Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.Reiseschilderungen für so etwas hat, mit Vergnügen gelesen werden. Minder gehaltreich und Während der Schweizer dem Drange nicht widerstehen kann, sich in das Reiseschilderungen für so etwas hat, mit Vergnügen gelesen werden. Minder gehaltreich und Während der Schweizer dem Drange nicht widerstehen kann, sich in das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0653" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224899"/> <fw type="header" place="top"> Reiseschilderungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2144" prev="#ID_2143"> für so etwas hat, mit Vergnügen gelesen werden. Minder gehaltreich und<lb/> wirksam erscheinen uns die „Briefe aus der deutschen Reichshauptstadt." An<lb/> und für sich ist es ja unmöglich, bei einem vierzehntägiger Aufenthalt nach<lb/> irgend einer Seite hin die ungeheure Ausdehnung und sinnverwirrende äußere<lb/> Mannichfaltigkeit des Berliner Lebens in kurzen Briefen wiederzuspiegeln. Aber<lb/> möglich wäre es doch, eine Art Augenblicksphotographien zu geben, die erste<lb/> Wirkung der riesigen Verhältnisse und der engen, tonangebenden Gesellschaft,<lb/> der demokratischen Massengewalt und der fast sklavischen Abhängigkeit von<lb/> kleinen Kliquen und dürftigen Schlagworten auf einen neu Ankommenden dar¬<lb/> zustellen. Nur müßte dazu ein andrer die Feder ergreifen, als ein Schrift¬<lb/> steller und Journalist, der, wenn er auch wirklich in den achtziger Jahren zum<lb/> erstenmal uach Berlin gekommen wäre, vorher schon viel zu viel davon kennt,<lb/> darüber gelesen hat und den Dingen nicht mit voller Naivität gegenübersteht.<lb/> So kommt es weder zu einem Bilde, das den ersten Eindruck, den Berlin<lb/> macht, treu und farbig wiedergäbe, noch zu einer tiefern Begründung der<lb/> mancherlei Beobachtungen und Bemerkungen, die der Verfasser zum besten<lb/> giebt. Auch die flüchtigen Umrisse aus Thüringen und Süddeutschland können<lb/> sich nicht mit den Skizzen aus der Schweiz, aus Savoyen und der Lombardei<lb/> messen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2145" next="#ID_2146"> Während der Schweizer dem Drange nicht widerstehen kann, sich in das<lb/> Getümmel der Weltstadt an der Spree zu stürzen, flüchtet Fritz Lienhard<lb/> in seinen Wasgaufahrten (Berlin, Hans Lüstenödcr, 1896) aus Berlin in<lb/> die idyllische elsüssische Heimat. Er lechzt nach gesunden Zustünden, hat „das<lb/> blasirte Lächeln und den zungenfertigen Wortschwall großstädtischer Markt¬<lb/> beherrscher" satt und übersatt. „Man kommt allmählich dahinter, daß<lb/> Genialität zwar manchmal scheinbarer Leichtsinn, Leichtsinn aber noch lange<lb/> keine Genialität ist; daß zwar Spießbürgerei zumeist bedächtig verfährt, daß<lb/> aber Bedachtsamkeit uoch lange keine Spießbürgerei ist. Und man bekommt<lb/> wieder Mut, bedachtsam zu sein, doppelt bedachtsam in einer Zeit, wo von<lb/> allen Seiten aufgeregte Marktschreierei auf die arme Menschheit eindringt;<lb/> man faßt wieder Mut, sittenstolz zu sein, doppelt sittenstolz in einer Zeit, wo<lb/> die Liederlichkeit wissenschaftlich entschuldigt wird; man wagt wieder schlichter<lb/> und natürlicher Mensch zu sein, doppelt schlicht in einer Zeit, wo jeder dumme<lb/> Junge sich für einen Übermenschen hält." Alles ganz gut und schön — wenn<lb/> nur nicht die Verstimmung, die Berlin dem Wasganfahrer einflößt, mitten in<lb/> der Waldfrische am Taubenschlagfelsen, bei Geroldseck und auf dem Odilien-<lb/> berg immer wieder aufwachte, sodaß eigentlich nnr in dem hübschen lyrischen<lb/> Idyll, das der Verfasser „Hochlandlieder" überschreibt, wirkliche Stimmung<lb/> zu Worte kommt. Kann denn die Frische und der erquickliche Hauch über¬<lb/> rheinischer Landschaft nicht ohne fortwährende Erinnerung an Berliner Preß-<lb/> uud Theaterjammer geschildert werden? Selbst die historischen Erinnerungen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0653]
