Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Agrarisches Ziinftlertum

gekehrt, in der Landwirtschaft 305, in der Industrie 320 Prozent. Dabei
wogen in Kärnten nicht etwa die jüngern Altersklassen vor. Es standen in
Österreich von den ledigen Männern 12 Prozent und von den ledigen Frauen
15 Prozent im Alter von mehr als dreißig Jahren, in Körnten dagegen
45,1 Prozent und 55,0 Prozent. Das sind doch in der That sprechende
Zahlen! Was das Alter der Verehelichung anlangt, so standen in Österreich
63,5 Prozent der Bräutigame und 77,4 Prozent der Bräute in einem Alter
unter dreißig Jahren, in Kärnten 42,5 Prozent und 62,1 Prozent. In
Kärnten werden kaum 12,5 Prozent der unehelichen Kinder durch nachfolgende
Ehe legitimirt, in Tirol z. B. 27 Prozent. Zur Erklärung dieser auffallenden
Zustände brachte der Berichterstatter folgende weitern Zahlen bei. Die Zahl
der Grund- und Hausbesitzer stellt sich in ganz Osterreich auf 17 Prozent, in
Kärnten auf 11 Prozent. Von der Gesamtzahl der Grundbesitzer kommen
dabei in Kärnten 81 Prozent auf "selbständige" Landwirte, auf die Arbeiter
kaum 1,3 Prozent. Die Besitzungen sind verhältnismäßig groß. Ans einen
Hof kamen in Kärnten im Durchschnitt 4,7 Arbeiter und Tagelöhner, in
Österreich 3,2. Die überwiegende Mehrzahl der bei den Bauern beschäftigten
Arbeiter sind Knechte und Mächte, bei denen sich das Heiraten verbietet.
Während es unter den selbständigen in der Landwirtschaft beschäftigten Per¬
sonen nur 13,9 Prozent ledige gab, waren unter den Arbeitern 76 Prozent
unverheiratet. Großgrundbesitz, der eine Klasse von freien Tagelöhnern und
verheirateten Gesinde nötig hätte und erhielte, ist nicht vorhanden. Die
unehelichen Väter sind allgemein bemüht, die Erhaltung der Kinder auf die
Mütter abzuwälzen. Die Bauerknechte gelten, wie es scheint, als wirtschaftlich
unfähig, Alimente zu zahlen. "Es ist, sagt der Berichterstatter, allgemeine
Überzeugung der unterrichteten Personen in Kärnten, daß im Volke gar
nicht wie anderwärts der Gedanke der Notwendigkeit, eine Ehe einzugehen,
auftaucht." In dem Bezirk Hermagor, der den geringsten Prozentsatz der
unehelichen Geburten hat, sind die Besitzungen besonders klein, die Zahl der
selbständigen Landwirte ist größer, die der Arbeiter kleiner. In Se. Veit ist
die Durchschnittsgröße der Betriebe doppelt so groß, hier steigen aber auch
die unehelichen Geburten auf die gewaltige Höhe von 60,9 Prozent. Traurig
ist, soviel zu erkennen ist, natürlich auch das Schicksal der unehelichen Kinder.
Groß ist zunächst die Zahl der Totgeburten. Von den unehelichen Kindern
sterben im ersten Lebensjahr 26,6 Prozent. Die nicht sterben, wachsen im
Elend auf, als lästige Zugabe der als Magd beim Bauer dienenden Mutter,
kläglich mit durchgefüttert. Der Kretinismus ist in Kärnten weit größer als
in den übrigen Alpenländern.

Wir brauchen diesen traurigen Zahlen kein Wort weiter hinzuzufügen.
