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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei

verteilt, und die Truppe zieht mit einer Waffe in den Kampf, die sie noch
niemals in der Hand gehabt hat. Vom türkischen Soldaten verlangt sein
Kriegsherr nnr, daß er sich unbedingt ruhig verhalte. Die Unterbringung, Be¬
kleidung und Beköstigung ist daher im allgemeinen schlecht. Daß der Sold hin
und wieder unregelmäßig gezahlt wird, liegt an den allgemeinen mißlichen Finanz¬
verhältnissen. Dafür wird aber auch niemand pensionirt; wer einen Gehalt ein¬
mal bekommt, der behält ihn bis an sein Lebensende. Noch schlimmer steht es
bei der Marine. Alle Bemühungen des ehemaligen deutschen Kapitäns Kalau
vom Hofe scheitern an dem passiven Widerstande des Ministeriums."

Dasselbe Bild wie hier bietet sich überall. In den "Anatolischen Wande¬
rungen" des Freiherrn von der Goltz Pascha haben wir eine lebhafte Schilde¬
rung von den vielerlei Anlagen, die zur Hebung des Landbaus in Kleinasien
begonnen worden sind. Aber es bleibt bei dem Beginn, Früchte dürfen
nicht erstehen. Die Türken, die ins Ausland geschickt werden, um die Fort¬
schritte der Neuzeit kennen zu lernen, eignen sich, klug und bildungsfähig, wie
sie sind, mit großem Eifer alles Wissenswerte an, aber in die Heimat zurück¬
gekehrt, können sie es nicht verwerten, sie werden in irgend eine Stelle gebracht,
wo sie unschädlich bleiben. Denn ihre Kenntnisse würden die Autorität des
Sultans bedrohen. So geht es vor allem den türkischen Offizieren, die in
deutschen Diensten gewesen sind -- sie beeilen sich, wenn ihnen ihr Leben lieb
ist, so bald als möglich wieder zu vertürken. Ihre Sendung nach Deutschland
war uur eine Posse.

Auf diese Weise hat der Sultan innerhalb seines weiten Reichs alles er¬
drückt, was auch nur einen Schatten von Selbständigkeit, von Macht hatte,
was sich vermaß, irgendwie nach Verbesserung und Vervollkommnung zu sireben.
Er hat es erreicht, der absoluteste Herrscher auf der Welt zu sein. Neben
seiner Meinung giebt es heute im Staate keine andre. Er läßt sich von nie¬
mand leiten, von niemand raten, seine Günstlinge sind nichts als seine Sklaven.
Durch seine erstaunliche Menschenkenntnis hat er sich ein Heer willfähriger
Staatsdiener geschaffen, und auf diese allein stützt sich seine Herrschaft. Ob¬
gleich diese Beamten ein sich dem Bakschisch sehr zugänglich sind, so ist doch
die Macht des Trinkgelds zu Ende, wenn der Spender beim Sultan in Un¬
gnade ist. Alle edeln Triebe hat er in seinen Unterthanen zu vernichten ge¬
sucht, nur eins hat er gepflegt, stummen Gehorsam gegen seine Befehle, und
den hat er erreicht. Die Minister sind bloße Scheinwesen, nur dazu da, den
Signaturmächten Sand in die Augen zu streuen. Durch sie verordnet der
Sultan amtlich, was er durch seine Kammerherren wieder hintertreiben läßt.
Kommen Konflikte mit den Mächten vor, dann werden die verantwortlichen
Minister abgesetzt, um dem Schein zu genügen, am Thatbestand wird nicht
das Geringste geändert.

Die Abhängigkeit aller Beamten vom Sultan wird gewöhnlich dadurch


Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei

verteilt, und die Truppe zieht mit einer Waffe in den Kampf, die sie noch
niemals in der Hand gehabt hat. Vom türkischen Soldaten verlangt sein
Kriegsherr nnr, daß er sich unbedingt ruhig verhalte. Die Unterbringung, Be¬
kleidung und Beköstigung ist daher im allgemeinen schlecht. Daß der Sold hin
und wieder unregelmäßig gezahlt wird, liegt an den allgemeinen mißlichen Finanz¬
verhältnissen. Dafür wird aber auch niemand pensionirt; wer einen Gehalt ein¬
mal bekommt, der behält ihn bis an sein Lebensende. Noch schlimmer steht es
bei der Marine. Alle Bemühungen des ehemaligen deutschen Kapitäns Kalau
vom Hofe scheitern an dem passiven Widerstande des Ministeriums."

Dasselbe Bild wie hier bietet sich überall. In den „Anatolischen Wande¬
rungen" des Freiherrn von der Goltz Pascha haben wir eine lebhafte Schilde¬
rung von den vielerlei Anlagen, die zur Hebung des Landbaus in Kleinasien
begonnen worden sind. Aber es bleibt bei dem Beginn, Früchte dürfen
nicht erstehen. Die Türken, die ins Ausland geschickt werden, um die Fort¬
schritte der Neuzeit kennen zu lernen, eignen sich, klug und bildungsfähig, wie
sie sind, mit großem Eifer alles Wissenswerte an, aber in die Heimat zurück¬
gekehrt, können sie es nicht verwerten, sie werden in irgend eine Stelle gebracht,
wo sie unschädlich bleiben. Denn ihre Kenntnisse würden die Autorität des
Sultans bedrohen. So geht es vor allem den türkischen Offizieren, die in
deutschen Diensten gewesen sind — sie beeilen sich, wenn ihnen ihr Leben lieb
ist, so bald als möglich wieder zu vertürken. Ihre Sendung nach Deutschland
war uur eine Posse.

