Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Abdul Hamid II, und die Reformen in der Türkei

Reformen, wie sie von den europäischen Mächten angestrebt werden, durchaus
geneigt. Die Türken an sich sind durchaus tüchtige, brave Leute, sie haben
nur einen schwerwiegenden Fehler: sie sind unfähig, sich selbst zu regieren.
Der Despotismus ist daher bei ihnen durchaus keine verhaßte Regierungsform,
sie folgen auch, was besonders zu betonen ist, blindlings allen Anordnungen
ihres Sultans. Für alles, was in der Türkei geschieht, kann daher nicht das
Volk, sondern nur die Regierung verantwortlich gemacht werden, und inner¬
halb der Regierung wieder der, der ihre Maßnahmen bestimmt -- das ist aber
zur Zeit niemand anders als der Sultan selbst, Abdul Hammid II. Ihn allein
trifft daher die Schuld an den heutigen Mißständen in der Türkei.

Um der Person und Bedeutung des jetzigen Herrschers gerecht zu werden,
muß man vor allem eins im Auge behalten: im osmanischen Reiche gilt hin¬
sichtlich der Erbfolge das Seniorat; nicht der Sohn, sondern der Älteste der
gesamten Herrscherfamilie folgt auf dem Thron. Die Mißstände, die sich daraus
ergeben müssen, liegen auf der Hand: man braucht nnr daran zu denken, wie
es im Privatleben wäre, wenn nicht der Sohn, sondern der nächstälteste An¬
verwandte der Erbe wäre. Schon im Privatleben empfindet es kaum jemand
als eine Freude, für sogenannte lachende Erben zu arbeiten; mit welchen Augen
muß uun erst der Sultan den Kronprinzen betrachten, mit dessen Regierungs¬
antritt des Herrschers eigne Familie ein trauriges Los erwartet! Verwandt¬
schaftliche Gefühle kommen bei der Haremswirtschaft nicht in Betracht. Der
Kronprinz ist daher der natürliche Feind des jeweiligen Herrschers und wird
dementsprechend behandelt. Es beruht auf dem ganz natürlichen Gesetze der
Notwehr, wenn der Sultan seinen Nachfolger in völliger Abgeschlossenheit und
Blödheit erhält. "Ohne jede Vorbereitung für seinen Beruf, ja überhaupt ohne
landläufige Bildung, ohne die geringste politische Schulung, ohne jede Bekannt¬
schaft mit Land und Leuten, mit den Bedürfnissen und Fragen der Zeit, beneidet
von Brüdern und Vettern, gehaßt von den Kindern seines Vorgängers, besteigt
der osmanische Prinz den Thron seines Bruders oder Onkels,"

Abdul Hamid II. wurde am 31. August 1876 an Stelle seines sür irr¬
sinnig erklärten Bruders Murad V. von der Reformpartei zum Sultan aus¬
gerufen. Er durchschaute die Verhältnisse vollkommen: mau betrachtete ihn
als Marionette, er sollte ein willenloses Werkzeug in der Hand der Reform¬
partei und ihres genialen Führers Midhat Pascha werden. Diese bezweckte
aber, aus der Türkei einen modernen Staat zu machen, und in einem solchen
war nicht Platz für das, was des Sultans Ideal war: für die alte Kalifen¬
herrlichkeit mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, mit Haremsweseu
und Eunuchentum. Es sollten andre mitreden im osmanischen Reich, eine
konstitutionelle Verfassung sollte die despotische ersetzen. Und siehe: der Kampf
des dynastischen Absolutismus, der für den Westen Europas schon lange zu
Gunsten des Volkes entschieden ist, in diesem Wetterwiukel Europas endete


Grenzboten II 1M7 1"
Abdul Hamid II, und die Reformen in der Türkei

Reformen, wie sie von den europäischen Mächten angestrebt werden, durchaus
geneigt. Die Türken an sich sind durchaus tüchtige, brave Leute, sie haben
nur einen schwerwiegenden Fehler: sie sind unfähig, sich selbst zu regieren.
Der Despotismus ist daher bei ihnen durchaus keine verhaßte Regierungsform,
sie folgen auch, was besonders zu betonen ist, blindlings allen Anordnungen
ihres Sultans. Für alles, was in der Türkei geschieht, kann daher nicht das
Volk, sondern nur die Regierung verantwortlich gemacht werden, und inner¬
halb der Regierung wieder der, der ihre Maßnahmen bestimmt — das ist aber
zur Zeit niemand anders als der Sultan selbst, Abdul Hammid II. Ihn allein
trifft daher die Schuld an den heutigen Mißständen in der Türkei.

