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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei

erzielt, daß er sie sich in irgend einer Weise verpflichtet, z. B. durch Geschenke,
Orden oder dergleichen, erhalten wird sie durch ein ganzes Netz von Ver¬
trauensmännern. Im Spitzeltum beruht der Zusammenhalt der Verwaltung.
Solche Stützen haben sich wankende Throne stets gesucht, in alter wie in
neuer Zeit. Die Folge dieses Spitzeltums aber ist ein allgemeines Mißtrauen,
niemand wagt es, eine wichtige Sache in die Hand zu nehmen, weil er darauf
gefaßt sein muß, beim Sultan verdächtigt zu werden. Kommt aber trotzdem
einmal ein Plan der Ausführung nahe, so kann noch im letzten Augenblick ein
beliebiger Thürschließer oder Unteroffizier durch eine Denunziation alles ver¬
hindern. Dagegen macht jeder gute Karriere, der alles thut, um an den
gegenwärtigen Zuständen nichts zu ändern. Nur die schlechtesten Gesellen
kommen in die Höhe, wie folgendes Stückchen lehrt. Der Sultan fährt all¬
jährlich bei dem großen Ramescin durch die Stadt. Dabei schwebt er natür¬
lich stets in großer Angst vor Attentaten. Diesen Umstand machte sich ein
hoher Würdenträger zu nutze. Er ließ von einem verbummelten Serben an
der großen Brücke, die der Zug Passiren mußte, eine Scheinbvmbe legen. Als
sich der Wagen des Padischah der Brücke näherte, "entdeckte" der Würdenträger
das Attentat und wurde für die Lebensrettung des Sultans besonders aus¬
gezeichnet. Die Sache kam aber ans Licht. Trotzdem blieb der Pascha in
seiner Stellung, weil sich der Sultan sagte: Wer solche Veranstaltungen trifft,
um mir ein Attentat melden zu können, um wie viel eher wird der kommen,
wenn er wirklich eins entdeckt hat! Kein Wunder, wenn bei solchen Beispielen
Intriguen, Bestechung und Unterschlagung an der Tagesordnung sind. Daher
können sich auch nur sehr gut fundirte Gesellschaften an ein Unternehmen
wagen, weil die Kreise, durch deren Befürwortung die Konzession zu erkaufen
ist, sehr groß sind. Schwache Gesellschaften werden sehr bald zu Grunde ge¬
richtet. Die Beamten wissen ihnen langsam, aber sicher ihre Mittel abzupressen.
Wer etwa versuchen wollte, ohne Bestechung etwas zu erreichen, würde so lange
polizeilich chikcmirt werden, bis sein Unternehmen hinfällig geworden wäre.
Überall findet man die großartigsten Ansätze zu Reformen in europäischen!
Sinne, und daneben wieder die alles erdrückende Reaktion. Enorme Summen
sind für Neuerungen im Auslande aufgenommen worden, aber sie find von
vornherein totes Kapital, da die Neuerungen nach dem Willen des Sultans
nicht rentiren dürfen. Die Zinsen der Anleihen muß vor allem die muhamme-
danische Landbevölkerung aufbringen, und so herrscht deun in deu untern Klassen
eine unglaubliche Armut. Der Bürgerstand verschwindet vollständig. Wie
sonderbar die Finanzwirtschaft in der Türkei ist, geht unter anderm daraus
hervor, daß die Beamten mehrerer Ministerien sich selbständig von den Geldern
besolden, die kraft ihrer Stellung durch ihre Hände gehen. Eine große Last
für das unglückliche Land liegt auch in der Höhe der Zivilliste (54 Millionen
Franken) und der Gehalte der obersten Beamten und Militürchargen. Der


Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei

erzielt, daß er sie sich in irgend einer Weise verpflichtet, z. B. durch Geschenke,
Orden oder dergleichen, erhalten wird sie durch ein ganzes Netz von Ver¬
trauensmännern. Im Spitzeltum beruht der Zusammenhalt der Verwaltung.
Solche Stützen haben sich wankende Throne stets gesucht, in alter wie in
neuer Zeit. Die Folge dieses Spitzeltums aber ist ein allgemeines Mißtrauen,
niemand wagt es, eine wichtige Sache in die Hand zu nehmen, weil er darauf
gefaßt sein muß, beim Sultan verdächtigt zu werden. Kommt aber trotzdem
einmal ein Plan der Ausführung nahe, so kann noch im letzten Augenblick ein
beliebiger Thürschließer oder Unteroffizier durch eine Denunziation alles ver¬
hindern. Dagegen macht jeder gute Karriere, der alles thut, um an den
gegenwärtigen Zuständen nichts zu ändern. Nur die schlechtesten Gesellen
kommen in die Höhe, wie folgendes Stückchen lehrt. Der Sultan fährt all¬
jährlich bei dem großen Ramescin durch die Stadt. Dabei schwebt er natür¬
lich stets in großer Angst vor Attentaten. Diesen Umstand machte sich ein
hoher Würdenträger zu nutze. Er ließ von einem verbummelten Serben an
der großen Brücke, die der Zug Passiren mußte, eine Scheinbvmbe legen. Als
sich der Wagen des Padischah der Brücke näherte, „entdeckte" der Würdenträger
das Attentat und wurde für die Lebensrettung des Sultans besonders aus¬
gezeichnet. Die Sache kam aber ans Licht. Trotzdem blieb der Pascha in
seiner Stellung, weil sich der Sultan sagte: Wer solche Veranstaltungen trifft,
um mir ein Attentat melden zu können, um wie viel eher wird der kommen,
wenn er wirklich eins entdeckt hat! Kein Wunder, wenn bei solchen Beispielen
Intriguen, Bestechung und Unterschlagung an der Tagesordnung sind. Daher
können sich auch nur sehr gut fundirte Gesellschaften an ein Unternehmen
wagen, weil die Kreise, durch deren Befürwortung die Konzession zu erkaufen
ist, sehr groß sind. Schwache Gesellschaften werden sehr bald zu Grunde ge¬
richtet. Die Beamten wissen ihnen langsam, aber sicher ihre Mittel abzupressen.
Wer etwa versuchen wollte, ohne Bestechung etwas zu erreichen, würde so lange
polizeilich chikcmirt werden, bis sein Unternehmen hinfällig geworden wäre.
Überall findet man die großartigsten Ansätze zu Reformen in europäischen!
Sinne, und daneben wieder die alles erdrückende Reaktion. Enorme Summen
sind für Neuerungen im Auslande aufgenommen worden, aber sie find von
vornherein totes Kapital, da die Neuerungen nach dem Willen des Sultans
nicht rentiren dürfen. Die Zinsen der Anleihen muß vor allem die muhamme-
danische Landbevölkerung aufbringen, und so herrscht deun in deu untern Klassen
eine unglaubliche Armut. Der Bürgerstand verschwindet vollständig. Wie
sonderbar die Finanzwirtschaft in der Türkei ist, geht unter anderm daraus
hervor, daß die Beamten mehrerer Ministerien sich selbständig von den Geldern
besolden, die kraft ihrer Stellung durch ihre Hände gehen. Eine große Last
für das unglückliche Land liegt auch in der Höhe der Zivilliste (54 Millionen
Franken) und der Gehalte der obersten Beamten und Militürchargen. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/133>, abgerufen am 23.07.2024.