Auf diese Weise hat der Sultan innerhalb seines weiten Reichs alles er¬
drückt, was auch nur einen Schatten von Selbständigkeit, von Macht hatte,
was sich vermaß, irgendwie nach Verbesserung und Vervollkommnung zu sireben.
Er hat es erreicht, der absoluteste Herrscher auf der Welt zu sein. Neben
seiner Meinung giebt es heute im Staate keine andre. Er läßt sich von nie¬
mand leiten, von niemand raten, seine Günstlinge sind nichts als seine Sklaven.
Durch seine erstaunliche Menschenkenntnis hat er sich ein Heer willfähriger
Staatsdiener geschaffen, und auf diese allein stützt sich seine Herrschaft. Ob¬
gleich diese Beamten ein sich dem Bakschisch sehr zugänglich sind, so ist doch
die Macht des Trinkgelds zu Ende, wenn der Spender beim Sultan in Un¬
gnade ist. Alle edeln Triebe hat er in seinen Unterthanen zu vernichten ge¬
sucht, nur eins hat er gepflegt, stummen Gehorsam gegen seine Befehle, und
den hat er erreicht. Die Minister sind bloße Scheinwesen, nur dazu da, den
Signaturmächten Sand in die Augen zu streuen. Durch sie verordnet der
Sultan amtlich, was er durch seine Kammerherren wieder hintertreiben läßt.
Kommen Konflikte mit den Mächten vor, dann werden die verantwortlichen
Minister abgesetzt, um dem Schein zu genügen, am Thatbestand wird nicht
das Geringste geändert.

Die Abhängigkeit aller Beamten vom Sultan wird gewöhnlich dadurch


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[0132] Abdul Hamid II. und die Reformen in der Türkei verteilt, und die Truppe zieht mit einer Waffe in den Kampf, die sie noch niemals in der Hand gehabt hat. Vom türkischen Soldaten verlangt sein Kriegsherr nnr, daß er sich unbedingt ruhig verhalte. Die Unterbringung, Be¬ kleidung und Beköstigung ist daher im allgemeinen schlecht. Daß der Sold hin und wieder unregelmäßig gezahlt wird, liegt an den allgemeinen mißlichen Finanz¬ verhältnissen. Dafür wird aber auch niemand pensionirt; wer einen Gehalt ein¬ mal bekommt, der behält ihn bis an sein Lebensende. Noch schlimmer steht es bei der Marine. Alle Bemühungen des ehemaligen deutschen Kapitäns Kalau vom Hofe scheitern an dem passiven Widerstande des Ministeriums." Dasselbe Bild wie hier bietet sich überall. In den „Anatolischen Wande¬ rungen" des Freiherrn von der Goltz Pascha haben wir eine lebhafte Schilde¬ rung von den vielerlei Anlagen, die zur Hebung des Landbaus in Kleinasien begonnen worden sind. Aber es bleibt bei dem Beginn, Früchte dürfen nicht erstehen. Die Türken, die ins Ausland geschickt werden, um die Fort¬ schritte der Neuzeit kennen zu lernen, eignen sich, klug und bildungsfähig, wie sie sind, mit großem Eifer alles Wissenswerte an, aber in die Heimat zurück¬ gekehrt, können sie es nicht verwerten, sie werden in irgend eine Stelle gebracht, wo sie unschädlich bleiben. Denn ihre Kenntnisse würden die Autorität des Sultans bedrohen. So geht es vor allem den türkischen Offizieren, die in deutschen Diensten gewesen sind — sie beeilen sich, wenn ihnen ihr Leben lieb ist, so bald als möglich wieder zu vertürken. Ihre Sendung nach Deutschland war uur eine Posse. Auf diese Weise hat der Sultan innerhalb seines weiten Reichs alles er¬ drückt, was auch nur einen Schatten von Selbständigkeit, von Macht hatte, was sich vermaß, irgendwie nach Verbesserung und Vervollkommnung zu sireben. Er hat es erreicht, der absoluteste Herrscher auf der Welt zu sein. Neben seiner Meinung giebt es heute im Staate keine andre. Er läßt sich von nie¬ mand leiten, von niemand raten, seine Günstlinge sind nichts als seine Sklaven. Durch seine erstaunliche Menschenkenntnis hat er sich ein Heer willfähriger Staatsdiener geschaffen, und auf diese allein stützt sich seine Herrschaft. Ob¬ gleich diese Beamten ein sich dem Bakschisch sehr zugänglich sind, so ist doch die Macht des Trinkgelds zu Ende, wenn der Spender beim Sultan in Un¬ gnade ist. Alle edeln Triebe hat er in seinen Unterthanen zu vernichten ge¬ sucht, nur eins hat er gepflegt, stummen Gehorsam gegen seine Befehle, und den hat er erreicht. Die Minister sind bloße Scheinwesen, nur dazu da, den Signaturmächten Sand in die Augen zu streuen. Durch sie verordnet der Sultan amtlich, was er durch seine Kammerherren wieder hintertreiben läßt. Kommen Konflikte mit den Mächten vor, dann werden die verantwortlichen Minister abgesetzt, um dem Schein zu genügen, am Thatbestand wird nicht das Geringste geändert. Die Abhängigkeit aller Beamten vom Sultan wird gewöhnlich dadurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/132>, abgerufen am 23.07.2024.