Um der Person und Bedeutung des jetzigen Herrschers gerecht zu werden,
muß man vor allem eins im Auge behalten: im osmanischen Reiche gilt hin¬
sichtlich der Erbfolge das Seniorat; nicht der Sohn, sondern der Älteste der
gesamten Herrscherfamilie folgt auf dem Thron. Die Mißstände, die sich daraus
ergeben müssen, liegen auf der Hand: man braucht nnr daran zu denken, wie
es im Privatleben wäre, wenn nicht der Sohn, sondern der nächstälteste An¬
verwandte der Erbe wäre. Schon im Privatleben empfindet es kaum jemand
als eine Freude, für sogenannte lachende Erben zu arbeiten; mit welchen Augen
muß uun erst der Sultan den Kronprinzen betrachten, mit dessen Regierungs¬
antritt des Herrschers eigne Familie ein trauriges Los erwartet! Verwandt¬
schaftliche Gefühle kommen bei der Haremswirtschaft nicht in Betracht. Der
Kronprinz ist daher der natürliche Feind des jeweiligen Herrschers und wird
dementsprechend behandelt. Es beruht auf dem ganz natürlichen Gesetze der
Notwehr, wenn der Sultan seinen Nachfolger in völliger Abgeschlossenheit und
Blödheit erhält. „Ohne jede Vorbereitung für seinen Beruf, ja überhaupt ohne
landläufige Bildung, ohne die geringste politische Schulung, ohne jede Bekannt¬
schaft mit Land und Leuten, mit den Bedürfnissen und Fragen der Zeit, beneidet
von Brüdern und Vettern, gehaßt von den Kindern seines Vorgängers, besteigt
der osmanische Prinz den Thron seines Bruders oder Onkels,"

Abdul Hamid II. wurde am 31. August 1876 an Stelle seines sür irr¬
sinnig erklärten Bruders Murad V. von der Reformpartei zum Sultan aus¬
gerufen. Er durchschaute die Verhältnisse vollkommen: mau betrachtete ihn
als Marionette, er sollte ein willenloses Werkzeug in der Hand der Reform¬
partei und ihres genialen Führers Midhat Pascha werden. Diese bezweckte
aber, aus der Türkei einen modernen Staat zu machen, und in einem solchen
war nicht Platz für das, was des Sultans Ideal war: für die alte Kalifen¬
herrlichkeit mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, mit Haremsweseu
und Eunuchentum. Es sollten andre mitreden im osmanischen Reich, eine
konstitutionelle Verfassung sollte die despotische ersetzen. Und siehe: der Kampf
des dynastischen Absolutismus, der für den Westen Europas schon lange zu
Gunsten des Volkes entschieden ist, in diesem Wetterwiukel Europas endete


