Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Bonnparte mit all seinem Egoismus und seinem kriegerischen Genie nichts erreicht Voll historischen Wissens und ungenügend verarbeiteten Materials stellt Bonnparte mit all seinem Egoismus und seinem kriegerischen Genie nichts erreicht Voll historischen Wissens und ungenügend verarbeiteten Materials stellt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224340"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_270" prev="#ID_269"> Bonnparte mit all seinem Egoismus und seinem kriegerischen Genie nichts erreicht<lb/> haben würde, wenn er nicht zufällig begriffen hätte, daß die französische Nation<lb/> um jeden, auch um den teuersten Preis von der Blutherrschaft der Schreckens¬<lb/> männer befreit sein wollte, braucht nur nebenhin, wie etwas zufälliges, un¬<lb/> wesentliches angedeutet zu werden. Einmal sagt freilich der Schauspieler Talma:<lb/> „Begreift doch, daß alle diese Menschen einen wahnsinnigen Durst haben zu<lb/> genießen — daß sie sich wie vom Tode auferstanden fühlen. Denn wer das<lb/> durchgemacht hat, was wir gelitten haben in den letzten Jahren, für den kann<lb/> die Hölle nichts neues mehr bieten! Man hat uns ja alles genommen, erst<lb/> den Gott und den König, dann das Leben, die Sonne, die Heiterkeit selbst.<lb/> Und nun ist das wie ein allgemeiner Schrei nach diesem Leben, nach Farben,<lb/> nach Musik!" Doch in Wahrheit verlangten viele Hunderttausende nicht ein¬<lb/> mal nach Farben und Musik, sondern — kläglich genug — nur uach der<lb/> Möglichkeit, vom Henker unbedroht zu leben und zu arbeiten, zu freien und<lb/> sich freien zu lassen. Und dieser Hintergrund, der in einem Roman von 1795,<lb/> wenn er ein wirkliches Zeit- und Lebensbild und nicht eine Paraphrase der<lb/> abgeleierten Melodie von der Herrlichkeit des Schreckens sein will, unentbehrlich<lb/> ist, fehlt hier, fehlt zu Gunsten einer ganz äußerlichen abenteuerlichen Spannung<lb/> und wahrscheinlich in irmjorsm gloiiairr künftiger Umpflügung mit Jener und<lb/> Schwert und des Falls von hunderttansenden von Köpfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_271" next="#ID_272"> Voll historischen Wissens und ungenügend verarbeiteten Materials stellt<lb/> sich der historische Roman: Die Apostelfürsten von Henning van Horst<lb/> (Wismar, Hinstorff, 1896) dar. Die Anlage ist nicht unbedeutend, und einer<lb/> Schilderung des großen Doppelkampfes, der auf gegenwärtig deutschem Boden,<lb/> von der Elbe bis zur Oder, zwischen Germanentum und Slawentum, zwischen<lb/> Heidentum und Christentum im elften Jahrhundert stattfand, würde es nicht<lb/> an innerer Größe fehlen, wenn sie Poesie, das heißt lebendige, fesselnde, über¬<lb/> zeugende Wirklichkeit oder auch nur ein glänzendes, anziehendes Phantasiebild<lb/> werden könnte. Die historischen Grundlinien zu diesem Roman, der die Schick¬<lb/> sale des ehrgeizigen Erzbischofs Adalbert von Hamburg und Bremen und eines<lb/> ihm im Kloster zum Freunde gewordnen Wendenfürsten Gottschalck in den<lb/> Mittelpunkt rückt, finden sich im dritten Bande von Giesebrechts „Geschichte<lb/> der deutschen Kaiserzeit." Einem aufmerksamen Leser dieser ans Chroniken und<lb/> Urkunden geschöpften Berichte über das Scheitern der Pläne des Apostelfürsten<lb/> Adalbert wird es nicht entgehen, daß die Zeichnung hier kaum über die flüch¬<lb/> tigsten Umrisse hinauskommt und keine Farbe gewinnt. Wir wissen etwas<lb/> von den wechselvollen Vorgängen des langen Kampfes wider das slawische<lb/> Heidentum, wir kennen den Boden, auf dem es gestritten hat und überwunden<lb/> worden ist. Aber wir wissen nichts oder so gut wie nichts (und alle Ausgrabungen<lb/> alter Schmuckstücke, Wnffeu und Töpfe ändern hieran wenig) von dem Leben, dem<lb/> Kulturstand, der Volksnatur der altslawischen Stämme, wir vermögen uns kein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
