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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

war ausgesprochen, es war doch schon ein großer Fortschritt, wen" man
nur auf Grund von "Exemtion" nicht diente. Von vornherein war der Exem-
tion ein großer Spielraum gelassen: wer ein Vermögen von 6000 Thalern
hatte, war frei, ebenso die erste Generation von Einwandrern usw. Bestand
die Armee unter Friedrich Wilhelm etwa zur Hälfte aus Inländern, zur Hälfte
aus gewordnen Ausländern, so ging Friedrich der Große in den Exemtionen
noch weiter. Die Regimenter sollen sehen, daß sie zu zwei Dritteln Ausländer
bekommen und ihre inländischen Rekruten in den Kantons als eine allzeit ge¬
wisse Ressource ansehen. Die Städte Berlin und Potsdam, eine ganze Anzahl
andrer Städte, die sechs schlesischen Gebirgskrcise, die Provinzen Cleve und
Ostfriesland werden völlig kantonfrei gemacht; die Söhne von Kaufleuten,
Rentnern, Künstlern, Fabrikanten, königlichen Beamten und alle, die 6000 Thaler
besitzen, sollen ganz frei von Aushebung und Werbung sein- Nach dem sieben¬
jährigen Kriege galt des Königs Sorge vor allem der Hebung des Landes;
der Wohlstand und die Vermehrung der Bevölkerung wurde mit allen Kräften
befördert. Damit traten die materiellen Interessen überall in den Vordergrund.
Sein schwacher und wohlwollender Nachfolger vermochte diesem Streben gegen¬
über nicht mehr die legitimen Ansprüche des Staats zur Geltung zu bringen;
die Sitten wurden weichlich, die Gesinnung sentimental, die Anträge der Be¬
hörden auf Exemtion häuften sich mit jedem Jahre, wodurch sich der Geist
des Heeres wie der des Volkes gleicherweise verschlechterte. Das Jahrzehnt
nach dem Vasler Frieden mit der damals hochgepriesenen Neutralitätspolitik
bringt den Materialismus auf allen Gebieten völlig zur Blüte; kosmopoli¬
tischer Idealismus verblendet sich gegen die Pflichten, die der Staat auferlegt,
kurzsichtiger pharisäischer Optimismus hält sich in dem Schutze der "unüberwind¬
lichen" Armee gegen jeden Unfall versichert. Diese Armee besteht zur Hälfte
aus gewordnen Ausländern, dem Abschaum der Bevölkerung aus aller Herren
Ländern, zur andern Hülste aus den niedrigsten und ärmste" Volksklassen des
Inlands. Die Desertion, die Geißel aller Söldnerheere, ist ihre Hauptkalamität
in Krieg und Frieden; furchtbar strenge Strafen sind nicht zu entbehren. Bei
zwanzigjähriger Dienstzeit ist der Soldat doch kaum zwei Jahre bei der Fahne.

Mit dieser Armee, deren Einrichtungen durchweg Versteinerungen waren,
trat man den Franzosen unter Napoleon gegenüber, und es erfolgte die Kata¬
strophe. In Frankreich hatte bei der großen Staatsumwälzung das souveräne
Volk die Regierung übernommen, folglich mußte es auch selber Krieg führen.
Nun war freilich diese Einheit von Negierung und Volk nur eine geheuchelte,
dennoch erwies sie sich selbst in dieser Form so stark, daß sie persönliche
und finanzielle Opfer auferlegen konnte, die auch der mächtigste absolute
Monarch nicht hätte zu fordern wagen können. Das war der Kernpunkt,
worin Preußen die Franzosen nachzuahmen, womöglich zu übertreffen suchen
mußte. Staat und Volk mußten eins werden, in jedem Einzelnen mußte das


Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

war ausgesprochen, es war doch schon ein großer Fortschritt, wen» man
nur auf Grund von „Exemtion" nicht diente. Von vornherein war der Exem-
tion ein großer Spielraum gelassen: wer ein Vermögen von 6000 Thalern
hatte, war frei, ebenso die erste Generation von Einwandrern usw. Bestand
die Armee unter Friedrich Wilhelm etwa zur Hälfte aus Inländern, zur Hälfte
aus gewordnen Ausländern, so ging Friedrich der Große in den Exemtionen
noch weiter. Die Regimenter sollen sehen, daß sie zu zwei Dritteln Ausländer
bekommen und ihre inländischen Rekruten in den Kantons als eine allzeit ge¬
wisse Ressource ansehen. Die Städte Berlin und Potsdam, eine ganze Anzahl
andrer Städte, die sechs schlesischen Gebirgskrcise, die Provinzen Cleve und
Ostfriesland werden völlig kantonfrei gemacht; die Söhne von Kaufleuten,
Rentnern, Künstlern, Fabrikanten, königlichen Beamten und alle, die 6000 Thaler
besitzen, sollen ganz frei von Aushebung und Werbung sein- Nach dem sieben¬
jährigen Kriege galt des Königs Sorge vor allem der Hebung des Landes;
der Wohlstand und die Vermehrung der Bevölkerung wurde mit allen Kräften
befördert. Damit traten die materiellen Interessen überall in den Vordergrund.
Sein schwacher und wohlwollender Nachfolger vermochte diesem Streben gegen¬
über nicht mehr die legitimen Ansprüche des Staats zur Geltung zu bringen;
die Sitten wurden weichlich, die Gesinnung sentimental, die Anträge der Be¬
hörden auf Exemtion häuften sich mit jedem Jahre, wodurch sich der Geist
des Heeres wie der des Volkes gleicherweise verschlechterte. Das Jahrzehnt
nach dem Vasler Frieden mit der damals hochgepriesenen Neutralitätspolitik
bringt den Materialismus auf allen Gebieten völlig zur Blüte; kosmopoli¬
tischer Idealismus verblendet sich gegen die Pflichten, die der Staat auferlegt,
kurzsichtiger pharisäischer Optimismus hält sich in dem Schutze der „unüberwind¬
lichen" Armee gegen jeden Unfall versichert. Diese Armee besteht zur Hälfte
aus gewordnen Ausländern, dem Abschaum der Bevölkerung aus aller Herren
Ländern, zur andern Hülste aus den niedrigsten und ärmste» Volksklassen des
Inlands. Die Desertion, die Geißel aller Söldnerheere, ist ihre Hauptkalamität
in Krieg und Frieden; furchtbar strenge Strafen sind nicht zu entbehren. Bei
zwanzigjähriger Dienstzeit ist der Soldat doch kaum zwei Jahre bei der Fahne.