Grenzboten II 1M7 1«
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0129" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225057"/>
          <fw type="header" place="top"> Abdul Hamid II, und die Reformen in der Türkei</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_400" prev="#ID_399"> Reformen, wie sie von den europäischen Mächten angestrebt werden, durchaus<lb/>
geneigt. Die Türken an sich sind durchaus tüchtige, brave Leute, sie haben<lb/>
nur einen schwerwiegenden Fehler: sie sind unfähig, sich selbst zu regieren.<lb/>
Der Despotismus ist daher bei ihnen durchaus keine verhaßte Regierungsform,<lb/>
sie folgen auch, was besonders zu betonen ist, blindlings allen Anordnungen<lb/>
ihres Sultans. Für alles, was in der Türkei geschieht, kann daher nicht das<lb/>
Volk, sondern nur die Regierung verantwortlich gemacht werden, und inner¬<lb/>
halb der Regierung wieder der, der ihre Maßnahmen bestimmt &#x2014; das ist aber<lb/>
zur Zeit niemand anders als der Sultan selbst, Abdul Hammid II. Ihn allein<lb/>
trifft daher die Schuld an den heutigen Mißständen in der Türkei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_401"> Um der Person und Bedeutung des jetzigen Herrschers gerecht zu werden,<lb/>
muß man vor allem eins im Auge behalten: im osmanischen Reiche gilt hin¬<lb/>
sichtlich der Erbfolge das Seniorat; nicht der Sohn, sondern der Älteste der<lb/>
gesamten Herrscherfamilie folgt auf dem Thron. Die Mißstände, die sich daraus<lb/>
ergeben müssen, liegen auf der Hand: man braucht nnr daran zu denken, wie<lb/>
es im Privatleben wäre, wenn nicht der Sohn, sondern der nächstälteste An¬<lb/>
verwandte der Erbe wäre. Schon im Privatleben empfindet es kaum jemand<lb/>
als eine Freude, für sogenannte lachende Erben zu arbeiten; mit welchen Augen<lb/>
muß uun erst der Sultan den Kronprinzen betrachten, mit dessen Regierungs¬<lb/>
antritt des Herrschers eigne Familie ein trauriges Los erwartet! Verwandt¬<lb/>
schaftliche Gefühle kommen bei der Haremswirtschaft nicht in Betracht. Der<lb/>
Kronprinz ist daher der natürliche Feind des jeweiligen Herrschers und wird<lb/>
dementsprechend behandelt. Es beruht auf dem ganz natürlichen Gesetze der<lb/>
Notwehr, wenn der Sultan seinen Nachfolger in völliger Abgeschlossenheit und<lb/>
Blödheit erhält. &#x201E;Ohne jede Vorbereitung für seinen Beruf, ja überhaupt ohne<lb/>
landläufige Bildung, ohne die geringste politische Schulung, ohne jede Bekannt¬<lb/>
schaft mit Land und Leuten, mit den Bedürfnissen und Fragen der Zeit, beneidet<lb/>
von Brüdern und Vettern, gehaßt von den Kindern seines Vorgängers, besteigt<lb/>
der osmanische Prinz den Thron seines Bruders oder Onkels,"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_402" next="#ID_403"> Abdul Hamid II. wurde am 31. August 1876 an Stelle seines sür irr¬<lb/>
sinnig erklärten Bruders Murad V. von der Reformpartei zum Sultan aus¬<lb/>
gerufen. Er durchschaute die Verhältnisse vollkommen: mau betrachtete ihn<lb/>
als Marionette, er sollte ein willenloses Werkzeug in der Hand der Reform¬<lb/>
partei und ihres genialen Führers Midhat Pascha werden. Diese bezweckte<lb/>
aber, aus der Türkei einen modernen Staat zu machen, und in einem solchen<lb/>
war nicht Platz für das, was des Sultans Ideal war: für die alte Kalifen¬<lb/>
herrlichkeit mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, mit Haremsweseu<lb/>
und Eunuchentum. Es sollten andre mitreden im osmanischen Reich, eine<lb/>
konstitutionelle Verfassung sollte die despotische ersetzen. Und siehe: der Kampf<lb/>
des dynastischen Absolutismus, der für den Westen Europas schon lange zu<lb/>
Gunsten des Volkes entschieden ist, in diesem Wetterwiukel Europas endete</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1M7 1«</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0129] Abdul Hamid II, und die Reformen in der Türkei Reformen, wie sie von den europäischen Mächten angestrebt werden, durchaus geneigt. Die Türken an sich sind durchaus tüchtige, brave Leute, sie haben nur einen schwerwiegenden Fehler: sie sind unfähig, sich selbst zu regieren. Der Despotismus ist daher bei ihnen durchaus keine verhaßte Regierungsform, sie folgen auch, was besonders zu betonen ist, blindlings allen Anordnungen ihres Sultans. Für alles, was in der Türkei geschieht, kann daher nicht das Volk, sondern nur die Regierung verantwortlich gemacht werden, und inner¬ halb der Regierung wieder der, der ihre Maßnahmen bestimmt — das ist aber zur Zeit niemand anders als der Sultan selbst, Abdul Hammid II. Ihn allein trifft daher die Schuld an den heutigen Mißständen in der Türkei. Um der Person und Bedeutung des jetzigen Herrschers gerecht zu werden, muß man vor allem eins im Auge behalten: im osmanischen Reiche gilt hin¬ sichtlich der Erbfolge das Seniorat; nicht der Sohn, sondern der Älteste der gesamten Herrscherfamilie folgt auf dem Thron. Die Mißstände, die sich daraus ergeben müssen, liegen auf der Hand: man braucht nnr daran zu denken, wie es im Privatleben wäre, wenn nicht der Sohn, sondern der nächstälteste An¬ verwandte der Erbe wäre. Schon im Privatleben empfindet es kaum jemand als eine Freude, für sogenannte lachende Erben zu arbeiten; mit welchen Augen muß uun erst der Sultan den Kronprinzen betrachten, mit dessen Regierungs¬ antritt des Herrschers eigne Familie ein trauriges Los erwartet! Verwandt¬ schaftliche Gefühle kommen bei der Haremswirtschaft nicht in Betracht. Der Kronprinz ist daher der natürliche Feind des jeweiligen Herrschers und wird dementsprechend behandelt. Es beruht auf dem ganz natürlichen Gesetze der Notwehr, wenn der Sultan seinen Nachfolger in völliger Abgeschlossenheit und Blödheit erhält. „Ohne jede Vorbereitung für seinen Beruf, ja überhaupt ohne landläufige Bildung, ohne die geringste politische Schulung, ohne jede Bekannt¬ schaft mit Land und Leuten, mit den Bedürfnissen und Fragen der Zeit, beneidet von Brüdern und Vettern, gehaßt von den Kindern seines Vorgängers, besteigt der osmanische Prinz den Thron seines Bruders oder Onkels," Abdul Hamid II. wurde am 31. August 1876 an Stelle seines sür irr¬ sinnig erklärten Bruders Murad V. von der Reformpartei zum Sultan aus¬ gerufen. Er durchschaute die Verhältnisse vollkommen: mau betrachtete ihn als Marionette, er sollte ein willenloses Werkzeug in der Hand der Reform¬ partei und ihres genialen Führers Midhat Pascha werden. Diese bezweckte aber, aus der Türkei einen modernen Staat zu machen, und in einem solchen war nicht Platz für das, was des Sultans Ideal war: für die alte Kalifen¬ herrlichkeit mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, mit Haremsweseu und Eunuchentum. Es sollten andre mitreden im osmanischen Reich, eine konstitutionelle Verfassung sollte die despotische ersetzen. Und siehe: der Kampf des dynastischen Absolutismus, der für den Westen Europas schon lange zu Gunsten des Volkes entschieden ist, in diesem Wetterwiukel Europas endete Grenzboten II 1M7 1«

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/129
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/129>, abgerufen am 23.07.2024.