Reiseschilderungen
für so etwas hat, mit Vergnügen gelesen werden. Minder gehaltreich und
wirksam erscheinen uns die „Briefe aus der deutschen Reichshauptstadt." An
und für sich ist es ja unmöglich, bei einem vierzehntägiger Aufenthalt nach
irgend einer Seite hin die ungeheure Ausdehnung und sinnverwirrende äußere
Mannichfaltigkeit des Berliner Lebens in kurzen Briefen wiederzuspiegeln. Aber
möglich wäre es doch, eine Art Augenblicksphotographien zu geben, die erste
Wirkung der riesigen Verhältnisse und der engen, tonangebenden Gesellschaft,
der demokratischen Massengewalt und der fast sklavischen Abhängigkeit von
kleinen Kliquen und dürftigen Schlagworten auf einen neu Ankommenden dar¬
zustellen. Nur müßte dazu ein andrer die Feder ergreifen, als ein Schrift¬
steller und Journalist, der, wenn er auch wirklich in den achtziger Jahren zum
erstenmal uach Berlin gekommen wäre, vorher schon viel zu viel davon kennt,
darüber gelesen hat und den Dingen nicht mit voller Naivität gegenübersteht.
So kommt es weder zu einem Bilde, das den ersten Eindruck, den Berlin
macht, treu und farbig wiedergäbe, noch zu einer tiefern Begründung der
mancherlei Beobachtungen und Bemerkungen, die der Verfasser zum besten
giebt. Auch die flüchtigen Umrisse aus Thüringen und Süddeutschland können
sich nicht mit den Skizzen aus der Schweiz, aus Savoyen und der Lombardei
messen.
Während der Schweizer dem Drange nicht widerstehen kann, sich in das
Getümmel der Weltstadt an der Spree zu stürzen, flüchtet Fritz Lienhard
in seinen Wasgaufahrten (Berlin, Hans Lüstenödcr, 1896) aus Berlin in
die idyllische elsüssische Heimat. Er lechzt nach gesunden Zustünden, hat „das
blasirte Lächeln und den zungenfertigen Wortschwall großstädtischer Markt¬
beherrscher" satt und übersatt. „Man kommt allmählich dahinter, daß
Genialität zwar manchmal scheinbarer Leichtsinn, Leichtsinn aber noch lange
keine Genialität ist; daß zwar Spießbürgerei zumeist bedächtig verfährt, daß
aber Bedachtsamkeit uoch lange keine Spießbürgerei ist. Und man bekommt
wieder Mut, bedachtsam zu sein, doppelt bedachtsam in einer Zeit, wo von
allen Seiten aufgeregte Marktschreierei auf die arme Menschheit eindringt;
man faßt wieder Mut, sittenstolz zu sein, doppelt sittenstolz in einer Zeit, wo
die Liederlichkeit wissenschaftlich entschuldigt wird; man wagt wieder schlichter
und natürlicher Mensch zu sein, doppelt schlicht in einer Zeit, wo jeder dumme
Junge sich für einen Übermenschen hält." Alles ganz gut und schön — wenn
nur nicht die Verstimmung, die Berlin dem Wasganfahrer einflößt, mitten in
der Waldfrische am Taubenschlagfelsen, bei Geroldseck und auf dem Odilien-
berg immer wieder aufwachte, sodaß eigentlich nnr in dem hübschen lyrischen
Idyll, das der Verfasser „Hochlandlieder" überschreibt, wirkliche Stimmung
zu Worte kommt. Kann denn die Frische und der erquickliche Hauch über¬
rheinischer Landschaft nicht ohne fortwährende Erinnerung an Berliner Preß-
uud Theaterjammer geschildert werden? Selbst die historischen Erinnerungen
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