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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

kommen wir notwendig zu der Forderung kräftiger und ausgedehnter Tochter¬
staaten für Deutschland, mit einem Wort zu der Forderung der von den Weisen
des Reichstags und des manchesterlichen Bürgertums bespöttelten Weltmacht-
stellung Deutschlands. Wir lassen uns diesen Spott nicht anfechten, diese Art
Weisheit ist zu billig, und sie ist in Deutschland immer bei der Hand, wenn
es gilt, in der Gegenwart eine bessere Zukunft kräftig anzubahnen. Hundert
Jahre, nachdem Friedrich der Große Preußen durch den siebenjährigen Krieg
in die Reihe der europäischen Großmächte eingeführt hatte, bemühte sich die
Mehrheit des Abgeordnetenhauses noch, Preußen den "Großmachtkitzel" wieder
auszutreiben, als zu kostspielig und zu gefährlich. Es wird eins der größten
und bleibendsten Verdienste Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks bleiben, daß sie
sich dieser Art "wahrer" Pnrlamentsherrschaft und Parlamentsweisheit ans
allen Kräften widersetzt, daß sie das nationale Interesse des gesamten Volkes
gegen die Machtinteressen der Parteien gewahrt haben.

Freilich ist solche Politik gefährlich, aber aus der Nessel Gefahr pflücken
wir die Blumen Sicherheit und Wohlstand für Jahrhunderte. Wenn wir da¬
gegen alle Gefahren vermeiden und noch ein paar Jahrzehnte hilflos vor den
innern Nöten stehen, dann wird das deutsche Volk schon viel an Bedeutung
und Ansehen verloren haben, dann wird es bei dem Aufstreben der Weltmächte
Rußland, England und Amerika viel schwierigern Verhältnissen gegenüberstehen
und ganz andre Kämpfe für seine Zukunft zu führen haben, als es jetzt zu
wagen hätte. Was hat denn England groß und reich gemacht? Halten wir
uns nicht an seine für die Ausfuhr bestimmten Theorien, sondern an seine
für den Hausgebrauch bestimmte Praxis, so ist es nichts andres, als daß die
Negierung immer sofort mit ihrer gesamten Macht bereit war, wo die Inter¬
essen englischer Staatsbürger nur irgend wie gefährdet erschienen oder gefordert
werden konnten. Für die Staatsfinanzen hat das oft Opfer gekostet, aber das
Volk ist dabei das reichste der Erde geworden.") Das ist auch hente noch
der Standpunkt Englands, z. B. Transvaal gegenüber. Englands Staats¬
kunst ist nach Treitschkes treffendem Wort nichts als eine wunderbar kluge und
wunderbar gewissenlose Handelspolitik, und es verdankt seine außerordentlichen
Erfolge nur der Uneinigkeit der Festlandsmächte.

Unser Kaiser hat das Wort vom "größern Deutschland" gesprochen, aber alle
großen Ideen haben sich erst langsam und mühsam ihre Ausführung erkämpfen
müssen gegen Bequemlichkeit und gegen Afterweisheit, die nach allen Richtungen
hin nur Bedenken sieht. Es giebt gar so viele kluge Leute, deren Weisheit sich



") Wird es jemand für möglich halten, daß im englischen Parlament Vertreter des Volkes
und der nationalen Wohlfahrt die Albernheit begehen könnten, zu lachen, wenn die Regierungs-
vertreter erklären, auch englische Missionare schützen zu müssen? Die Engländer sind eben ein
politisch reifes Volk, während unsre Volksvertreter noch immer mit ihren doktrinären Eierschalen
herumlaufen.
Deutsche Kolonisation

kommen wir notwendig zu der Forderung kräftiger und ausgedehnter Tochter¬
staaten für Deutschland, mit einem Wort zu der Forderung der von den Weisen
des Reichstags und des manchesterlichen Bürgertums bespöttelten Weltmacht-
stellung Deutschlands. Wir lassen uns diesen Spott nicht anfechten, diese Art
Weisheit ist zu billig, und sie ist in Deutschland immer bei der Hand, wenn
es gilt, in der Gegenwart eine bessere Zukunft kräftig anzubahnen. Hundert
Jahre, nachdem Friedrich der Große Preußen durch den siebenjährigen Krieg
in die Reihe der europäischen Großmächte eingeführt hatte, bemühte sich die
Mehrheit des Abgeordnetenhauses noch, Preußen den „Großmachtkitzel" wieder
auszutreiben, als zu kostspielig und zu gefährlich. Es wird eins der größten
und bleibendsten Verdienste Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks bleiben, daß sie
sich dieser Art „wahrer" Pnrlamentsherrschaft und Parlamentsweisheit ans
allen Kräften widersetzt, daß sie das nationale Interesse des gesamten Volkes
gegen die Machtinteressen der Parteien gewahrt haben.

Freilich ist solche Politik gefährlich, aber aus der Nessel Gefahr pflücken
wir die Blumen Sicherheit und Wohlstand für Jahrhunderte. Wenn wir da¬
gegen alle Gefahren vermeiden und noch ein paar Jahrzehnte hilflos vor den
innern Nöten stehen, dann wird das deutsche Volk schon viel an Bedeutung
und Ansehen verloren haben, dann wird es bei dem Aufstreben der Weltmächte
Rußland, England und Amerika viel schwierigern Verhältnissen gegenüberstehen
und ganz andre Kämpfe für seine Zukunft zu führen haben, als es jetzt zu
wagen hätte. Was hat denn England groß und reich gemacht? Halten wir
uns nicht an seine für die Ausfuhr bestimmten Theorien, sondern an seine
für den Hausgebrauch bestimmte Praxis, so ist es nichts andres, als daß die
Negierung immer sofort mit ihrer gesamten Macht bereit war, wo die Inter¬
essen englischer Staatsbürger nur irgend wie gefährdet erschienen oder gefordert
werden konnten. Für die Staatsfinanzen hat das oft Opfer gekostet, aber das
Volk ist dabei das reichste der Erde geworden.") Das ist auch hente noch
der Standpunkt Englands, z. B. Transvaal gegenüber. Englands Staats¬
kunst ist nach Treitschkes treffendem Wort nichts als eine wunderbar kluge und
wunderbar gewissenlose Handelspolitik, und es verdankt seine außerordentlichen
Erfolge nur der Uneinigkeit der Festlandsmächte.

Unser Kaiser hat das Wort vom „größern Deutschland" gesprochen, aber alle
großen Ideen haben sich erst langsam und mühsam ihre Ausführung erkämpfen
müssen gegen Bequemlichkeit und gegen Afterweisheit, die nach allen Richtungen
hin nur Bedenken sieht. Es giebt gar so viele kluge Leute, deren Weisheit sich



") Wird es jemand für möglich halten, daß im englischen Parlament Vertreter des Volkes
und der nationalen Wohlfahrt die Albernheit begehen könnten, zu lachen, wenn die Regierungs-
vertreter erklären, auch englische Missionare schützen zu müssen? Die Engländer sind eben ein
politisch reifes Volk, während unsre Volksvertreter noch immer mit ihren doktrinären Eierschalen
herumlaufen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/12>, abgerufen am 23.07.2024.