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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Agrarisches Zünftlertum

Haben wir bis jetzt im Osten die Sorge für die verkommnen, "enterbten"
Bauernsöhne noch nicht unter die schmerzlichen sozialen Probleme aufzunehmen
nötig gehabt: wenn man das Anerbenrecht mit der Wirkung, die man davon
hofft, den Bauern aufgedrängt haben wird, wird auch diese Sorge uicht auf
sich warten lassen.

Aber noch viel ernster erscheint uns die Gefahr, die aus allgemeinerer
rechtlicher Gebundenheit des Grund und Bodens in Bauerngegenden für die
ländliche Arbeiterschaft erwachsen müßte, vollends wenn die an sich vielfach
noch wünschenswerte Zerlegung der Rittergüter in kleinere Wirtschaften über¬
Hand nehmen sollte. Gerade auch bei der Unterstellung der Rentengüter
uuter das Anerbenrecht sollte man an diese Gefahr denken. Die Übeln
sozialen Folgen, die in dieser Beziehung das Vorherrschen gebundnen bäuer¬
lichen Grundbesitzes in unserm Sinne, d. h. im Unterschiede vom Klcinbesitz
aufgefaßt, hat, sind in besonders lehrreicher Weise in einem Bericht dargelegt
worden, den Dr. Leo Verkauf in Wien dem achten internationalen Kongreß für
Hygiene und Demogrciphie zu Budapest im September 1894 über das Erbrecht
auf dem Lande und die unehelichen Geburten erstattet hat. Der Berichterstatter
hatte Körnten als besonders geeignet für seine statistischen Untersuchungen
ausgewählt, weil es in ganz hervorragendem Maße ein Bauernland ist, und
dank dein geltenden Anerbenrecht sich die Güter durchweg geschlossen in der
Familie vererben. Kärnten hat wenig Industrie. Während in ganz Öster¬
reich 55,9 Prozent der Bevölkerung aus die Landwirtschaft fallen und auf
Industrie und Gewerbe 25,8 Prozent, ist das Verhältnis in Kärnten
63,9 Prozent und 19,0 Prozent. In einzelnen Bezirken ist der Unterschied
noch schroffer, so im Bezirk Hermagor, wo 81,6 Prozent der Landwirtschaft,
7,8 Prozent der Industrie und dem Gewerbe angehören, im Bezirk Spittal
mit 75,4 Prozent und 12,7 Prozent und im Bezirk Wolfsberg mit 70,9 Prozent
und 14,6 Prozent. Die unehelichen Geburten machten im Jahre 1890 in
ganz Österreich 15,0 Prozent aller Geburten aus, während sie in Kärnten
die enorme Höhe von 44,5 Prozent erreichten. Übrigens blieb dabei der rein
ländliche Bezirk Hermagor mit 20,5 Prozent tief unter dem Durchschnitt,
während in Klagenfurt, wegen der dort befindlichen Gebäranstalt, in die die
unehelichen Mütter vom Lande zur Niederkunft kommen, die unehelichen Ge-
burten auf 75,2 Prozent stiegen. Die Trauungsfrequenz in Österreich betrug
7,6 Prozent, in Kärnten 5,12 Prozent und in dem ganz ländlichen Bezirk
Se. Veit gar bloß 3,96 Prozent. In diesem Bezirk erreichten, abgesehen
von Klagenfurt, die unehelichen Geburten die höchste Zahl: 60,9 Prozent.
In der Regel ist nun, wie der Berichterstatter ausführte, die Anzahl der Ver¬
ehelichten in der Landwirtschaft weit größer als in der Industrie. So kamen
1890 in Österreich auf tausend Ortsanwesende in der Landwirtschaft 524, in
der Industrie 431 Verehelichte. Aber in Kärnten war das Verhältnis um-


Agrarisches Zünftlertum

Haben wir bis jetzt im Osten die Sorge für die verkommnen, „enterbten"
Bauernsöhne noch nicht unter die schmerzlichen sozialen Probleme aufzunehmen
nötig gehabt: wenn man das Anerbenrecht mit der Wirkung, die man davon
hofft, den Bauern aufgedrängt haben wird, wird auch diese Sorge uicht auf
sich warten lassen.