Bonnparte mit all seinem Egoismus und seinem kriegerischen Genie nichts erreicht
haben würde, wenn er nicht zufällig begriffen hätte, daß die französische Nation
um jeden, auch um den teuersten Preis von der Blutherrschaft der Schreckens¬
männer befreit sein wollte, braucht nur nebenhin, wie etwas zufälliges, un¬
wesentliches angedeutet zu werden. Einmal sagt freilich der Schauspieler Talma:
„Begreift doch, daß alle diese Menschen einen wahnsinnigen Durst haben zu
genießen — daß sie sich wie vom Tode auferstanden fühlen. Denn wer das
durchgemacht hat, was wir gelitten haben in den letzten Jahren, für den kann
die Hölle nichts neues mehr bieten! Man hat uns ja alles genommen, erst
den Gott und den König, dann das Leben, die Sonne, die Heiterkeit selbst.
Und nun ist das wie ein allgemeiner Schrei nach diesem Leben, nach Farben,
nach Musik!" Doch in Wahrheit verlangten viele Hunderttausende nicht ein¬
mal nach Farben und Musik, sondern — kläglich genug — nur uach der
Möglichkeit, vom Henker unbedroht zu leben und zu arbeiten, zu freien und
sich freien zu lassen. Und dieser Hintergrund, der in einem Roman von 1795,
wenn er ein wirkliches Zeit- und Lebensbild und nicht eine Paraphrase der
abgeleierten Melodie von der Herrlichkeit des Schreckens sein will, unentbehrlich
ist, fehlt hier, fehlt zu Gunsten einer ganz äußerlichen abenteuerlichen Spannung
und wahrscheinlich in irmjorsm gloiiairr künftiger Umpflügung mit Jener und
Schwert und des Falls von hunderttansenden von Köpfen.
Voll historischen Wissens und ungenügend verarbeiteten Materials stellt
sich der historische Roman: Die Apostelfürsten von Henning van Horst
(Wismar, Hinstorff, 1896) dar. Die Anlage ist nicht unbedeutend, und einer
Schilderung des großen Doppelkampfes, der auf gegenwärtig deutschem Boden,
von der Elbe bis zur Oder, zwischen Germanentum und Slawentum, zwischen
Heidentum und Christentum im elften Jahrhundert stattfand, würde es nicht
an innerer Größe fehlen, wenn sie Poesie, das heißt lebendige, fesselnde, über¬
zeugende Wirklichkeit oder auch nur ein glänzendes, anziehendes Phantasiebild
werden könnte. Die historischen Grundlinien zu diesem Roman, der die Schick¬
sale des ehrgeizigen Erzbischofs Adalbert von Hamburg und Bremen und eines
ihm im Kloster zum Freunde gewordnen Wendenfürsten Gottschalck in den
Mittelpunkt rückt, finden sich im dritten Bande von Giesebrechts „Geschichte
der deutschen Kaiserzeit." Einem aufmerksamen Leser dieser ans Chroniken und
Urkunden geschöpften Berichte über das Scheitern der Pläne des Apostelfürsten
Adalbert wird es nicht entgehen, daß die Zeichnung hier kaum über die flüch¬
tigsten Umrisse hinauskommt und keine Farbe gewinnt. Wir wissen etwas
von den wechselvollen Vorgängen des langen Kampfes wider das slawische
Heidentum, wir kennen den Boden, auf dem es gestritten hat und überwunden
worden ist. Aber wir wissen nichts oder so gut wie nichts (und alle Ausgrabungen
alter Schmuckstücke, Wnffeu und Töpfe ändern hieran wenig) von dem Leben, dem
Kulturstand, der Volksnatur der altslawischen Stämme, wir vermögen uns kein
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