Mit dieser Armee, deren Einrichtungen durchweg Versteinerungen waren,
trat man den Franzosen unter Napoleon gegenüber, und es erfolgte die Kata¬
strophe. In Frankreich hatte bei der großen Staatsumwälzung das souveräne
Volk die Regierung übernommen, folglich mußte es auch selber Krieg führen.
Nun war freilich diese Einheit von Negierung und Volk nur eine geheuchelte,
dennoch erwies sie sich selbst in dieser Form so stark, daß sie persönliche
und finanzielle Opfer auferlegen konnte, die auch der mächtigste absolute
Monarch nicht hätte zu fordern wagen können. Das war der Kernpunkt,
worin Preußen die Franzosen nachzuahmen, womöglich zu übertreffen suchen
mußte. Staat und Volk mußten eins werden, in jedem Einzelnen mußte das


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[0634] Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik war ausgesprochen, es war doch schon ein großer Fortschritt, wen» man nur auf Grund von „Exemtion" nicht diente. Von vornherein war der Exem- tion ein großer Spielraum gelassen: wer ein Vermögen von 6000 Thalern hatte, war frei, ebenso die erste Generation von Einwandrern usw. Bestand die Armee unter Friedrich Wilhelm etwa zur Hälfte aus Inländern, zur Hälfte aus gewordnen Ausländern, so ging Friedrich der Große in den Exemtionen noch weiter. Die Regimenter sollen sehen, daß sie zu zwei Dritteln Ausländer bekommen und ihre inländischen Rekruten in den Kantons als eine allzeit ge¬ wisse Ressource ansehen. Die Städte Berlin und Potsdam, eine ganze Anzahl andrer Städte, die sechs schlesischen Gebirgskrcise, die Provinzen Cleve und Ostfriesland werden völlig kantonfrei gemacht; die Söhne von Kaufleuten, Rentnern, Künstlern, Fabrikanten, königlichen Beamten und alle, die 6000 Thaler besitzen, sollen ganz frei von Aushebung und Werbung sein- Nach dem sieben¬ jährigen Kriege galt des Königs Sorge vor allem der Hebung des Landes; der Wohlstand und die Vermehrung der Bevölkerung wurde mit allen Kräften befördert. Damit traten die materiellen Interessen überall in den Vordergrund. Sein schwacher und wohlwollender Nachfolger vermochte diesem Streben gegen¬ über nicht mehr die legitimen Ansprüche des Staats zur Geltung zu bringen; die Sitten wurden weichlich, die Gesinnung sentimental, die Anträge der Be¬ hörden auf Exemtion häuften sich mit jedem Jahre, wodurch sich der Geist des Heeres wie der des Volkes gleicherweise verschlechterte. Das Jahrzehnt nach dem Vasler Frieden mit der damals hochgepriesenen Neutralitätspolitik bringt den Materialismus auf allen Gebieten völlig zur Blüte; kosmopoli¬ tischer Idealismus verblendet sich gegen die Pflichten, die der Staat auferlegt, kurzsichtiger pharisäischer Optimismus hält sich in dem Schutze der „unüberwind¬ lichen" Armee gegen jeden Unfall versichert. Diese Armee besteht zur Hälfte aus gewordnen Ausländern, dem Abschaum der Bevölkerung aus aller Herren Ländern, zur andern Hülste aus den niedrigsten und ärmste» Volksklassen des Inlands. Die Desertion, die Geißel aller Söldnerheere, ist ihre Hauptkalamität in Krieg und Frieden; furchtbar strenge Strafen sind nicht zu entbehren. Bei zwanzigjähriger Dienstzeit ist der Soldat doch kaum zwei Jahre bei der Fahne. Mit dieser Armee, deren Einrichtungen durchweg Versteinerungen waren, trat man den Franzosen unter Napoleon gegenüber, und es erfolgte die Kata¬ strophe. In Frankreich hatte bei der großen Staatsumwälzung das souveräne Volk die Regierung übernommen, folglich mußte es auch selber Krieg führen. Nun war freilich diese Einheit von Negierung und Volk nur eine geheuchelte, dennoch erwies sie sich selbst in dieser Form so stark, daß sie persönliche und finanzielle Opfer auferlegen konnte, die auch der mächtigste absolute Monarch nicht hätte zu fordern wagen können. Das war der Kernpunkt, worin Preußen die Franzosen nachzuahmen, womöglich zu übertreffen suchen mußte. Staat und Volk mußten eins werden, in jedem Einzelnen mußte das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/634>, abgerufen am 27.09.2024.