Sie sprechen vernehmlich genug. Mögen auch die Verhältnisse bei uns in
vieler Hinsicht noch anders und besser liegen als in Kärnten, so sind doch


Agrarisches Ziinftlertum

gekehrt, in der Landwirtschaft 305, in der Industrie 320 Prozent. Dabei
wogen in Kärnten nicht etwa die jüngern Altersklassen vor. Es standen in
Österreich von den ledigen Männern 12 Prozent und von den ledigen Frauen
15 Prozent im Alter von mehr als dreißig Jahren, in Körnten dagegen
45,1 Prozent und 55,0 Prozent. Das sind doch in der That sprechende
Zahlen! Was das Alter der Verehelichung anlangt, so standen in Österreich
63,5 Prozent der Bräutigame und 77,4 Prozent der Bräute in einem Alter
unter dreißig Jahren, in Kärnten 42,5 Prozent und 62,1 Prozent. In
Kärnten werden kaum 12,5 Prozent der unehelichen Kinder durch nachfolgende
Ehe legitimirt, in Tirol z. B. 27 Prozent. Zur Erklärung dieser auffallenden
Zustände brachte der Berichterstatter folgende weitern Zahlen bei. Die Zahl
der Grund- und Hausbesitzer stellt sich in ganz Osterreich auf 17 Prozent, in
Kärnten auf 11 Prozent. Von der Gesamtzahl der Grundbesitzer kommen
dabei in Kärnten 81 Prozent auf „selbständige" Landwirte, auf die Arbeiter
kaum 1,3 Prozent. Die Besitzungen sind verhältnismäßig groß. Ans einen
Hof kamen in Kärnten im Durchschnitt 4,7 Arbeiter und Tagelöhner, in
Österreich 3,2. Die überwiegende Mehrzahl der bei den Bauern beschäftigten
Arbeiter sind Knechte und Mächte, bei denen sich das Heiraten verbietet.
Während es unter den selbständigen in der Landwirtschaft beschäftigten Per¬
sonen nur 13,9 Prozent ledige gab, waren unter den Arbeitern 76 Prozent
unverheiratet. Großgrundbesitz, der eine Klasse von freien Tagelöhnern und
verheirateten Gesinde nötig hätte und erhielte, ist nicht vorhanden. Die
unehelichen Väter sind allgemein bemüht, die Erhaltung der Kinder auf die
Mütter abzuwälzen. Die Bauerknechte gelten, wie es scheint, als wirtschaftlich
unfähig, Alimente zu zahlen. „Es ist, sagt der Berichterstatter, allgemeine
Überzeugung der unterrichteten Personen in Kärnten, daß im Volke gar
nicht wie anderwärts der Gedanke der Notwendigkeit, eine Ehe einzugehen,
auftaucht." In dem Bezirk Hermagor, der den geringsten Prozentsatz der
unehelichen Geburten hat, sind die Besitzungen besonders klein, die Zahl der
selbständigen Landwirte ist größer, die der Arbeiter kleiner. In Se. Veit ist
die Durchschnittsgröße der Betriebe doppelt so groß, hier steigen aber auch
die unehelichen Geburten auf die gewaltige Höhe von 60,9 Prozent. Traurig
ist, soviel zu erkennen ist, natürlich auch das Schicksal der unehelichen Kinder.
Groß ist zunächst die Zahl der Totgeburten. Von den unehelichen Kindern
sterben im ersten Lebensjahr 26,6 Prozent. Die nicht sterben, wachsen im
Elend auf, als lästige Zugabe der als Magd beim Bauer dienenden Mutter,
kläglich mit durchgefüttert. Der Kretinismus ist in Kärnten weit größer als
in den übrigen Alpenländern.

Wir brauchen diesen traurigen Zahlen kein Wort weiter hinzuzufügen.
