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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Line Geschichte von Florenz

regiert und in unmittelbarste Wechselwirkung mit den beiden größten Gewalten
der Erde, mit Papst und Kaiser tritt, ein solcher Zustand mußte, thatkräftige
Menschen vorausgesetzt, auf den genannten Gebieten die höchsten Leistungen
hervortreiben. Es wäre nur noch zu untersuchen, wie es kommt, daß die an
Knechtschaft gewöhnte Bevölkerung des Italiens der römischen Kaiser thatkräftige
Nachkommen haben konnte, ob ein gewisses Klima und eine gewisse Boden-
beschaffenheit die Thatkraft von selbst wieder erstehen lassen, wenn ein Druck,
gegen den jeder Widerstand ohnmächtig war, durch äußere Umstände beseitigt
ist, ob die Thatkraft unzerstörbar in der Nasse wurzelt und nach Beseitigung
unüberwindlicher Hindernisse immer wieder hervortritt, ob die Beimischung von
Lombarden- und Frcmkeublut auch bis nach Tuscicn hinein reichlich genug
war, in der erschlafften italienischen Bevölkerung neue Lebensgeister wach zu
rufen. Aber etwas andres scheint uns schlechthin unerklärlich: wie ist es ge¬
kommen, daß die italienische Bevölkerung, namentlich eben die toskanische, in
diesen wilden Zeiten, noch dazu mit wilden Nordländern gemischt, nicht wilder
und härter geworden ist als die alten Römer, daß sie weit mehr dem athenischen
als dem altrömischen Volke ähnelt? Wie ist es gekommen, daß sie die zartesten
Blüten der Poesie erzeugt und schönheitstrunken die Welt mit den herrlichsten
Kunstwerken überschüttet hat? Wie konnte Florenz die Hanptvcrtreterin der
Humanität werdeu? Man wende nicht ein, daß die Florentiner ja die Vor¬
bilder der Alten hatten, daß die italienische Kunst der Renaissance zu verdanken
sei; Giotto lebte vor der Renaissance, wenn man darunter das Ausgraben
alter Bildsäule" versteht, und er hat sie mit seinen Zeit- und Kunstgenossen
ohne die Vorbilder der Alten geschaffen, wenn man darunter die Wiedergeburt
der schönen Künste versteht.*) Und was nützen alle griechischen Bildsäulen
den Türken, die sie nahe genug vor der Nase haben? Auch das Christentum
mag manches erklären, obwohl die Kirche in ihren Anfängen nicht eben kunst¬
freundlich gewesen ist. Auf die Humanität des Lebens hat sie doch wohl
zuletzt einigen Einfluß geübt, nur daß die Art und Weise, wie -- in Florenz
mehr als in irgend einer andern italienischen Stadt -- der schöne Schein der
Humanität mit schönem Sein und schönem Empfinden verschmolz oder dessen
Abglanz war, wieder etwas ganz dem italienischen Volkscharakter eigentüm¬
liches ist, das die Kirche anderswo nicht zustande gebracht hat. Daß sich
die Florentiner am Ausgange des Mittelalters zur wirklichen Humanität
des Denkens, Empfindens und Handelns aufgeschwungen haben, dafür haben
wir einen klassischen Zeugen. Luther erzählt (Walchs Ausgabe, 22. Band,
S. 786): "In Italia sind die Spitale sehr wohl versehen, schön gebauet, haben
gut Essen und Trinken, haben fleißige Diener und gelehrte Ärzte, die Betten



*) Drinn soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, dus; die Vorbilder der Alten die
italienische Kunst vielfach beeinflußt und ihre Entwicklung beschleunigt bilden.
Line Geschichte von Florenz

regiert und in unmittelbarste Wechselwirkung mit den beiden größten Gewalten
der Erde, mit Papst und Kaiser tritt, ein solcher Zustand mußte, thatkräftige
Menschen vorausgesetzt, auf den genannten Gebieten die höchsten Leistungen
hervortreiben. Es wäre nur noch zu untersuchen, wie es kommt, daß die an
Knechtschaft gewöhnte Bevölkerung des Italiens der römischen Kaiser thatkräftige
Nachkommen haben konnte, ob ein gewisses Klima und eine gewisse Boden-
beschaffenheit die Thatkraft von selbst wieder erstehen lassen, wenn ein Druck,
gegen den jeder Widerstand ohnmächtig war, durch äußere Umstände beseitigt
ist, ob die Thatkraft unzerstörbar in der Nasse wurzelt und nach Beseitigung
unüberwindlicher Hindernisse immer wieder hervortritt, ob die Beimischung von
Lombarden- und Frcmkeublut auch bis nach Tuscicn hinein reichlich genug
war, in der erschlafften italienischen Bevölkerung neue Lebensgeister wach zu
rufen. Aber etwas andres scheint uns schlechthin unerklärlich: wie ist es ge¬
kommen, daß die italienische Bevölkerung, namentlich eben die toskanische, in
diesen wilden Zeiten, noch dazu mit wilden Nordländern gemischt, nicht wilder
und härter geworden ist als die alten Römer, daß sie weit mehr dem athenischen
als dem altrömischen Volke ähnelt? Wie ist es gekommen, daß sie die zartesten
Blüten der Poesie erzeugt und schönheitstrunken die Welt mit den herrlichsten
Kunstwerken überschüttet hat? Wie konnte Florenz die Hanptvcrtreterin der
Humanität werdeu? Man wende nicht ein, daß die Florentiner ja die Vor¬
bilder der Alten hatten, daß die italienische Kunst der Renaissance zu verdanken
sei; Giotto lebte vor der Renaissance, wenn man darunter das Ausgraben
alter Bildsäule» versteht, und er hat sie mit seinen Zeit- und Kunstgenossen
ohne die Vorbilder der Alten geschaffen, wenn man darunter die Wiedergeburt
der schönen Künste versteht.*) Und was nützen alle griechischen Bildsäulen
den Türken, die sie nahe genug vor der Nase haben? Auch das Christentum
mag manches erklären, obwohl die Kirche in ihren Anfängen nicht eben kunst¬
freundlich gewesen ist. Auf die Humanität des Lebens hat sie doch wohl
zuletzt einigen Einfluß geübt, nur daß die Art und Weise, wie — in Florenz
mehr als in irgend einer andern italienischen Stadt — der schöne Schein der
Humanität mit schönem Sein und schönem Empfinden verschmolz oder dessen
Abglanz war, wieder etwas ganz dem italienischen Volkscharakter eigentüm¬
liches ist, das die Kirche anderswo nicht zustande gebracht hat. Daß sich
die Florentiner am Ausgange des Mittelalters zur wirklichen Humanität
des Denkens, Empfindens und Handelns aufgeschwungen haben, dafür haben
wir einen klassischen Zeugen. Luther erzählt (Walchs Ausgabe, 22. Band,
S. 786): „In Italia sind die Spitale sehr wohl versehen, schön gebauet, haben
gut Essen und Trinken, haben fleißige Diener und gelehrte Ärzte, die Betten



*) Drinn soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, dus; die Vorbilder der Alten die
italienische Kunst vielfach beeinflußt und ihre Entwicklung beschleunigt bilden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/650>, abgerufen am 27.09.2024.