große Gefahr in sich, weil sich zu ihr sehr namhafte Geister bekennen, und weil sie im Verhältnis zu früher stetig an Boden gewonnen hat. Sie hat auch früher schon in den Geisteswissen¬ schaften der Philosophie und Theologie eine bedeutende Rolle gespielt, aber in die Rechtswissenschaft, die das menschliche Verkehrsleben regelt, ist sie erst in unsrer Zeit durch die auf den Darwinismus aufgebaute Kriminalanthropologie gedrungen. Ihr gehört die Zukunft, wenn wir fortfahren, die unmittelbaren Anschauungen unentbehrlicher Vernunftbegriffe durch die logischen Grundgesetze unsers Verstandes zu kritisiren und dadurch jene Vernunftbegrifse zu zerstören, wenn wir uns nicht entschließen können, bei allen logischen Untersuchungen von der völligen Voraussetzungslosigkeit Abstand zu nehmen und die Berechtigung unmittelbarer und unbeweisbarer Anschauungen anzuerkennen. Das Volk im großen und ganzen hält sich freilich von der Annahme mensch¬ licher Willensnnfreiheit noch fern, und das ist ein Glück, denn man kann sich nicht verhehlen, daß ein der Lebensanschauung der Willensunfreiheit huldigendes Volk mit dem Gefühle der Verantwortlichkeit auch seine Daseinsberechtigung sehr bald einbüßen müßte. Die von den Volksmassen sich abhebenden und sie leitenden Schichten der Halb- und Hochgebildeten der Gesellschaft sind wenigstens gegen¬ wärtig noch fest davon überzeugt, daß die Willensfreiheit keines weitern Nach¬ weises bedürfe und sie zu leugne» ein Unsinn sei, der durch die tägliche Er¬ fahrung widerlegt werde, und dem ernstlich auch kein vernünftiger Mensch an¬ hängen könne. Sie geben dabei gern zu, daß Anlage, Erziehung und äußere Gelegenheit, also Erscheinungen, die von dem Willen des einzelnen Menschen unabhängig sind und ihm weder zum Verdienst noch zur Schuld angerechnet werden können, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung des Charakters üben. Hiermit ist aber keineswegs eine völlige Verantwortungs- losigkeit des Menschen angenommen, sondern es ist seiner Verantwortung nur eine Grenze gezogen. Ebenso ist freilich auch der Gerechtigkeit irdischer Ge¬ richte eine Schranke gesetzt, denn der weltliche Richter wird niemals imstande sein, die Einwirkung aller jener Einflüsse richtig zu veranschlagen. Er ist außerdem auch durch das Gesetz gebunden, daß er ihnen nur eine geringe Be¬ rücksichtigung schenken kann. Eine beeinflußte Wahlfreiheit ist unvollkommen, sie ist eine Freiheit, wie sie ganz folgewidrig auch der Materialist Büchner zu¬ lassen möchte, der sie mit der Freiheit des Vogels im Käfig vergleicht. Die Hauptsache ist und bleibt immer, daß die Willensfreiheit nicht grundsätzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/186>, abgerufen am 23.07.2024.