Sie sprechen vernehmlich genug. Mögen auch die Verhältnisse bei uns in
vieler Hinsicht noch anders und besser liegen als in Kärnten, so sind doch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0127" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225055"/>
          <fw type="header" place="top"> Agrarisches Ziinftlertum</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_394" prev="#ID_393"> gekehrt, in der Landwirtschaft 305, in der Industrie 320 Prozent. Dabei<lb/>
wogen in Kärnten nicht etwa die jüngern Altersklassen vor. Es standen in<lb/>
Österreich von den ledigen Männern 12 Prozent und von den ledigen Frauen<lb/>
15 Prozent im Alter von mehr als dreißig Jahren, in Körnten dagegen<lb/>
45,1 Prozent und 55,0 Prozent. Das sind doch in der That sprechende<lb/>
Zahlen! Was das Alter der Verehelichung anlangt, so standen in Österreich<lb/>
63,5 Prozent der Bräutigame und 77,4 Prozent der Bräute in einem Alter<lb/>
unter dreißig Jahren, in Kärnten 42,5 Prozent und 62,1 Prozent. In<lb/>
Kärnten werden kaum 12,5 Prozent der unehelichen Kinder durch nachfolgende<lb/>
Ehe legitimirt, in Tirol z. B. 27 Prozent. Zur Erklärung dieser auffallenden<lb/>
Zustände brachte der Berichterstatter folgende weitern Zahlen bei. Die Zahl<lb/>
der Grund- und Hausbesitzer stellt sich in ganz Osterreich auf 17 Prozent, in<lb/>
Kärnten auf 11 Prozent. Von der Gesamtzahl der Grundbesitzer kommen<lb/>
dabei in Kärnten 81 Prozent auf &#x201E;selbständige" Landwirte, auf die Arbeiter<lb/>
kaum 1,3 Prozent. Die Besitzungen sind verhältnismäßig groß. Ans einen<lb/>
Hof kamen in Kärnten im Durchschnitt 4,7 Arbeiter und Tagelöhner, in<lb/>
Österreich 3,2. Die überwiegende Mehrzahl der bei den Bauern beschäftigten<lb/>
Arbeiter sind Knechte und Mächte, bei denen sich das Heiraten verbietet.<lb/>
Während es unter den selbständigen in der Landwirtschaft beschäftigten Per¬<lb/>
sonen nur 13,9 Prozent ledige gab, waren unter den Arbeitern 76 Prozent<lb/>
unverheiratet. Großgrundbesitz, der eine Klasse von freien Tagelöhnern und<lb/>
verheirateten Gesinde nötig hätte und erhielte, ist nicht vorhanden. Die<lb/>
unehelichen Väter sind allgemein bemüht, die Erhaltung der Kinder auf die<lb/>
Mütter abzuwälzen. Die Bauerknechte gelten, wie es scheint, als wirtschaftlich<lb/>
unfähig, Alimente zu zahlen. &#x201E;Es ist, sagt der Berichterstatter, allgemeine<lb/>
Überzeugung der unterrichteten Personen in Kärnten, daß im Volke gar<lb/>
nicht wie anderwärts der Gedanke der Notwendigkeit, eine Ehe einzugehen,<lb/>
auftaucht." In dem Bezirk Hermagor, der den geringsten Prozentsatz der<lb/>
unehelichen Geburten hat, sind die Besitzungen besonders klein, die Zahl der<lb/>
selbständigen Landwirte ist größer, die der Arbeiter kleiner. In Se. Veit ist<lb/>
die Durchschnittsgröße der Betriebe doppelt so groß, hier steigen aber auch<lb/>
die unehelichen Geburten auf die gewaltige Höhe von 60,9 Prozent. Traurig<lb/>
ist, soviel zu erkennen ist, natürlich auch das Schicksal der unehelichen Kinder.<lb/>
Groß ist zunächst die Zahl der Totgeburten. Von den unehelichen Kindern<lb/>
sterben im ersten Lebensjahr 26,6 Prozent. Die nicht sterben, wachsen im<lb/>
Elend auf, als lästige Zugabe der als Magd beim Bauer dienenden Mutter,<lb/>
kläglich mit durchgefüttert. Der Kretinismus ist in Kärnten weit größer als<lb/>
in den übrigen Alpenländern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_395" next="#ID_396"> Wir brauchen diesen traurigen Zahlen kein Wort weiter hinzuzufügen.<lb/>
