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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

schon eine Antwort gegeben. Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß überall auch
die Vergrößerung der Intelligenz mit Vergrößerung der Macht und mit mate¬
riellem Fortschritt Hand in Hand gehen muß. Ohne Bethätigung unsrer Kraft
reiben wir uns innerlich auf, gefesselte Kraft wirkt zerstörend; wir haben diese
Erfahrung am Ausgange des Mittelalters schon einmal gemacht. Heute bildet
die in der Armut der Massen wurzelnde Sozialdemokratie das große Becken,
in das sich alle aus den verschiedensten Quellen entstandne Unzufriedenheit zu
ergießen droht. Ein einsichtiger Mann faßt das Wasser in der Nähe der
Quellen und leitet es dahin, wo es Segen bringt. Wir wollen nicht ver¬
gessen, daß gerade die viel gescholtene deutsche Anpassungsfähigkeit auch die
Grundlage eines Weltberufs werden kann, wie uns die deutsche Gründlichkeit
und Ausdauer, die in Schule und Heeresdienst gestärkte Intelligenz und Dis¬
ziplin zu den größten Aufgaben befähigen -- wenn wir wollen. Admiral Holl-
mann hat völlig Recht gehabt mit seiner anscheinend paradoxen Behauptung,
daß sich die deutschen Küsten selbst schützen, und wir zu ihrem Schutz über¬
haupt keine Flotte nötig haben. Unter frühern Kriegsverhältnisfen mochten
Landungsversuche Erfolg versprechen; gegen einen starken Staatsorganismus
mit einem hochtultivirten Volke sind ihre Aussichten äußerst gering. Abgesehen
von Küstenbatterien, Torpedos und Sperrungen trägt der Telegraph die Kunde
von der Annäherung feindlicher Schiffe überall hin; die bereitstehenden Truppen
werden bei Tag und Nacht aufs schnellste durch die Bahnen heranbefördert,
und in kurzer Zeit ist der Verteidiger dem Angreifer weit überlegen. Der
Angreifer dagegen kann, weil er sich auf dem Wasser vor feindlichen Küsten
befindet, keine sichern Nachrichten haben, er tappt im Dunkeln, und selbst wenn
er gelandet ist, ist er in gefährlicher Lage. Seine militärische Basis für
Verpflegung, Nachschub und zumal Munitionsersatz bilden schwimmende, vom
Wetter abhängige Schiffe, und an der Landungsstelle ist diese Basis, auf die
er sich vor überlegnen Kräften zurückziehen muß, so schmal und ungewiß, daß
er in der Gefahr völliger Vernichtung schwebt. Daraus folgt, daß eine Lan¬
dung nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie ungefährdet geschehen kann,
und ein lohnendes, verhältnismäßig ungeschütztes Ziel in greifbarer Nähe liegt.
Eine Stütze im Lande, wie sie Gustav Adolf fand, das Fehlen oder die Ent¬
fernung der feindlichen Heereskräfte, wie es in der Krim war, sind dabei die
Bedingungen für den Erfolg. Ohne das sind Landungsexpeditionen nur ein
Knecht Ruprecht für Kinder. Etwas andres sind Bombardements von Küsten¬
städten oder gewaltsame Versuche, sich feindlichen Kriegsmaterials, zu dem ja
auch die Flotte gehört, zu bemächtigen, wie sie die Engländer bei Toulon und
Kopenhagen ausgeführt haben. Aber zu dem Zwecke brauchten wir nach 1870
wahrlich keine Kriegsflotte zu bauen, um Hamburg und andre Küstenstädte
vor einem Bombardement zu schützen. Wir müssen also zugestehen, daß die
Gründung einer Hochseeflotte nach 1870 keinen andern Sinn haben konnte


Deutsche Kolonisation

schon eine Antwort gegeben. Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß überall auch
die Vergrößerung der Intelligenz mit Vergrößerung der Macht und mit mate¬
riellem Fortschritt Hand in Hand gehen muß. Ohne Bethätigung unsrer Kraft
reiben wir uns innerlich auf, gefesselte Kraft wirkt zerstörend; wir haben diese
Erfahrung am Ausgange des Mittelalters schon einmal gemacht. Heute bildet
die in der Armut der Massen wurzelnde Sozialdemokratie das große Becken,
in das sich alle aus den verschiedensten Quellen entstandne Unzufriedenheit zu
ergießen droht. Ein einsichtiger Mann faßt das Wasser in der Nähe der
Quellen und leitet es dahin, wo es Segen bringt. Wir wollen nicht ver¬
gessen, daß gerade die viel gescholtene deutsche Anpassungsfähigkeit auch die
Grundlage eines Weltberufs werden kann, wie uns die deutsche Gründlichkeit
und Ausdauer, die in Schule und Heeresdienst gestärkte Intelligenz und Dis¬
ziplin zu den größten Aufgaben befähigen — wenn wir wollen. Admiral Holl-
mann hat völlig Recht gehabt mit seiner anscheinend paradoxen Behauptung,
daß sich die deutschen Küsten selbst schützen, und wir zu ihrem Schutz über¬
haupt keine Flotte nötig haben. Unter frühern Kriegsverhältnisfen mochten
Landungsversuche Erfolg versprechen; gegen einen starken Staatsorganismus
mit einem hochtultivirten Volke sind ihre Aussichten äußerst gering. Abgesehen
von Küstenbatterien, Torpedos und Sperrungen trägt der Telegraph die Kunde
von der Annäherung feindlicher Schiffe überall hin; die bereitstehenden Truppen
werden bei Tag und Nacht aufs schnellste durch die Bahnen heranbefördert,
und in kurzer Zeit ist der Verteidiger dem Angreifer weit überlegen. Der
Angreifer dagegen kann, weil er sich auf dem Wasser vor feindlichen Küsten
befindet, keine sichern Nachrichten haben, er tappt im Dunkeln, und selbst wenn
er gelandet ist, ist er in gefährlicher Lage. Seine militärische Basis für
Verpflegung, Nachschub und zumal Munitionsersatz bilden schwimmende, vom
Wetter abhängige Schiffe, und an der Landungsstelle ist diese Basis, auf die
er sich vor überlegnen Kräften zurückziehen muß, so schmal und ungewiß, daß
er in der Gefahr völliger Vernichtung schwebt. Daraus folgt, daß eine Lan¬
dung nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie ungefährdet geschehen kann,
und ein lohnendes, verhältnismäßig ungeschütztes Ziel in greifbarer Nähe liegt.
Eine Stütze im Lande, wie sie Gustav Adolf fand, das Fehlen oder die Ent¬
fernung der feindlichen Heereskräfte, wie es in der Krim war, sind dabei die
Bedingungen für den Erfolg. Ohne das sind Landungsexpeditionen nur ein
Knecht Ruprecht für Kinder. Etwas andres sind Bombardements von Küsten¬
städten oder gewaltsame Versuche, sich feindlichen Kriegsmaterials, zu dem ja
auch die Flotte gehört, zu bemächtigen, wie sie die Engländer bei Toulon und
Kopenhagen ausgeführt haben. Aber zu dem Zwecke brauchten wir nach 1870
wahrlich keine Kriegsflotte zu bauen, um Hamburg und andre Küstenstädte
vor einem Bombardement zu schützen. Wir müssen also zugestehen, daß die
Gründung einer Hochseeflotte nach 1870 keinen andern Sinn haben konnte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/14>, abgerufen am 23.07.2024.