Aber noch viel ernster erscheint uns die Gefahr, die aus allgemeinerer
rechtlicher Gebundenheit des Grund und Bodens in Bauerngegenden für die
ländliche Arbeiterschaft erwachsen müßte, vollends wenn die an sich vielfach
noch wünschenswerte Zerlegung der Rittergüter in kleinere Wirtschaften über¬
Hand nehmen sollte. Gerade auch bei der Unterstellung der Rentengüter
uuter das Anerbenrecht sollte man an diese Gefahr denken. Die Übeln
sozialen Folgen, die in dieser Beziehung das Vorherrschen gebundnen bäuer¬
lichen Grundbesitzes in unserm Sinne, d. h. im Unterschiede vom Klcinbesitz
aufgefaßt, hat, sind in besonders lehrreicher Weise in einem Bericht dargelegt
worden, den Dr. Leo Verkauf in Wien dem achten internationalen Kongreß für
Hygiene und Demogrciphie zu Budapest im September 1894 über das Erbrecht
auf dem Lande und die unehelichen Geburten erstattet hat. Der Berichterstatter
hatte Körnten als besonders geeignet für seine statistischen Untersuchungen
ausgewählt, weil es in ganz hervorragendem Maße ein Bauernland ist, und
dank dein geltenden Anerbenrecht sich die Güter durchweg geschlossen in der
Familie vererben. Kärnten hat wenig Industrie. Während in ganz Öster¬
reich 55,9 Prozent der Bevölkerung aus die Landwirtschaft fallen und auf
Industrie und Gewerbe 25,8 Prozent, ist das Verhältnis in Kärnten
63,9 Prozent und 19,0 Prozent. In einzelnen Bezirken ist der Unterschied
noch schroffer, so im Bezirk Hermagor, wo 81,6 Prozent der Landwirtschaft,
7,8 Prozent der Industrie und dem Gewerbe angehören, im Bezirk Spittal
mit 75,4 Prozent und 12,7 Prozent und im Bezirk Wolfsberg mit 70,9 Prozent
und 14,6 Prozent. Die unehelichen Geburten machten im Jahre 1890 in
ganz Österreich 15,0 Prozent aller Geburten aus, während sie in Kärnten
die enorme Höhe von 44,5 Prozent erreichten. Übrigens blieb dabei der rein
ländliche Bezirk Hermagor mit 20,5 Prozent tief unter dem Durchschnitt,
während in Klagenfurt, wegen der dort befindlichen Gebäranstalt, in die die
unehelichen Mütter vom Lande zur Niederkunft kommen, die unehelichen Ge-
burten auf 75,2 Prozent stiegen. Die Trauungsfrequenz in Österreich betrug
7,6 Prozent, in Kärnten 5,12 Prozent und in dem ganz ländlichen Bezirk
Se. Veit gar bloß 3,96 Prozent. In diesem Bezirk erreichten, abgesehen
von Klagenfurt, die unehelichen Geburten die höchste Zahl: 60,9 Prozent.
In der Regel ist nun, wie der Berichterstatter ausführte, die Anzahl der Ver¬
ehelichten in der Landwirtschaft weit größer als in der Industrie. So kamen
1890 in Österreich auf tausend Ortsanwesende in der Landwirtschaft 524, in
der Industrie 431 Verehelichte. Aber in Kärnten war das Verhältnis um-


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[0126] Agrarisches Zünftlertum Haben wir bis jetzt im Osten die Sorge für die verkommnen, „enterbten" Bauernsöhne noch nicht unter die schmerzlichen sozialen Probleme aufzunehmen nötig gehabt: wenn man das Anerbenrecht mit der Wirkung, die man davon hofft, den Bauern aufgedrängt haben wird, wird auch diese Sorge uicht auf sich warten lassen. Aber noch viel ernster erscheint uns die Gefahr, die aus allgemeinerer rechtlicher Gebundenheit des Grund und Bodens in Bauerngegenden für die ländliche Arbeiterschaft erwachsen müßte, vollends wenn die an sich vielfach noch wünschenswerte Zerlegung der Rittergüter in kleinere Wirtschaften über¬ Hand nehmen sollte. Gerade auch bei der Unterstellung der Rentengüter uuter das Anerbenrecht sollte man an diese Gefahr denken. Die Übeln sozialen Folgen, die in dieser Beziehung das Vorherrschen gebundnen bäuer¬ lichen Grundbesitzes in unserm Sinne, d. h. im Unterschiede vom Klcinbesitz aufgefaßt, hat, sind in besonders lehrreicher Weise in einem Bericht dargelegt worden, den Dr. Leo Verkauf in Wien dem achten internationalen Kongreß für Hygiene und Demogrciphie zu Budapest im September 1894 über das Erbrecht auf dem Lande und die unehelichen Geburten erstattet hat. Der Berichterstatter hatte Körnten als besonders geeignet für seine statistischen Untersuchungen ausgewählt, weil es in ganz hervorragendem Maße ein Bauernland ist, und dank dein geltenden Anerbenrecht sich die Güter durchweg geschlossen in der Familie vererben. Kärnten hat wenig Industrie. Während in ganz Öster¬ reich 55,9 Prozent der Bevölkerung aus die Landwirtschaft fallen und auf Industrie und Gewerbe 25,8 Prozent, ist das Verhältnis in Kärnten 63,9 Prozent und 19,0 Prozent. In einzelnen Bezirken ist der Unterschied noch schroffer, so im Bezirk Hermagor, wo 81,6 Prozent der Landwirtschaft, 7,8 Prozent der Industrie und dem Gewerbe angehören, im Bezirk Spittal mit 75,4 Prozent und 12,7 Prozent und im Bezirk Wolfsberg mit 70,9 Prozent und 14,6 Prozent. Die unehelichen Geburten machten im Jahre 1890 in ganz Österreich 15,0 Prozent aller Geburten aus, während sie in Kärnten die enorme Höhe von 44,5 Prozent erreichten. Übrigens blieb dabei der rein ländliche Bezirk Hermagor mit 20,5 Prozent tief unter dem Durchschnitt, während in Klagenfurt, wegen der dort befindlichen Gebäranstalt, in die die unehelichen Mütter vom Lande zur Niederkunft kommen, die unehelichen Ge- burten auf 75,2 Prozent stiegen. Die Trauungsfrequenz in Österreich betrug 7,6 Prozent, in Kärnten 5,12 Prozent und in dem ganz ländlichen Bezirk Se. Veit gar bloß 3,96 Prozent. In diesem Bezirk erreichten, abgesehen von Klagenfurt, die unehelichen Geburten die höchste Zahl: 60,9 Prozent. In der Regel ist nun, wie der Berichterstatter ausführte, die Anzahl der Ver¬ ehelichten in der Landwirtschaft weit größer als in der Industrie. So kamen 1890 in Österreich auf tausend Ortsanwesende in der Landwirtschaft 524, in der Industrie 431 Verehelichte. Aber in Kärnten war das Verhältnis um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/126>, abgerufen am 23.07.2024.