Sie sprechen vernehmlich genug. Mögen auch die Verhältnisse bei uns in<lb/>
vieler Hinsicht noch anders und besser liegen als in Kärnten, so sind doch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0127] Agrarisches Ziinftlertum gekehrt, in der Landwirtschaft 305, in der Industrie 320 Prozent. Dabei wogen in Kärnten nicht etwa die jüngern Altersklassen vor. Es standen in Österreich von den ledigen Männern 12 Prozent und von den ledigen Frauen 15 Prozent im Alter von mehr als dreißig Jahren, in Körnten dagegen 45,1 Prozent und 55,0 Prozent. Das sind doch in der That sprechende Zahlen! Was das Alter der Verehelichung anlangt, so standen in Österreich 63,5 Prozent der Bräutigame und 77,4 Prozent der Bräute in einem Alter unter dreißig Jahren, in Kärnten 42,5 Prozent und 62,1 Prozent. In Kärnten werden kaum 12,5 Prozent der unehelichen Kinder durch nachfolgende Ehe legitimirt, in Tirol z. B. 27 Prozent. Zur Erklärung dieser auffallenden Zustände brachte der Berichterstatter folgende weitern Zahlen bei. Die Zahl der Grund- und Hausbesitzer stellt sich in ganz Osterreich auf 17 Prozent, in Kärnten auf 11 Prozent. Von der Gesamtzahl der Grundbesitzer kommen dabei in Kärnten 81 Prozent auf „selbständige" Landwirte, auf die Arbeiter kaum 1,3 Prozent. Die Besitzungen sind verhältnismäßig groß. Ans einen Hof kamen in Kärnten im Durchschnitt 4,7 Arbeiter und Tagelöhner, in Österreich 3,2. Die überwiegende Mehrzahl der bei den Bauern beschäftigten Arbeiter sind Knechte und Mächte, bei denen sich das Heiraten verbietet. Während es unter den selbständigen in der Landwirtschaft beschäftigten Per¬ sonen nur 13,9 Prozent ledige gab, waren unter den Arbeitern 76 Prozent unverheiratet. Großgrundbesitz, der eine Klasse von freien Tagelöhnern und verheirateten Gesinde nötig hätte und erhielte, ist nicht vorhanden. Die unehelichen Väter sind allgemein bemüht, die Erhaltung der Kinder auf die Mütter abzuwälzen. Die Bauerknechte gelten, wie es scheint, als wirtschaftlich unfähig, Alimente zu zahlen. „Es ist, sagt der Berichterstatter, allgemeine Überzeugung der unterrichteten Personen in Kärnten, daß im Volke gar nicht wie anderwärts der Gedanke der Notwendigkeit, eine Ehe einzugehen, auftaucht." In dem Bezirk Hermagor, der den geringsten Prozentsatz der unehelichen Geburten hat, sind die Besitzungen besonders klein, die Zahl der selbständigen Landwirte ist größer, die der Arbeiter kleiner. In Se. Veit ist die Durchschnittsgröße der Betriebe doppelt so groß, hier steigen aber auch die unehelichen Geburten auf die gewaltige Höhe von 60,9 Prozent. Traurig ist, soviel zu erkennen ist, natürlich auch das Schicksal der unehelichen Kinder. Groß ist zunächst die Zahl der Totgeburten. Von den unehelichen Kindern sterben im ersten Lebensjahr 26,6 Prozent. Die nicht sterben, wachsen im Elend auf, als lästige Zugabe der als Magd beim Bauer dienenden Mutter, kläglich mit durchgefüttert. Der Kretinismus ist in Kärnten weit größer als in den übrigen Alpenländern. Wir brauchen diesen traurigen Zahlen kein Wort weiter hinzuzufügen. Sie sprechen vernehmlich genug. Mögen auch die Verhältnisse bei uns in vieler Hinsicht noch anders und besser liegen als in Kärnten, so sind doch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/127
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/127>, abgerufen am 23.07.2024.